Stationen

Freitag, 17. August 2018

Heute würde Sieburg nur noch an einigen Orten Italiens, Spaniens, Portugals und Montenegros fündig


1929 veröffentlichte Friedrich Sieburg sein Buch "Gott in Frankreich?", das ihn über Nacht berühmt machte. Die Vorrede ist übertitelt mit "Warum ich über Frankreich schreibe". Ich gestatte mir, einige der Sieburgschen Antworten zu zitieren:
"weil ich noch einmal den Atem anhalten und verweilen möchte, ehe die Welle mich der alten Welt entreißt und jenem Schicksal zuschleudert, das mich aus einem Genießer in einen Konsumenten verwandelt,
weil ich schwach genug bin, in einem altmodischen und unordentlichen Paradies lieber umherzustreifen als in einer blitzblanken und trostlosen Musterwelt,
weil in Frankreich jeder Mensch eine handgearbeitete Seele in sich trägt, die häufig von zweifelhafter Qualität ist, während anderswo selbst die edelsten Empfindungen Gefahr laufen, eines Tages in Serien hergestellt zu werden,
weil ich meinen Mitmenschen etwas von jenem Schmerze mitteilen möchte, den ich empfinde, wenn ich von der Ewigkeit zur Tagesordnung übergehen muß,
weil es noch ein Land in der Welt geben muß, das einen kompakten Widerstand, ein solides Bollwerk gegen die Vervollkommnung der Menschheit bildet, dergestalt, daß die private Glückseligkeit auf Schritt und Tritt über die der Allgemeinheit triumphiert,
weil ich nicht zu entscheiden wage, was besser ist: ein vollkommenes System der sozialen Fürsorge oder ein unerschöpflicher Vorrat an Weißbrot und Rotwein,
weil in Frankreich zwar alle Statistiken falsch, aber alle Maße richtig sind,
weil die großen Städte nur so lange menschenwürdig sind, wie ihre Bewohner sich entschlossen zeigen, Kleinstädter zu bleiben und den Rhythmus des Lebens als einen ruhestörenden Lärm zu ignorieren,
weil sich die Frauenfrage in Frankreich zu einem großen Teil und aufs angenehmste dadurch lösen läßt, daß man den Frauen einen tüchtigen Vorrat zarter Wäsche und taktvoll ausgewählter Hüte zur Verfügung stellt oder wenigstens in ihnen mit teuflischen Mitteln die Hoffnung wachhält, daß sie zu diesen Dingen eines Tages gelangen werden,
weil endlich Klarheit darüber geschaffen werden muß, ob Gott wirklich französischer Nationalität ist und ob wir uns ohne ihn einrichten müssen, wenn dies der Fall ist".
Wie man liest, sind nahezu sämtliche heute entscheidenden Fragen bereits vor 90 Jahren gestellt worden. 

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