Stationen

Dienstag, 24. Juli 2018

Anekdotische Evidenz

Vor einer reichlichen Woche traf ich Seyran Ates in ihrer Ibn Ruschd-Goethe-Moschee in Berlin. Um die Anwältin herum gruppierten sich drei Personenschützer des Berliner Landeskriminalamtes. Eine Frau, die in der sehr kleinen Moschee predigt – ihr Raum hat nur die Größe einer mittleren Wohnung – führt in weiten Teilen der islamischen Welt zu einer Besessenheit. Von der Universität Kairo, der höchsten Rechtsinstanz der Umma, erging eine Fatwa, die feststellt, dieser Raum in Moabit sei keine Moschee. Die türkische Religionsbehörde Diyanet verbreitete, Ates sei Anhängerin der Gülen-Bewegung. Seit sie das Land Berlin gegen eine Klägerin vertrat, die als Lehramtsanwärterin das Recht durchsetzen wollte, mit Kopftuch unterrichten zu dürfen, und alle vier Verfahren gewann, sagt sie, habe der Hass gegen sie in Berlin noch einmal zugenommen.
Ates lebt mittlerweile über dreißig Jahre lang unter Dauerbewachung. Ihr polizeilicher Schutzstatus entspricht dem der Bundeskanzlerin. Im Jahr 1984 hatte ein Mitglied der „Grauen Wölfe“ auf die Anwältin geschossen. Sie überlebte das Attentat knapp.
Davon, dass der Personenschutz der Kanzlerin tatsächlich mit dem gleichen Aufwand wie bei Ates betrieben wird, konnte ich mich in der vergangenen Woche an der Brottheke der Galleries Lafayette überzeugen.  Links neben mir tauchte Merkel in Schwarz mit dunkler Perlenkette auf. Drei verkabelte Herren bildeten ein Dreieck um die Frau. Eine Begegnung beim Freitagabendeinkauf gibt einen schlechten Rahmen für eine Konversation ab, aber wenn ich sie nach etwas hätte fragen wollen, dann nach ihrem Händedruck mit Cemal Cetin auf dem Nato-Gipfel von Brüssel in der vergangenen Woche. Cemal Cetin, der zur Delegation von Präsident Erdogan gehörte, sitzt der Partei MHP vor. Daneben leitet er die europäischen Ableger der „Grauen Wölfe“, der Organisation, die damals den Attentäter zu Ates geschickt hatte. Zu den Grauen Wölfen gehörte auch  Mehmet Ali Agca, der 1981 versuchte, den Papst zu erschießen, und den Chefredakteur einer türkischen Zeitung getötet hatte. Nach offiziellen Quellen früherer türkischer Regierungen werden den „Grauen Wölfen allein zwischen 1974 und 1980 insgesamt 694 Morde zugerechnet.
Über die Organisation teilte die Bundesregierung in der Antwort auf eine kleine Anfrage am 3. Juli 2015 mit (Drucksache 18/5466):

„Das Spektrum der „inneren“ und „äußeren“ Feinde reicht dabei von den Kurden, Griechen und Armeniern bis zu den Juden, von den Europäern über die Chinesen bis zu den USA und dem Vatikan. Je nach aktueller politischer Lage wird ein Feindbild besonders in den Fokus genommen. Diese Überhöhung der eigenen Ethnie bei gleichzeitiger Herabsetzung anderer Ethnien widerspricht der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland“.

Ein Foto von der Begegnung der Bundeskanzlerin mit dem Repräsentanten einer Organisation mit langer Mordgeschichte verbreitete die „Almanya Türk Federasyon“ auf ihrer Facebook-Seite.


 

Auf Anfrage sagte der Regierungssprecher, über den Inhalt des Gesprächs zwischen Merkel und Cetin werde er nichts mitteilen.
Zu den so genannten Islamgipfeln wird Seyran Ates schon seit mehreren Jahren nicht mehr eingeladen. Sie wurde auch nicht zu der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Weihnachtsattentats vom Breitscheidplatz gebeten. Das Land Berlin und die Humboldt-Universität planen die Gründung eines Islam-Zentrums an der Hochschule; die drei islamischen Verbände im Beirat – unter anderem der Zentralrat der Muslime – sprachen sich gegen eine Mitgliedschaft der Moscheegründerin aus. Das Land Berlin gesteht den Verbänden ein Vetorecht zu.
Welche Reden und Verlautbarungen auch immer, nirgends findet sich bei Merkel irgendeine Auseinandersetzung mit dem politischen Islam, die über sparsamste Kommentare nach Anschlägen hinausgehen würde.



Ein Grüppchen junger arabischer Männer im Park Sanssouci biegt plaudernd in das Rondell am Fuß der Freitreppe vor dem Schloss ein. Keiner von ihnen widmet den Marmorfiguren Aufmerksamkeit, sie laufen wie durch eine Fußgängerzone, den Blick geradeaus. Vor der Freitreppe bleiben sie stehen, um sich dort gegenseitig zu fotografieren. Ihre symmetrische Achse erkennen sie offenbar als geeigneten Hintergrund. Am Parkeingang noch eine Gruppe junger Araber. Drei von ihnen klettern über eine Absperrung und stellen sich auf ein Parkbeet, um sich dort von einem vierten fotografieren zu lassen.
Vor einigen Wochen gab es in Berlin-Gesundbrunnen einen Polizeieinsatz an einer überwiegend von türkisch- und arabischstämmigen Kindern besuchten Schule: ein Anrufer wollte einen Bewaffneten an der Schule gesehen haben, die Beamten räumten vorsichtshalber das Gebäude (später stellte sich der Alarm als falsch heraus). Etliche Kinder hatten ihren Eltern mit ihrem Mobiltelefonen etwas über die unübersichtliche Situation erzählt, sehr viele der Erwachsenen liefen an diesem Mittag zur Schule. Die zusätzliche Aufregung, um die es hier geht, entstand, weil es der Polizei nicht gelang, die Eltern zu beruhigen. Die Beamten teilten ihnen mit, ihre Kinder seien in Sicherheit, und baten sie, hinter einer provisorischen Absperrung zu bleiben. Aber selbst diese einfachen Sätze verstanden die meisten nicht. Am Tag darauf zitierten mehrere Berliner Zeitungen Klagen der Eltern: die Berliner Polizei habe keine türkisch- und arabischsprechenden Beamten zu dem Einsatz geschickt, das sei ein schweres Versäumnis.
Ihr aus Palästina stammender Vater, sagte die Berliner Staatssekretärin für internationale Angelegenheiten Sawsan Chebli, habe dreißig Jahre in Deutschland gelebt und auch zum Schluss kaum Deutsch gesprochen. Trotzdem, meinte sie, sei er gut integriert gewesen.
Wie dicht muss eine Schicht sein, die bei vielen in Jahren und manchmal Jahrzehnten kaum einen Satz aus der Sprache des besiedelten Landes durchlässt, geschweige denn mehr?
Natürlich trifft das bei weitem nicht auf alle Einwanderer aus muslimischen Ländern zu. Seyran Ates, der Autor Hamad Abdel-Samad, der Filmautor Imad Karim und viele andere  sind Deutsche geworden, Demokraten sowieso. Auch Abdel-Samad brauchte für einige seiner Lesungen Polizeischutz.
Als Imad Karim kürzlich als Sachverständiger zu einer Bundestagsanhörung über gewaltbereiten Islamismus und  Radikalisierung redete, sagte der Abgeordnete der Grünen Konstantin von Notz am Ende der Ausführungen: „Anekdotische Evidenzen sind hier nicht gefragt“. Karim hatte im wesentlichen ausgeführt: im Arabischen gebe es den Begriff Islamismus als Unterscheidung von islamisch nicht; die allermeisten Araber wüssten auch gar nicht, was er besagen solle. Der Terminus “Islamismus” sei eine westliche Prägung.

Das Holländische Viertel in Potsdam ist ein auch heute noch sehr vorzeigbares ehemaliges Migrantenquartier.

Das Deutsche Historische Museum zeigt die Ausstellung „Europa und das Meer“. Die Schau ist exzellent zusammengestellt, allein wegen der frühen Weltkarten, der Seekarten und der nautischen Geräte, der Schiffsmodelle und dem Diorama, das Werft und Gebäude der Ostindischen Handelskompaniegebäude in Amsterdam zeigt, lohnt sich der Besuch. Der Sklavenhandel der Europäer nimmt einen großen Teil der Ausstellung ein. Völlig ausgespart wird dagegen der zeitgleiche arabische Sklavenexport aus Afrika. Er überstieg in seinen Ausmaßen den europäischen, aber auch in der Grausamkeit seiner Praxis: in arabischen Länder wurden die schwarzen Sklaven kastriert, damit sie keine Nachkommen zeugen konnten. Man könnte einwenden, die Ausstellung habe ja Europa zum Thema. Aber immerhin wird das ehemalige südafrikanische Königreich Monomotapa (afrikanisch: Mutapa) erwähnt, das seinen Reichtum mit Gold- und Sklavenhandel erwarb. Weder Europäer und Araber nahmen ihre menschliche Ware üblicherweise selbst gefangen. Sie bedienten sich teilweise der gleichen Lieferanten.
Mit Europa wären allerdings zwingend die Beutefahrten muslimischer Trupps aus Nordafrika verbunden gewesen, die jahrhundertelang Küstenstädte Italiens und Frankreichs heimsuchten und Europäer als Sklaven entführten, von denen nicht alle, aber viele auf osmanischen Kriegsgaleeren landeten. Die Leerstelle ist bemerkenswert, da die Seeschlacht von Lepanto ausführlich erwähnt wird, allerdings nicht mit dem Detail, wer die osmanischen Kriegsgaleeren ruderte. Der Historiker Egon Flaig hatte in seiner Weltgeschichte der Sklaverei die muslimische Sklaventradition ausführlich beschrieben. Seitdem gilt er allen Linken, die sich zu ihm äußern, als „neu-rechts“.
Flaig weist immer wieder darauf hin, dass Sklaverei in der Geschichte weit verbreitet gewesen sei – aber nur der Westen den Abolitionismus und eine Schulddebatte hervorgebracht habe. Übrigens, sagt Flaig, gebe es auch nur im Westen ein tatsächliches Interesse an anderen Kulturen. Ethnologische Museen und überhaupt die Ethnologie seien westliche Erfindungen.



Das Problem besteht gar nicht in dem selbstverletzenden Schuldbegriff des Westens. Sondern in dem Umstand, dass dieser Begriff ausschließlich im Westen existiert.    Wendt

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.