Stationen

Sonntag, 2. September 2018

De vino veritas

Folgt man einer vor kurzem veröffentlichten und mit einigem medialem Widerhall bedachten Großstudie, die in der englischen Medizin-Zeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde, dann sind Winzer, Brauer und Schnapsbrenner wenn nicht gleich als Feinde der Menschheit, so doch immerhin der Volksgesundheit einzustufen. Jeder Tropfen Alkohol sei schädlich, lautet das Fazit der Studie. "Selbst das eine Bierchen ist schon ungesund", überschreibt die Zeit ihren Beitrag und warnt: "Eine Studie, die Daten von 28 Millionen Menschen nutzt, zeigt: Alkohol schadet ab dem ersten Tropfen. Und ist weltweit für noch mehr Tote verantwortlich als gedacht." Spiegel online sekundiert: "Auch die geringste Menge Alkohol ist problematisch. Um der Gesundheit nicht zu schaden, sollte man darauf verzichten."
Hier muss einiges entwirrt werden. Zunächst einmal ist es ein gewaltiger Unfug, beispielsweise den holden Rebensaft auf 10 bis 14 Prozent seiner Bestandteile zu reduzieren, so wichtig diese 10 bis 14 Prozent als Geschmacksträger und Daseinsaufheller auch sein mögen. Sodann stellt sich bei Betrachtung der Studie sofort heraus, dass es sich um eine sogenannte Meta-Studie handelt, also um eine Auswertung vieler anderer Studien, wobei man in solchen Fällen nie genau weiß, welche Studien eben nicht einbezogen wurden. Schaut man noch näher hin – Spiegel online immerhin hat es getan –, werden einem folgende Zahlen präsentiert:
In einem Jahr, in dem 100.000 Menschen zwischen 15 und 95 Jahren gar keinen Alkohol trinken, erkranken 914 von ihnen oder ziehen sich eine Verletzung zu, die mit Alkohol in Zusammenhang steht. Zu den Krankheiten beziehungsweise Verletzungen, die hier mit Alkohol in Zusammenhang gebracht werden, gehören unter anderem Leberzirrhose, Leberkrebs, Diabetes, Epilepsie, Herzinfarkt, Bluthochdruck, Darmkrebs, Tuberkulose, Selbstverletzungen sowie Verkehrsunfälle. Da viele dieser Plagen und Zwischenfälle nicht nur vom Alkoholkonsum abhängen, fällt die Zahl auch bei Abstinenzlern nicht auf null.
In der identischen Vergleichsgruppe, deren Angehörige ein alkoholisches Getränk pro Tag konsumieren, erkranken 918 von ihnen oder ziehen sich eine Verletzung zu. In der Vergleichsgruppe mit zwei alkoholischen Getränken pro Tag steigt die Zahl auf 977, bei fünf Gläsern pro Tag auf 1252.
Die letztgenannte Gruppe ist inzwischen die meine (früher lag ich viel, viel weiter vorn), das heißt, ich gehöre zu einer Mehrheit von 98.748 gegenüber 1.252 Personen. Man bedenke erschauernd: In dieser fidel-fröhlichen hunderttausendköpfigen Fünf-Gläser-am-Tag-Gruppe erkranken kolossale 328 Personen mehr als bei den Abstinenzlern. Das sind 0,328 Prozent. In der üblichen Quantifikation der Nebenwirkungen eines Medikaments auf dem Beipackzettel fiele diese Zahl unter "gelegentlich" bis "selten".
Ich weiß nicht, ob sich der Zentralrat der Muslime schon zu der Studie geäußert hat. Was mich betrifft – Sie sind ja zu Gast in meinem Eckladen, und hier sind der Wein sowie das gelegentliche selbstbezüglich-eitle Gequatsche des Inhabers ein fester Bestandteil des Sortiments – kann ich Entwarnung geben. Ich trinke seit meinem sechzehnten Lebensjahr nahezu täglich "Alkohol", die ersten Jahre durchaus auf leistungssportlichem Niveau, seit dem Fall der Mauer, mit welcher mich die Kommunisten von den preiswürdigen Rebensäften wegbetoniert hatten, nicht mehr aus dem Bedürfnis nach Betäubung, sondern nurmehr noch aus Genussgründen, also durchaus wählerisch – aber stets beharrlich. Deshalb – und keineswegs trotzdem – komme ich mit meinen 56 Lenzen auf dem Rennrad immer noch vergleichsweise zügig über jeden Alpenpass, schreibe pro Jahr ein Buch (auch wenn jenes, welches ich derzeit parallel zu dem periodischen zu Papier bringe, sich etwas hinzieht), bewältige ein gewisses Lektürepensum und erledige meine Ernährer- und Vaterpflichten leidlich. Gewiss, es fehlt die Vergleichsstudie, aber wenn ich in meinem Herzen die Wahrscheinlichkeiten abwäge, ob ich als Abstinenzler eher ein Genie oder wahnsinnig geworden wäre, bin ich mir über die Antwort ziemlich sicher. –

Während der Westen dem Trunk immer gewogen war und kollektiv gewaltige Mengen konsumiert(e), ist die islamische Welt bekanntlich durch Allahs im Koran festgehaltenes Wort zur Abstinenz angehalten. Wahrscheinlich beruht das Weinverbot darauf, dass die frühen Gefolgsleute des Propheten Muhammad öfter beschwipst zum Gebet erschienen sind, was ihnen niemand verdenken kann und auch Goethe nicht verdachte:

Ob der Koran von Ewigkeit sey?
Darnach frag' ich nicht!
Ob der Koran geschaffen sey?
Das weiß ich nicht!
Daß er das Buch der Bücher sey,
Glaub' ich aus Mosleminen-Pflicht.
Daß aber der Wein von Ewigkeit sey,
Daran zweifl' ich nicht;
Oder daß er von den Engeln geschaffen sey,
Ist vielleicht auch kein Gedicht.
Der Trinkende, wie es auch immer sey,
Blickt Gott frischer ins Angesicht.
Na, vielleicht wird's ja eines Tages. Nochmals der "Divan":

"Horch! Wir andern Musulmanen,
Nüchtern sollen wir gebückt seyn,
Er, in seinem heilgen Eifer,
Möchte gern allein verrückt seyn!"

Anderthalb Jahrtausende Abstinenzgebot haben die muslimische Welt geistig bzw. intellektuell nicht wirklich vorangebracht, aber wie steht es um die Gesundheit und die sogenannte Lebenserwartung – tatsächlich handelt es sich dabei ja um Todeserwartung – in dieser Weltgegend im Vergleich zu den Gefilden der Trinker? Auch hier finden sich wenige Argumente für kollektive Trockenheit inmitten der klimatischen. Die Weintrinkernationen Italien (Platz 15), Frankreich (20) und Spanien (22) mit 82,2, 81,9 und 81,7 Jahren, aber auch die Pro-Kopf-Verbrauchs-Champions wie Deutschland (Platz 33, 80,7 Jahre) und Dänemark (Platz 46, 79,4 Jahre) stehen im Ranking der durchnittlichen Lebenserwartung deutlich vor:

den Emiraten (Platz 70, 77,5 Jahre)
Marokko (Platz 78, 76,9 Jahre)
Oman (Platz 101,75,5 Jahre)
und Saudi-Arabien (Platz 106, 75,3 Jahre).

Ich habe extra die reicheren muslimischen Länder ausgesucht. (Diejenigen, denen es jetzt in den Händen juckt, mir zu schreiben, dass sich die Lebensdauer doch nicht monokausal erklären lässt: Bezähmen Sie sich bitte.)

Ich möchte weder in einem Land leben, dessen Kulturlandschaft nicht da und dort vom Weinbau geprägt ist, noch kann ich mir eine warme Mahlzeit ohne Wein vorstellen. Der Kummer, ach was: der Horror, der mich befiele, wenn auf einer gedeckten Tafel die Weingläser fehlten, würde meinem Wohlbefinden mit Sicherheit mehr schaden, als ein Schluck – in meiner Maßeinheit: eine Flasche – zuviel es je täten. Mit Menschen bei Tische zu sitzen, die Wasser oder Saft trinken, deprimiert mich zutiefst, und ich suche solche Gesellschaft mit allen Mitteln zu meiden. Das ist auch einer der Gründe, warum ich bislang mit muslimischen Bekannten, von einer Ausnahme abgesehen, nicht wirklich warm geworden bin, obwohl die Toleranten unter ihnen immerhin kein Problem damit hatten, wenn ich getrunken habe, während sie den Weisungen Allahs gehorchten; die wirklich Knallfrommen verlassen ja dann den Tisch. (Im Übrigen gilt das auch für orthodoxe Juden, Mormonen etc.) – –
Kein Dichter hat je die Enthaltsamkeit besungen. Oden auf den Wein indes gibt es in Fülle. Bemerkenswerterweise stammen zwei der leidenschaftlichsten Bacchanten aus dem Orient (ich habe beide hier desöfteren zitiert).

"Wenn ihr mich finden wollt am Tag des Jüngsten Gerichts,
sucht mich im Staub vor der Tür der Schenke."

Also dichtete der unfromme persische Mathematiker Omar Chajjam (gest. 1131).

"Nur der Wein kann uns begaben
mit der Weisheit Gut."

Also echote sein Landsmann Hafis mehr als 200 Jahre später.
Dass dergleichen Zeugnisse sich im Abendland verbreiteten und unteren anderen den großen Weintrinker Goethe erreichten, der nach heutigen Maßstäben mit seinen ein bis zwei Flaschen pro Tag heute als ein schwerer Alkoholiker durchginge (auch wenn es leichtere Weine waren als heute), verdankt sich bekanntlich Johannes Gutenberg. Der Vater des Buchdrucks war selbst ein fröhlicher Zecher, sofern er die jährlichen 2000 Liter Wein, die ihm der Erzbischof von Mainz seit seiner Erhebung zum Hofedelmann anno 1465 gewährte, nicht im Keller verdorren ließ. Seine berühmte Erfindung soll er angeblich von der Weinpresse abgeschaut haben.
Die Vermählung von Literatur und Rauschtrank war von Anfang an vollzogen; die Ehe wurde nur zum Teil glücklich, aber enorm beständig. Unter den berühmten Trinkern der Neuzeit befanden sich auffallend viele Künstler und speziell Schriftsteller. Von den ersten sieben amerikanischen Literaturnobelpreisträgern etwa waren fünf schwere Säufer, wenn nicht veritable Alkoholiker: Faulkner, O'Neill, Steinbeck, Sinclair Lewis und Hemingway. Ihr Kollege Jack London soff ohne Nobelpreis, dafür schrieb er das autobiografische Standardwerk zum Thema: "König Alkohol". Mit fünf war der kleine Jack zum ersten Mal blau, als er dem Vater das Bier aufs Feld bringen sollte und selbst davon naschte. Der Farmer fand seinen Sohn selig in einer Ackerfurche schlummernd und hätte ihn um ein Haar untergepflügt. Später, als 16jähriger "König der Austernräuber" segelte er im Vollrausch auf seinem eigenen Boot und fühlte sich noch großartiger als Leonardo di Caprio am Bug der "Titanic", denn der Arme war ja nüchtern.
Kaum einer der großen trinkenden Autoren wurde alt. London starb mit 40 Jahren wie auch Edgar Allan Poe. Charles Baudelaire und E. T. A. Hoffmann gaben mit 46 Jahren die Flasche ab, Verlaine wurde 51. "Um die Last der Zeit nicht zu fühlen, die eure Schultern zerbricht und euch zu Boden drückt, müsst ihr euch ohne Unterlass berauschen", empfahl Baudelaire. Der frühe Tod scheint die Gesundheitskommissare zu betätigen, doch rechtfertigt das Werk nicht automatisch das Leben?
Die große Ausnahme war Goethe. Obwohl auch ein regelmäßiger Zecher, der sich den Rebstoff sogar zur Kur nachschicken ließ, überschritt er locker die 80. "Alle tranken tapfer, aber der alte Goethe am tapfersten", notierte der Berliner Archäologe Wilhelm Zahn nach einem Besuch im Hause des Dichters anno 1827. "Ihm allein konnte der Wein nichts anhaben. Wie ein siegreicher Feldherr überblickte er das Schlachtfeld und die niedergetrunkenen Reihen." Offenbar besaß der Weimarer Weltweise die sokratische Gabe, sich nüchtern zu trinken. Im selben Jahr brachte man Ludwig van Beethoven eine letzte Sendung von Weinen ins Sterbezimmer, worauf er murmelte: "Schade! Schade! – Zu spät!" Der Komponist starb an "dekompensierter Leberzirrhose und chronischer Pankreatitis durch jahrzehntelangen Alkoholgenuss", notierte vor ein paar Jahren das Ärzteblatt – nach heutigen Kriterien als Trunkenbold, nach damaligen als ein Mann, der eben täglich Wein und Bier zu sich nahm. Im finalen Stadium seiner Trinkerkarriere schrieb Beethoven die späten Streichquartette, die "Diabelli-Variationen" und die Neunte Sinfonie, deren finaler Radau immerhin darauf hindeutet. Nie hat ein Abstinenzler vergleichbare Höhen erklommen. Fairerweise muss man hinzufügen: auch kein anderer Trinker.
Der zweitberühmteste Schluckspecht in der Geschichte der Tonkunst war der Russe Modest Mussorgski. Der trieb es freilich exzessiver als Beethoven und beendete schon mit 42 Jahren seine erratische und genialische Existenz, eine beachtliche Reihe von unvollendeten Werken hinterlassend. Einem Trinker gelang es, dass eine Rebsorte nach ihm benannt wurde: Justinus Kerner. Der Dichter und Arzt verzehrte täglich mindestens zwei Liter Wein. Berechnungen seines Sohnes zufolge hat er bis zu seinem Tod – er wurde 75 Jahre alt – etwa 21 000 Liter Wein gepichelt. Als Arzt schrieb Kerner "über die Wirkungen des Rieslings auf das Nervensystem" und warnte vor übermäßigem Weingenuss – also vermutlich ab drei Liter pro Tag. An Otto von Bismarcks Tafel wiederum galten ein halber Truthahn und eine halbe Flasche Kognak als normal. Mit dieser Diät wurde er 83 Jahre.
Der alte Ernst Jünger, der in seinem hundertsten Lebensjahr so elanvoll dem Champagner zusprach, dass der ebenfalls große Trinker Rudolf Augstein ihn glühend beneidete, zeigte sich bestürzt darüber, dass die heutige Jugend "den Ansprüchen des Trankes nicht mehr gewachsen" sei. Dass für jedes große Vergnügen, für jede vitale Lust ein Preis gezahlt werden muss, war dem Weltkriegshelden noch eine Selbstverständlichkeit. Der ebenfalls bedeutende Trinker Wilhelm Busch notiert: "Die erste Pflicht der Musensöhne ist, daß man sich ans Bier gewöhne." Ich will es damit bewenden lassen. Angesichts dieser – höchst unvollständigen – Galerie sollten den Abstinenzlern die Argumente ausgehen.
Ich habe vor kurzem aus einem kleinen biographischen Text von Joachim Fest über Johannes Gross zitiert, welchletzterer ebenfalls gern und ausgiebig dem Wein zusprach und sich bis zuletzt nicht davon abbringen ließ: "Er verachtete alle Diätfreunde und Biokostphilosophen. Die Verzichte, meinte er, die da gepredigt würden, folgten allesamt der Regel: ‚Wenn das Leben schon keinen Spaß mehr macht, soll es wenigstens lange dauern.’ Sooft sich einer seiner Freunde über seine ‚Küchenweisheiten’ lustig machte, erwiderte er mit der ironischen Gravität, die er gern hervorkehrte, er gehe in allen Lebensdingen: bei Tisch, in der Literatur, im Theater oder sonstnochwo seit längerem nie mehr unter ein gewisses Niveau." Auf Ihr Wohl, Kamerad Gross!
Der Wein ist integraler Bestandteil einer Lebensart, welche die Liebe zur Literatur, zu den Künsten, zur Musik, zu den Frauen, zur Gelehrsamkeit, zum schönen Gespräch und zu den Freuden der Gastronomie einschließt. Menschen, die keinen Wein trinken, sind für mich ungefähr so anziehend wie Menschen, die keine Gedichte auswendig wissen. Als ein Kind meiner Zeit will ich hinzufügen: Auch und gerade ein Trinker sollte seinem Körper Wertschätzung entgegenbringen, denn ein Gebildeter mit einem ungebildeten Körper sieht ungefähr genauso ungebildet aus wie ein ungebildeter Mensch mit einem gebildeten Körper.
Ein sicherer Lacher, wenn ich in der Soiree "Lebenswerte" das Weinkapitel vortrage, ist der Passus: "Der mühevolle und anfangs gar nicht billige Weg zur kulinarischen Selbstveredelung hat mich also in eine Risikogruppe versetzt, deren Vertreter von ungefähr der Hälfte der Mediziner sorgenvoll bis streng angeblickt werden; die andere Hälfte gehört selber dazu. Unter Ersteren gibt es Puristen, die behaupten, jeder Schluck sei schädlich. Vom ‚Göttertrank’ der Alten zum ‚Zellgift’ der Gesundheitskommissare – so weit muss man erst mal kommen. Für mich gelten jedenfalls zwei Maximen. Erstens: Jeden Tag Wein. Zweitens: Lieber zehn brandenburgische Skinheads am Tisch als einen Abstinenzler."    MK am 2.9.