Stationen

Dienstag, 20. März 2018

Zum ersten Mal in ihrem Leben bekommt meine Generation eine Ohrfeige

Die Leipziger Buchmesse ist vorbei, der Konflikt um die Präsenz der „rechten Verlage“ lief ab wie nach Drehbuch. Die Debatte über die Meinungsfreiheit im Hintergrund findet aber kein Ende. Obwohl alle Argumente längst vorgetragen sind, jedes Für und Wider erwogen wurde. Die Ursache dafür liegt im Selbstverständnis der tonangebenden Kreise, die sich als „liberal“, als „demokratisch“ und „tolerant“ begreifen und jede ihrer Maßnahmen entsprechend gesehen wissen wollen, ganz gleich wie illiberal, undemokratisch und intolerant sie sein mögen.

Auf gar keinen Fall räumt man die Position des moralisch Überlegenen, bezeichnet den Konflikt offen als Machtkonflikt und den Gebrauch der Machtmittel als solchen. Man kaschiert seine beherrschende Stellung im Bereich der öffentlich-rechtlichen wie der privaten Medien, das Monopol im staatlichen wie im kirchlichen Segment der Multiplikatoren nach Kräften, und falls irgendjemand darauf hinweist, kommt man ihm im Tonfall empörter Unschuld.

Ein gutes Beispiel für das Gemeinte ist der Leitartikel Stefan Lockes in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom vergangenen Sonnabend. Der Titel: „In einem freien Land“. Lockes Aufhänger sind die Äußerungen des Schriftstellers Uwe Tellkamp zu Massenmigration und Regierungsversagen während einer Diskussion mit seinem Kollegen Durs Grünbein. Entscheidend ist aber eine Reihe grundsätzlicher Feststellungen: „Meinungsfreiheit in unserer Gesellschaft“, schreibt Locke, „ist das Recht eines jeden, sich im Rahmen der Gesetze in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern. Sie beinhaltet jedoch keine Pflicht, einer Meinung zu folgen oder ihr nicht zu widersprechen.“
So weit so gut. Dann folgt allerdings: „Unsere Gesellschaft hält viele Meinungen aus; über vieles kann diskutiert werden und wird auch debattiert, nicht zuletzt besonders intensiv. Wer mit seinen Ansichten aber keine Mehrheit erreicht, sollte nicht über ‘Meinungsunfreiheit’ jammern, sondern muß das aushalten.“ Nun wäre als erstes die Frage zu stellen, wer denn eigentlich bestimmt, welche Meinungen „ausgehalten“ werden, welche nicht, wer bestimmt, was diskutiert werden „kann“, was nicht. Aber eine Antwort ist kaum zu erhalten.

Denn die wäre zwangsläufig entlarvend, weil Locke zugeben müßte, daß Meinungsfreiheit kein Ergebnis des ungehinderten Spiels der Kräfte oder gar des Austauschs von Argumenten ist, bei denen das bessere sich durchsetzt. Vielmehr gewähren die „Torwächter“ (Walter Lippmann) der öffentlichen Meinung, zu denen auch Locke gehört, Zugang zur Debatte oder verweigern ihn, stellen Regeln auf oder beseitigen sie, bieten Vorteile – Sendeplatz, Verkaufspräsentation, Besprechung et cetera – oder verweigern sie. Wenn jemand „mit seinen Ansichten (…) keine Mehrheit erreicht“, ist das heute nicht das Ergebnis eines freien, sondern eines verzerrten Wettbewerbs.

Selbstverständlich darf man voraussetzen, daß Locke das weiß. Und wenn nicht, dann könnte er in die Annalen der Frankfurter Allgemeinen schauen, wo er auf den Namen Paul Sethe stoßen wird. Sethe war einer von fünf Gründungsherausgebern der FAZ, mußte aber 1955 seinen Platz räumen. Dafür gab es nur einen Grund: Dem Kanzler paßte Sethes Meinung nicht. Genauer: Konrad Adenauer hatte Sethes Widerstand gegen die einseitige Politik der Westintegration satt.
Aber im ersten Nachkriegsjahrzehnt bedeutete das nicht das berufliche Aus für einen unabhängigen Kopf. Als jemand, der überzeugt war von der bleibenden Bedeutung der Nation und kritisch gegenüber den Siegermächten (deren moralische Überlegenheit nannte er eine „Legende“) konnte Sethe problemlos zur Konkurrenz, zuerst der Welt, dann der Zeit, wechseln. Das hat ihm nicht den Blick für die gefährliche Entwicklung des Medienbereichs getrübt. Berühmt ist Sethes Äußerung: „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten“.
Das war eine skeptische Einschätzung der Lage, weil Sethe beobachtete, wie das Spektrum dessen, was man äußern konnte, ohne den bürgerlichen Tod zu riskieren, zusammenschnurrte. Aber in der oft als „spießig“ und „restaurativ“ verschrienen Nachkriegsära gab es tatsächlich etwas wie „Pluralismus“.

Abgebaut hat man den erst in der Folge und einen intellektuellen Uniformzwang eingeführt, der jenen Grad an Selbstverständlichkeit erreicht hat, der beides erklärt: die hysterische Reaktion der Torwächter, sobald sich heute eine abweichende Auffassung zeigt, und die Erbitterung, mit der sie ihre Stellung verteidigen.

Beides spricht allerdings auch dafür, daß sie Grund zur Sorge haben, und den sollte mehren, wer wirklich an Meinungsfreiheit interessiert ist.   Karlheinz Weißmann

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