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Montag, 9. Juli 2018

Lanzmann



Mit Claude Lanzmann ist der Schöpfer des wichtigsten Filmes über die Judenvernichtung im 20. Jahrhundert gestorben. Ja, es gab 1985 schon andere bedeutende Filme über die Lager, angefangen mit Alain Resnais’ „Nacht und Nebel“ von 1955. Aber diese Filme moralisierten oder poetisierten, sie waren auf einem Gerüst von Texten aufgebaut, für das die Judenvernichtung ein zu schweres Gewicht hatte. Daneben gab es die vielen, vor allem amerikanischen Spielfilme, in denen erfundene und gefundene Schicksale im Licht der bevorstehenden Rettung eines Einzelnen standen. Das beruhigt. Lanzmann jedoch versagt jeglichen Trost.
„Shoah“ handelt ausschließlich von Ausrottung. Der Film handelt nicht vom Leben in den KZs oder von Leiden, Überleben und Flucht. Sein Thema sind der Prozess und die Details der Vernichtung. Er gibt zwar spärliche Informationen über das Schicksal der Zeugen, aber der Brennpunkt ist immer das Eigentliche des Titels, denn der Brennpunkt ist das, was die Ablenker und Mystifikatoren gern „das Unsagbare“ nennen.

Die Steine reden doch

Ich hatte immer geglaubt, dass keine Landschaft die Erinnerung an das, was dort einmal geschehen ist, bewahrt, denn die Steine reden nicht. Lanzmann glaubt aber, dass sie reden. Zum Beispiel steht er, der Filmemacher, auf morastiger Bahn, wo die Toten und Sterbenden einst aus schlecht geschlossenen Mordwaggons fielen; und wenn die Auspuffgase sie noch nicht völlig erstickt hatten, so erschoss man sie, als sie im Schlamm wegzukriechen suchten.
Die Umgebung wird zur Zeugin, einfach deshalb, weil sie noch da ist. Wer von solchen Dingen weiß, ist nicht wirklich entkommen. Man sieht’s den Überlebenden an. Und wie die Stunden dieses sehr langen Filmes vergehen, wird auch das Publikum es wissen, und manche werden unaufmerksam werden. Denn die „Langeweile“ dieses Films ist von ganz besonderer Art.
„Shoah“ ist ein neunstündiger Film, der aus Worten, aus unscheinbaren Gesichtern und ein paar dürftigen Landschaftsbildern besteht. Das ist kein Versuch, die Lager darzustellen, wie sie damals waren, sondern wie es jetzt dort aussieht, wo sie einmal standen. Gesprochen wird auf Deutsch, Englisch Französisch, ein bisschen Jiddisch, ein paar Worte hebräisch. Die Überlebenden und ihre Quäler erzählen. Hier wird nicht Theater gespielt, kein lächerlicher Versuch gemacht, die Lager fiktional wiederherzustellen. Hier wird nur erinnert. Kleine Pausen sind uns, dem Publikum gewährt, wenn fahrende Züge die Landschaft durchschneiden. Es sind Pausen, die man gut brauchen kann, um den gestörten inneren Haushalt wieder zu ordnen.
Wer nicht aus Langeweile, die eigentlich eine Verdrängung ist, aussteigt, wie aus einem Zug, dessen Türen nicht versiegelt sind, das heißt, sich dem unerträglich gewordenen Geschehen nicht entzieht, der setzt sich auseinander mit den Sprechern. Auch ich rede auf die Leinwand ein, erkläre einiges, verlange Erklärung für anderes.
Dieser Film hängt in seiner Wirkung davon ab, wie weit sich die Zuschauer auf Lanzmanns Unternehmen einlassen, ob man nun kritisiert oder zustimmt. Manche sagen, und Rezensenten haben geschrieben, dass sie aufstehen und sich einmischen wollten, wenn Lanzmann seine Gesprächspartner – die Juden sowie die früheren Nazis – unter Druck setzt. Denn „Shoah“ zieht uns mehr ins Dargestellte, als das gedruckte Wort es vermag, und überwältigt uns weniger als Dokumentarfilme, die die Lager in ihrem ursprünglichen Zustand zeigen.

Entsetzt euch, aber erstarrt nicht

Durch unbarmherzig hartnäckige Interviewmethoden schafft Lanzmann eine Art interaktives Kino – oder die Illusion eines solchen. So filmt er die Naziverbrecher ausdrücklich gegen ihren Wunsch und ihr Wissen und überlässt es uns, den Betrug zu billigen oder zu verurteilen. Noch kontroverser ist der Druck, den er auf Auschwitz-Überlebende ausübt, wenn er etwa darauf besteht, dass sie weitererzählen, auch wenn oder gerade wenn die Erinnerungen sie zu überwältigen drohen. Indem er uns also die Urteilsfähigkeit nicht nimmt, sondern sie eher voraussetzt, erfahren wir, dass wir dieser Geschichte nicht entgehen können, denn sie ist auch unsere.
Als ich in den späten Vierzigerjahren als ein stark gebeutelter Teenager nach New York kam, wurde uns geraten, so schnell und so gründlich wie möglich zu vergessen. Ich bin damals oft spät abends auf den Straßen Manhattans herumgelaufen und habe um meine Toten mit hysterischer Vehemenz und Verwirrung und Unverständnis getrauert.
Damals hieß es: Vergiss, vergiss! Lanzmanns Film „Shoah“ sagt: Schaut zurück auf das Eismeer, schaut zurück auf das Feuer! Er sagt auch: Entsetzt euch, aber erstarrt nicht. Und schließlich sagt er auch: Hütet das Leben, fragt, wer ihr seid.
Die Schriftstellerin Ruth Klüger (Jg. 1931) wurde als elfjährige Tochter eines jüdischen Wiener Arztes in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Die KZs Auschwitz und Christianstadt folgten. Wenige Jahre nach der Befreiung emigrierte sie in die USA, lehrte an Universitäten und schrieb zahlreiche Bücher, darunter 1992 das viel beachtete Buch „Weiter leben. Eine Jugend“.


Es gibt nicht viel von all dem Vielen, das über die Shoah geschrieben wurde, was bleiben wird. Aber es gibt ein paar Meisterwerke: Primo Levis Bücher, Ruth Klügers "Weiter leben", Marga Mincos "Das bittere Kraut", Benignis "Das Leben ist schön", Art Spiegelmans "Maus" und natürlich Claude Lanzmanns "Shoah" .

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