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Mittwoch, 18. Juli 2018

Ganz ohne Pfand und dann noch in Italiens Hand

Der deutsche Target-Saldo ist eine bilanzielle Forderung der Bundesbank gegen das Eurosystem. Diese Forderung entstand, weil die Bundesbank im Auftrag anderer Notenbanken Geld geschaffen und es nach den Wünschen der ausländischen Auftraggeber für den Kauf von Gütern und Vermögenswerten, für die Schuldentilgung sowie auch für den Aufbau von Kassenbeständen in Deutschland bereitgestellt hat, während die anderen Zentralbanken im gleichen Umfang Geld eingezogen haben.
Es handelt sich um einen öffentlichen Überziehungskredit zwischen den Notenbanken, weil es anderen Volkswirtschaften des Euroraums ermöglicht wurde, ohne private Auslandskredite aufzunehmen, einen Nettozustrom von deutschen Waren, Dienstleistungen und Vermögenstiteln zu bezahlen. Der von der Bundesbank vergebene Target-Kredit wird in Höhe des Hauptrefinanzierungssatzes der EZB (Beschluss EZB 2007 NP10) zu Lasten der Schuldner-Notenbanken verzinst, der freilich zurzeit null ist.

Der Kredit war nur möglich, weil die Zentralbanken der Auftrag gebenden Länder bereit und in der Lage waren, das bei der Überweisung eingezogene Geld durch neue Geldschöpfungskredite an ihre jeweiligen Bankensysteme zu ersetzen, also insgesamt mehr von solchen Krediten zu vergeben, als es gemäß der Landesgröße zur Liquiditätsversorgung der eigenen Wirtschaft nötig gewesen wäre. 

Andernfalls wäre die Wirtschaft durch die Nettoüberweisungen sehr schnell ausgetrocknet.
Der Target-Überziehungskredit wird in der Zahlungsbilanzstatistik als Teil des Auslandsvermögens der Bundesrepublik Deutschland verbucht, das aus der Summe früherer Leistungsbilanzüberschüsse gebildet wurde. Das Nettoauslandsvermögen der Bundesrepublik ist mit einem Wert von 1929 Milliarden Euro Ende 2017 nach Japan das größte der Welt. Die Target-Kreditforderungen der Bundesbank zur Jahresmitte 2018 machten davon 51 Prozent aus.
Überweisungen zwischen Ländern müssen, wie die privaten Clearing-Systeme Londons zeigen, nicht zwangsläufig über Zentralbanken laufen. Auch private Banken können einander grenzüberschreitend Zahlungsaufträge geben und insofern Kreditverhältnisse aufbauen, um damit den Güterhandel und Kapitalverkehr zu ermöglichen. Dafür wird in keinem Land Zentralbankgeld eingezogen oder neu in Umlauf gebracht, und auch die Target-Salden verändern sich nicht. Überweisungen außerhalb des Target-Systems implizieren private Kredite zwischen den Bankensystemen, und Überweisungen über das Target-System öffentliche Kredite. Die beiden Kreditformen unterscheiden sich dadurch, dass das Kreditausfallrisiko das eine Mal beim Steuerzahler und das andere Mal beim Bankaktionär liegt, aber sie zählen gleichermaßen zur Nettoauslandsschuld oder zum Nettoauslandsvermögen der jeweiligen Länder. Sie sind zusammen mit anderen privaten und öffentlichen Kapitalflüssen das Spiegelbild der Leistungsbilanzsalden.

Ein Blick auf das Bretton-Woods-System

Auch im Bretton-Woods-System, dem internationalen Festkurssystem der Nachkriegszeit, gab es in Form der Devisenforderungen, die bei der Bundesbank aufgrund von Auslandsüberweisungen anlandeten, schon einmal etwas Ähnliches wie die Target-Salden. Die Notenbanken Amerikas und der europäischen Nachbarländer hatten ihre jeweiligen Volkswirtschaften mit überschüssiger Liquidität versorgt, die es den Einheimischen ermöglichte, wie heute beim Target-System in Deutschland auf Shopping-Tour zu gehen. Man kaufte mit dem selbst bedruckten Papier Waren, Firmen, Aktien, Immobilien und vieles mehr, und die Bundesbank musste die Devisen in D-Mark umtauschen. Im zweiten Schritt konnte sie aber verlangen, dass die nichtamerikanischen Währungen in Dollar oder Gold umgetauscht wurden, und da der Marktpreis des Goldes unter der festgesetzten Parität lag, bekam sie meistens Gold. Bis zum Jahr 1968 hatte die Bundesbank etwa 4000 Tonnen Gold angehäuft, was damals 3,4 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts ausmachte. Zugleich verfügte sie über Dollarreserven in Höhe von 1,6 Prozent des BIP.
Die Target-Forderungen der Bundesbank zur Jahresmitte 2018 belaufen sich demgegenüber auf 30 Prozent des deutschen BIP von 2017. Dürfte die Bundesbank sie in Gold umtauschen, erhielte sie dafür zum aktuellen Goldpreis weitere 28277 Tonnen.

Selbstbedienung im Eurosystem

Die Notwendigkeit der Tilgung der Devisenschulden mit Vermögensposten, die man nicht selbst erzeugen konnte, hat die Zahlungbilanzsalden im Bretton-Woods-System in engen Grenzen gehalten. Im Eurosystem ist hingegen keine Tilgung vorgesehen. Das kann das enorme Anwachsen der Target-Salden erklären. In der Tat ist Deutschland zu einem Selbstbedienungsladen geworden, in dem man nach Belieben anschreiben lassen kann, ohne dass der Ladeninhaber seine Forderungen fällig stellen kann.

Es sind im Wesentlichen fünf institutionelle Regelungen, durch die eine asymmetrische Kreditgeldschöpfung im Eurosystem in den ersten Jahren der Finanzkrise bis etwa 2012 ermöglicht wurde. 

Die erste ist das Target-System an sich. Der Maastrichter Vertrag sagt davon nichts. Dieses System haben die Notenbanken selbst beschlossen, ohne die Parlamente zu befragen. Man hätte das Eurosystem auch auf privaten Überweisungen aufbauen können. 

Die zweite Regelung liegt in der 2008 beschlossenen Vollzuteilungspolitik bei Refinanzierungskrediten. Danach dürfen sich die Geschäftsbanken eines jeden Landes unbegrenzt Kredite bei der eigenen Notenbank besorgen und können damit unbegrenzt Überweisungen in andere Länder realisieren. Sie müssen dabei freilich hinreichend gute Pfänder hinterlegen. 

Die Mindestqualität dieser Pfänder, und das ist die dritte Regelung, wurde sukzessiv bis unter BBB-Minus-Rating, also bis auf das Schrottniveau gesenkt. Schrottpfänder hatte man genug, um die heimische Geldmaschine laufen zu lassen.

Die vierte Regelung besteht in den sogenannten Ela-Notfall-Krediten, die es einer jeden Notenbank erlauben, nach eigenem Gustus beliebig viel Geld zu drucken, es sei denn, zwei Drittel der Stimmen des EZB-Rates sind dagegen. Da die südeuropäischen Krisenländer und Irland in den entscheidenden Jahren eine Stimme mehr als ein Drittel hatten, konnte niemand verhindern, dass sich diese Länder für Hunderte von Milliarden Euro Ela-Kredite gewährten. 

Die fünfte Regelung besteht im sogenannten Anfa-Geheimabkommen, zu dessen Veröffentlichung die EZB erst durch einen Berliner Doktoranden gezwungen wurde. Danach darf eine Notenbank mit selbst gedrucktem Geld Wertpapiere kaufen. So erwarb die Banca d’Italia nach Maßgabe der Anfa-Regeln für 105 Milliarden Euro Staatspapiere. Die durch all diese Mechanismen erzeugten Kredite aus der Druckerpresse fanden reißenden Absatz bei den Geschäftsbanken, weil sie zu wesentlich günstigeren Konditionen als Kapitalmarkt-Kredite angeboten wurden.

Der exzessiven Kreditgeldschöpfung in den Krisenländern, die Nettoüberweisungen in die nordeuropäischen Länder ermöglichte, stand ein entsprechender Rückgang der Kreditgeldschöpfung in letzteren gegenüber, weil das bei den Banken anlandende Überweisungsgeld den Bezug von verzinslichem Kreditgeld von der eigenen Notenbank überflüssig machte. In den Jahren 2012 und 2013 gab es in Deutschland keinerlei eigenes Kreditgeld von der Bundesbank mehr. In Deutschland zirkulierte nur noch das Überweisungsgeld, das andere Notenbanken in Auftrag gegeben hatten.

Die zwei Target-Wellen

Der deutsche Target-Saldo stieg in der Krise in zwei Wellen an. Die erste erreichte mit einem Target-Bestand von 751 Milliarden Euro im August 2012 ihren Höhepunkt. Nach dem Lehman-Crash verweigerten sich die Kapitalmärkte einer Fortsetzung der Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite der südeuropäischen Länder und Irlands. Die ausländischen Anleger wollten zudem das bereits verliehene Geld sobald wie möglich zurückhaben und weigerten sich, Ersatzkredite zu gewähren. Ferner versuchten inländische Vermögensbesitzer, ihr Vermögen im Inland zu beleihen oder zu verkaufen und ihr Geld ins Ausland zu bringen. Die oben beschriebene Selbsthilfe mit der Druckerpresse ermöglichte es den Volkswirtschaften, die öffentlichen Überziehungskredite in Anspruch zu nehmen, die durch die Target-Salden gemessen werden.

In den letzten vier Jahren erlebten wir die zweite Welle. Sie wurde durch die Erwartung und Implementierung des Anleihekaufprogramms der EZB ausgelöst, nach dem in der Zeit vom März 2015 bis Juni 2018 für etwa 2,4 Billionen Euro Wertpapiere gekauft wurden, von denen zwei Billionen Staatspapiere waren. Obwohl jede Notenbank nur die Staatspapiere ihres eigenen Landes zurückkaufte, stiegen die Target-Salden nochmals an. Das lag zum einen daran, dass die Verkäufer die Überschussliquidität in Deutschland in Sicherheit bringen wollten. Das ist ein Aspekt, der angesichts der in Italien mit großer Macht wieder aufflammenden Euro-Krise eine zunehmende Bedeutung erhielt. Die Kapitalflucht aus Italien und auch aus dem stark betroffenen französischen Bankensystem war erheblich.
Zum anderen lag es an dem technischen Effekt, dass die Papiere der südlichen Euroländer früher zur Finanzierung riesiger Leistungsbilanzdefizite in die Welt verkauft worden waren, so dass nun ohnehin Auslandsüberweisungen notwendig waren, um diese Papiere zurückzuholen. So oder so war die Bundesbank gefordert, die Rückkäufe und damit die alten Leistungsbilanzdefizite der Südländer durch eine gigantische Umschuldungsaktion im Nachhinein zu kreditieren.
So musste die Bundesbank zum Beispiel direkt an sie gerichtete Überweisungsaufträge der spanischen Notenbank ausführen, die das Ziel hatten, spanische Wertpapiere von deutschen Lebensversicherern nach Hause zurückzuholen. Sie musste neues Geld herstellen und den Verkäufern dieser Wertpapiere geben, damit die sie der spanischen Notenbank, einer Behörde des spanischen Staates, zurückgaben. Das war gut für Spanien, weil die verbriefte, mit einem Zins ausgestattete Staatsschuld gegenüber privaten Investoren, die manchmal lästig werden können, durch eine bloße Buchschuld beim Eurosystem und indirekt bei der Bundesbank ersetzt werden konnte. Diese Buchschuld kann niemals fällig gestellt werden, und sie trägt derzeit nicht einmal einen Zins. Für Deutschland war das Geschäft freilich weniger attraktiv. Zwar wurden die deutschen Verkäufer mit dem Geld der Bundesbank kompensiert, doch ist das eine Forderung gegen eine Einrichtung des deutschen Staates, die dafür nur eine Target-Forderung gegen das Eurosystem erhielt.
Auch half die Bundesbank den Südländern letztlich dabei, ihre Schulden gegenüber Investoren aus aller Welt loszuwerden und durch eine Buchschuld beim Eurosystem zu ersetzen, das selbst eine Buchschuld gegenüber der Bundesbank aufbaute. Wenn nämlich, um in dem Beispiel zu bleiben, die spanische Notenbank die spanischen Staatspapiere von einem Investor in Schanghai zurückkaufte, der dann, weil diese Aktion zur Abwertung des Euros führte, mit dem Verkaufserlös eine deutsche Firma erwarb, so war auch das ein gutes Geschäft für die Spanier. Die verbriefte Schuld gegenüber einem privaten chinesischen Investor konnte durch eine Buchschuld beim Eurosystem ersetzt werden. Der chinesische Investor wurde für die Hergabe der spanischen Papiere mit der deutschen Firma kompensiert, und der Verkäufer der deutschen Firma erhielt Euro, die eine Forderung gegen die Bundesbank sind, für das die Bundesbank mit einer Target-Forderung kompensiert wurde.
Natürlich sind das nur Beispiele. Es kann auch sein, dass der ausländische Investor Aktien und andere Wertpapiere oder deutsche Immobilien erwarb, denn wie seinerzeit im Bretton-Woods-System ist Deutschland billig und bietet gute Ware und gute Investitionsmöglichkeiten an. Wieder wird hier alles gekauft, was nicht niet- und nagelfest ist. Oder der ausländische Investor überwies sein Geld zunächst auf deutsche Bankkonten oder gar Bankkonten seiner eigenen Filialen in Deutschland, um auf günstige Kaufgelegenheiten zu warten. Auch das so in Umlauf gekommene Geld ist eine Forderung gegen die Bundesbank, die nur durch deren Target-Forderung gedeckt ist. Dumm nur, dass aber diesmal dafür kein Gold auf den Tresen gelegt wird.

Die Risiken

Die Target-Forderungen bedeuten Lasten und Risiken für den deutschen Staat, der Eigentümer der Bundesbank ist und das Recht hat, ewige Zinsen auf die Target-Salden zu kassieren. Wie ein Aktionär es über einen Dividendenverzicht täte, trägt der deutsche Staat im Falle eines Ausfalls der Target- Forderungen gegen das Eurosystem sämtliche Lasten. Das ist unabhängig von der Frage, ob der deutsche Staat die Bundesbank rekapitalisieren muss.
Verluste drohen zum Beispiel, wenn andere Notenbanken aufgrund der Target-Schulden ihre Zahlungsverpflichtungen im Eurosystem nicht mehr erfüllen können. So könnte sich ein italienischer Staatskonkurs nebst seiner Folgewirkungen auf das Bankensystem wegen der hohen Target-Schulden der Banca d’Italia von fast einer halben Billion Euro selbst im Falle einer Verpfändung der italienischen Geldschöpfungsgewinne und der Verwendung aller Reserven in Verlusten von mehreren Hunderten von Milliarden Euro für das restliche Eurosystem niederschlagen, wovon Deutschland dann 31 Prozent zu tragen hätte. Ähnlich wäre es, wenn Italien aus dem Euro austreten und seine Target-Schulden nicht mehr bedienen würde.

Diese Extremszenarien werden hoffentlich nie eintreten, doch sind sie insofern für die weitere Entwicklung der Eurozone relevant, als sie den Krisenländern ein glaubhaftes Drohpotential für das Erstreiten einer europäischen Transferunion an die Hand geben. Die neue italienische Regierung hat ganz offen mit dieser Karte gespielt. Entweder rücken die nördlichen Länder das Geld freiwillig heraus, oder man holt es sich über einen Austritt aus der Währung, notfalls über einen Konkurs der eigenen Notenbank.
Bei näherem Hinsehen ist dieses Drohpotential aber doch nicht so groß, wie es zunächst scheinen mag, weil die Target-Forderungen der Bundesbank auch im Normalbetrieb längst nicht so werthaltig sind, wie sie bilanziert werden. 

Ein privates Finanzinstitut müsste eine Forderung, die sie nicht fällig stellen kann, die derzeit einen Zins von null trägt und die vielleicht später mal wieder einen echten Zins trägt, dessen Höhe dann freilich von den Schuldnern mitbestimmt wird, vollständig abschreiben. So gesehen ist die Hälfte des durch Leistungsbilanzüberschüsse aufgebauten deutschen Nettoauslandsvermögens heute wohl ohnehin nur noch als belangloser Erinnerungsposten zu sehen.
Angesichts der in Italien und auch Frankreich wachsenden Target-Salden ist es nun höchste Zeit, dass sich die Politik der Sache annimmt und ihre Schweige- und Verharmlosungsstrategie beendet. Auch manche Journalisten sollten sich nicht für diese Strategie einspannen lassen. Deutschland steht im Gegensatz zu Frankreich vor großen demographischen Problemen, die in den dreißiger Jahren ohnehin Finanzengpässe verursachen werden. Es kann der Aushöhlung seines Vermögens durch das Target-System nicht länger tatenlos zusehen.
Es gibt Möglichkeiten, die Target-Salden einzudämmen. Man könnte die oben genannten Ursachen, die in der asymmetrischen und übermäßigen Kreditgeldschöpfung im Eurosystem liegen, abstellen, aber das würde voraussetzen, dass die mächtigen Target-Schuldner im EZB-Rat bereit sind, auf ihre Privilegien zu verzichten. Wirksamer wäre es, wenn die Gerichte und Parlamente sich der Sache annehmen und ein System der jährlichen Tilgung der Target-Salden wie zwischen den zwölf Distrikt-Notenbanken der Vereinigten Staaten vorsehen würden. Man könnte sogar eine Obergrenze einführen, ohne den Zahlungsverkehr einzuschränken, weil die Banken ihre internationalen Überweisungen dann selbst über private Clearing-Häuser oder nach entsprechenden Fusionen innerhalb ihrer eigenen Netze realisieren könnten. Um für den Aufbau solcher Netze Zeit zu gewähren, sollte man die Überschreitung der Obergrenze dann freilich zunächst noch unter Zahlung von Strafzinsen erlauben. Was zu geschehen hat, bedarf weiterer Erörterungen. Nur eines ist klar: So wie jetzt kann es nicht weitergehen.     Hans-Werner Sinn 


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