Stationen

Samstag, 10. März 2018

Arme deutsche Lehrer


Die ehemalige Frankfurter Lehrerin Ingrid Freimuth blickt in „Lehrer über dem Limit“ auf über 40 Berufsjahre zurück. Hier ein Auszug:
Von Ingrid Freimuth.
Es gibt einige Anzeichen dafür, dass unsere politisch korrekte Meinungsbildung in Deutschland von einer kindlich gebliebenen Weltsicht bestimmt wird. Darin setzen wir voraus, ausnahmslos alle Menschen seien mit den Persönlichkeitsstrukturen gesegnet, denen wir selbst idealerweise auch entsprechen möchten: edel, friedlich und gut, lern-, arbeits- und integrationswillig, durchtränkt von sozialem Verantwortungsbewusstsein und beseelt vom Streben nach Erhaltung und Förderung demokratischer Grundwerte. Im Sozialstaat kultivieren wir immer neue Bereiche, in denen unsere Mitmenschen bei ihrer Alltagsbewältigung unterstützt und auch materiell gefördert werden.
Dabei blenden wir nicht nur die Möglichkeit aus, dass Menschen ins Land kommen könnten, eben weil sie diese Vorzüge des Sozialstaates genießen möchten, sondern wir wollen auch nicht sehen, dass wir wahrscheinlich mit so viel sozialstaatlicher Fürsorge einigen Langzeit-„Leistungsempfängern“ die Eigeninitiative abtrainieren, mit der sie durchaus selbst für sich sorgen könnten. Stattdessen beobachte ich immer wieder, wie die sozialstaatlichen Vorgaben bei einigen meiner Schülerinnen und Schüler eine Gewöhnung an den passiven Versorgungszustand verursachen.
Das hat nicht nur fatale Auswirkungen auf ihre Leistungsbereitschaft – mit zunehmender staatlicher Versorgung schwindet offensichtlich bei den Zuständigen auf der Ebene der „Versorgungsverteilung“ bereits der Gedanke, für den Fall von Fehlverhalten bei den Empfängern möglicherweise Sanktionen anzuwenden.
In Theorie und Praxis der Pädagogik betrachten wir mit unserer oben beschriebenen kindlich gebliebenen Weltsicht auch das Werden und Reifen junger Menschen und haben uns darauf geeinigt, sowohl die Idee als auch die Anwendung von Strafen aus dem Bereich „Erziehung und Lernen“ auszublenden. Obwohl beispielsweise in der Justiz, im Straßenverkehr und gern auch zwischen Staaten selbstverständlich negativ sanktioniert wird, tun wir in pädagogischer Theorie und Praxis starrsinnig so, als sei der Verzicht auf Sanktionen der einzig zielführende Weg, um permanent Regeln verletzende Menschen zu sozial verträglichem Verhalten zu bewegen.
Dabei vernachlässigen wir „sträflich“ die Tatsache, dass die Schülerinnen und Schüler, die in Schulen Probleme schaffen, oft in Wertvorstellungen sozialisiert wurden, die sich an Kriterien von Rangordnung orientieren. Milde im (Jugend-)Strafrecht und das Fehlen von Strafen in schulischen Zusammenhängen werten sie als Anzeichen demokratischer Weichei-Gesinnung, auf die sie mit Verachtung herabsehen. Meines Erachtens brauchen wir deshalb einen klaren Sanktionskatalog, damit Schule und Bildungsmöglichkeiten wieder von allen respektiert werden.
Ja, meine neuen Gesprächspartner sind ein Grund, den vielen Einwanderern dankbar zu sein. Ich hoffe sehr, dass wir gemeinsam eine menschenfreundliche Mitte zwischen den Positionen „blindes Willkommenheißen“ und „ablehnendes Ressentiment“ formulieren und leben können. Solch ein von Ideologie befreiter Blick kann nur förderliche Auswirkungen auf unseren zukünftigen Umgang mit problematischen Schülerinnen und Schülern haben, bei denen Lehrer und Erzieher bisher – eher hilflos – mit Förderprogrammen Verhaltensänderungen zu bewirken hoffen.
Seit den 1980er-Jahren arbeitete ich bis 1998 an verschiedenen Haupt- und Realschulen in Frankfurt am Main, wo ich auch in der Lehrerfortbildung tätig war. Bei der Gestaltung von Fortbildungskursen und Pädagogischen Tagen für alle Schularten konnte ich mich vergewissern, dass schulische Alltagsprobleme sich zwar an Hauptschulen teilweise besonders drastisch darstellen, ansonsten aber mehr oder weniger abgeschwächt in allen Schulformen vorkommen.
Die Ursachen dieser Probleme liegen meines Erachtens in hartnäckig öffentlich nicht wahrgenommenen Veränderungen bisheriger gesellschaftlicher Wertvorstellungen, die sich kontraproduktiv auf Lernprozesse in Schule und Persönlichkeitsentwicklung auswirken und die nur unzureichend von Lehrerinnen und Lehrern bewältigt werden können. Deshalb gilt es, die Grundlagen zu überarbeiten, auf denen unser pädagogisches Denken basiert: Zu der Idee ausschließlicher, kritikloser Förderpädagogik sollte sich unbedingt der Gedanke hinzugesellen, dass Förderung auch Forderungen beinhaltet. Werden staatliche/schulische Regeln ignoriert, dürften durchaus negative Sanktionen folgen, zu denen für mich auch der Ausschluss von weiterer Teilnahme an Förderprogrammen denkbar wäre.
Bei meiner Beschreibung des schwierigen Schulalltags ergeht es mir ein wenig wie dem Kind im Andersen-Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, dem es überlassen bleibt, mit der eigenen Wahrnehmung den Blick seiner Mitmenschen über das politisch korrekte Wunschdenken hinaus auf das tatsächliche Alltagsgeschehen zu lenken. Allerdings gäbe es heutzutage für Hans Christian Andersen einiges zu staunen, denn im zeitgenössischen Deutschland hinkt der Vergleich insofern, als hier dieses Kind auf seine spontane Äußerung hin wahrscheinlich sofort mit interpretierenden Zuordnungen wie „rassistische Hetze“ malträtiert werden würde, so dass es schockiert seine Wahrnehmung dementieren und sich öffentlich dafür entschuldigen müsste.
Als ich noch Lehrerin in Hauptschulklassen war und über meine Erlebnisse mit erschreckenden Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern aus vorwiegend nicht deutschen Herkunftskulturen reden wollte, stieß ich regelmäßig auf offene Ablehnung, auch im Freundeskreis. Was ich mir von der Seele reden wollte, durfte ich „so“ nicht sagen. Bei Freunden und besonders dort, wo ich mich politisch beheimatet fühlte – das waren einmal die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Grüne und SPD –, konnte ich regelmäßig ein Reiz-Reaktionsmuster erleben, das durchaus mit dem der pawlowschen Hunde vergleichbar war, das also automatisch eintrat, wenn ich versuchte, über meine belastenden Schulerlebnisse zu sprechen. Der pawlowsche Reiz in diesem Vergleich bestand in einigen Wörtern, die ich benutzte, etwa „türkische Schüler“, „Ausländer“, „Macho“.
Die Reaktionen waren teilweise geifernde Zurechtweisungen, so als befände ich mich nicht nur in schwerem Unrecht, sondern als müsse mir erst noch sozusagen der Unterschied zwischen Karl May und Karl Marx nähergebracht werden. Die Reaktion war (und ist bis heute) zu allererst die stereotype Mahnung, dass nichts und niemand pauschalisiert werden dürfe, und darauf folgt(e) regelmäßig eine Abschwächung oder sogar Abwertung meiner Wahrnehmung und eine automatische Rechtfertigung der Ereignisse und Verhaltensweisen, durch die ich mich beeinträchtigt und geschwächt fühlte.
Es wird höchste Zeit, dass die bislang unsinnig kräfteraubende Arbeitssituation für Lehrerinnen und Lehrer in zielführende Bahnen gelenkt wird. Dazu bedarf es einer kritischen Betrachtung der momentanen Arbeitshindernisse: Die stillschweigend vorausgesetzten pädagogischen Prämissen müssen überdacht werden, besonders die des Sanktionsverzichts. Dabei sollte es sich um Sanktionen handeln, die von den Schülern auch als solche wahrgenommen werden. Die bislang zur Verfügung stehenden Strafmöglichkeiten sind eher dazu geeignet, bei den Hartgesottenen unter den Schülern Heiterkeitsausbrüche hervorzurufen: eine schriftliche Rüge der Klassenkonferenz? Peanuts! Vorübergehende Versetzung in eine Parallelklasse? Großer Spaß mit neuen Bewunderern! Schulverweis? Der musste in Frankfurt/Main durch den Hausjuristen des Schulamts abgesegnet werden, der wiederum nur zustimmte, wenn ein Delinquent Schüler gefährdet hatte.
Weder Bedrohungen und Beleidigungen von Lehrern noch tätliche Angriffe auf sie rechtfertigten für unseren Hausjuristen Schulverweise. Wir müssen aber solch unerklärlichen Sonderstatus der Pädagogik als sanktionsfreien Raum mit Blick auf die Realität innerhalb und außerhalb von Schule einschränken.
Die Respektsposition der Unterrichtenden sollte unbedingt durch behördliche Vorgaben gestärkt werden. Bislang wird die Lehrerposition immer weiter geschwächt durch in meinen Augen pädagogisch kontraproduktive Vorgaben, wie etwa den Datenschutz zur Geheimhaltung von Schülerdaten. So dürfen beispielsweise Schülerakten keine Informationen über Verurteilungen oder kriminelle Aktivitäten enthalten. Bei jedem neuen Schüler müssen seine Lehrer also selbst herausfinden, ob er gefährlich sein könnte. Auch die Polizei darf selbst in aktuellen Fällen keine Informationen weitergeben. Körperverletzung? Drogen? Waffen? Wen schützt der Datenschutz?
Obwohl es bei den seit vielen Jahren andauernden Auseinandersetzungen über die ultimativ richtige politische Korrektheit schwierig erscheint, halte ich es doch für möglich, Unterschiede in Verhalten, Einstellungen und – bei nicht wenigen Schülern – auch immer wieder die Bereitschaft zu spontanen Emotionsexplosionen festzustellen und zu beschreiben. Wenn ich es nun wage, auf vorsichtige Weise meine Erfahrungen und daraus abgeleitete Überlegungen zu formulieren, befinde ich mich automatisch in dem Dilemma, das gut meinende, politisch korrekte Mitmenschen mir zuschieben, indem sie ausnahmslos jede noch so kleine Äußerung von mir unter Pauschalisierungsverdacht stellen: Beschreibe ich einen Schüler mit türkischen Wurzeln, muss ich mich wegen ihres Verdachts rechtfertigen, ich meinte damit alle Türken. Zeige ich mich dem Verhalten eines Einwanderers gegenüber kritisch, muss ich mich gegen die Beschuldigung wehren, ich verbreite rechtes bis rechtsradikales, allgemein ausländerfeindliches Gedankengut. Ich kann dem nur entgegnen: Es hilft ja nichts. Wirksame Arbeit an den Phänomenen wird erst dann möglich, wenn wir sie beim Namen nennen können. Haben wir das nicht schon als Kinder bei „Rumpelstilzchen“ gelernt?
Zu den zu benennenden Phänomenen gehören immer mehr Einflüsse aus muslimischen Traditionen, wie beispielsweise Kleiderordnungen, die teilweise im christlich-abendländischen Kulturkreis mit Vermummung verwechselt werden können, und hierarchische, frauenfeindliche Ideologien. Hier sind seltsame Ausweichreaktionen bei Gesetzgebern und Rechtsprechern erkennbar.
Wo politische Entscheidungen zu klaren gesellschaftlichen Regeln verhelfen könnten, werden genau diese Entscheidungen in pädagogische Räume verschoben. Über die Erlaubnis muslimisch-religiös begründeter Verhüllungsmode sollen bis heute weder Bund noch Länder, sondern jeweils einzelne Schulen entscheiden. Und in Frankfurt/Main beispielsweise wurde von zuständigen Kommunalpolitikern 2015 in einem Einzelfall muslimische Gesichtsvermummung im Unterricht gutgeheißen – mit der Option, dass die Unterrichtenden mit pädagogischen Mitteln die Vermummte zum Ablegen der Burka bewegen sollten.
So werden uns Lehrerinnen und Lehrern auf vielen Ebenen mit dem Auftrag zur Lösung Probleme weitergereicht, an denen sich Politiker und Juristen nicht die Finger verbrennen möchten. Gleichzeitig mangelt es uns aber erheblich nicht nur an wirksamen Mitteln zur Durchsetzung, sondern auch an Programmen in der Lehrerausbildung und -fortbildung, die uns für den bislang kaum zu bewältigenden Berufsalltag qualifizieren.
Ingrid Freimuth: Lehrer über dem Limit – Warum die Integration scheitert, Europa Verlag, 240 Seiten, Klappenbroschur 16,90 Euro (D) / 17,40 Euro (A) ISBN 978-3-95890-184-1.

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