Stationen

Freitag, 6. Juli 2018

Als Realistin unter Verirrten

Jede Geschichte, in der es um eine epische Suche oder Mission geht, etwa der „Hobbit“ oder der „Herr der Ringe“, beginnt mit einem Aufruf zum Handeln. Die Hobbits sind ein bisschen wie Studenten. Sie leben an einem geschützten Ort, sind nicht besonders groß oder schlau, und wissen nichts über die große, weite Welt, in der die Kräfte des Guten und Bösen miteinander ringen. Aus irgendeinem Grund wird ein Hobbit, der etwas abenteuerlustiger als die anderen ist, dazu aufgerufen, etwas zu tun. Ein Zauberer, also eine magische Figur, die sehr alt und sehr weise ist, die im Grunde genommen Gott sein könnte, sagt zu ihm: „Es ist an der Zeit, dass Du ein Dieb wirst.“ Was für eine seltsame Sache.
Im „Hobbit“ wird Bilbo dazu aufgerufen, einen Drachen zu suchen. Der Drachen hat einen Schatz. Auch das ist seltsam. Was ist mit den Drachen los? Sie bewachen entweder Jungfrauen, wie in der alten Legende von Sankt Georg, oder Gold. Das ist ein merkwürdiges Verhalten für eine Raubechse. Aber wir akzeptieren es einfach, ohne zu murren. Natürlich lebt ein Drachen in einem Berg, der von Zwergen ausgehöhlt wurde, und bewacht einen Schatz!
Warum haben wir kein Problem mit solchen Ideen? Selbstverständlich glaubt niemand wortwörtlich an den „Hobbit“. Aber wir lesen das Buch bis zum Ende. Oder gehen millionenfach ins Kino, um uns die Filme anzuschauen. Gleiches gilt für „Harry Potter“. Wieviel Geld hat dieses Phänomen eingespielt? Ich wette, Harry Potter hat mehr Gewinn gemacht, als die übrig gebliebenen britischen Stahlwerke.
Natürlich gibt es auch bei Harry Potter eine Raubechse. Sie kriecht unter dem Zauberinternat Hogwarts herum und verwandelt ihre Opfer mit einem Blick zu Stein. Bewacht diese Echse auch Jungfrauen? Naja. Wie heißt das Mädchen, das die Echse – der Basilisk – entführt? „Ginny“. Das ist die Kurzform von „Virginia“!
Harry rettet das Mädchen, in das er verliebt ist, vor einer verdammten Schlange, und wird dabei gelähmt. Was rettet Harry? Ein Phoenix! Der Basilisk beißt Harry, dieser droht, zu sterben, und ein Phoenix erscheint. Wem gehört der Phoenix? Dem Schulleiter, Dumbledore. Und was macht der Phoenix? Er weint in Harrys Wunden, der dadurch wieder zum Leben erwacht.

Eine Geschichte von Tod und Wiedergeburt

Harry Potter ist also eine Geschichte von Tod und Wiedergeburt. Der Charakter, der bereit ist, zu sterben und wiedergeboren zu werden, rettet die Jungfrau vor der Schlange. Ergibt das einen Sinn? Nun ja, Sie wissen, dass es Sinn macht, obwohl Sie nicht wirklich wissen, warum es Sinn macht.
Was passiert eigentlich mit dem Phoenix, nachdem er Harry gerettet hat? Er geht in Flammen auf und wird wiedergeboren. Die Geschichte wird also zweimal erzählt: Das Ding, das stirbt und wiedergeboren wird, ist das Ding, das die Schlange bezwingt und das „Feminine“ rettet.
Bei Harry Potter geht es nicht um Gold, aber das macht nichts, es ist dieselbe Geschichte. Es ist immer die gleiche Geschichte. Und was passiert, wenn man diese Geschichte nicht kennt? Etwa, weil man in einer Gesellschaft lebt, die einen nicht mit reichhaltigen Geschichten versorgt, die sich direkt aus ihrer kulturellen Tradition ableiten? Nun, dann wird die Geschichte, voll ausgeformt, in der Fantasie einer genialen Person erscheinen, zum Beispiel einer arbeitslosen Sozialhilfeempfängerin aus Großbritannien, die sieben Bücher raushaut und reicher als die Queen wird.
Die Geschichte von Joanne K. Rowling, der Autorin von Harry Potter, ist eine Aschenputtel-Story. Es ist ein unglaubliche Geschichte. Und jetzt haben Millionen Kinder mit Hilfe dieser Bücher lesen gelernt, und Millionen Menschen haben die Verfilmungen gesehen. Aber keiner versteht, was er da wirklich macht, wenn er Harry Potter liest oder schaut. Dass er der selben alten Geschichte folgt.
Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus dem Vortrag „Personality Lecture 03: Mythological Elements of the Life Story – and Initiation“. Hier geht’s zum Original-Vortrag auf dem YouTube-Kanal von Jordan B. Peterson.

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