Stationen

Sonntag, 14. Oktober 2018

Seit 1918 (oder seit 1517?)


"Die Aristokratie bringt Aphorismen hervor, die Demokratie Parolen" – diese Sentenz habe ich vor einigen Monaten hier zitiert. Abgewandelt könnte sie auch lauten: Der Reaktionär/der Rechte/der Freund der Meritokratie bringt Aphorismen hervor, der Progressist/der Linke/der Gleichheitsanbeter Parolen. Ich hatte diese Worte im Sinn, als ich zur Buchmesse fuhr, einer Veranstaltung die inzwischen vor Parolen nur so schwirrt; man darf sagen: Aus dem Autorenstrich ist eine Parolenmanufaktur geworden.

Auf der Fahrt las ich in der Sentenzensammlung "Kleines Handbuch für den Umgang mit Unwissen" des Nassim Nicholas Taleb (das Original trägt den Titel "The Bed of Procrustes. Philosophical and Practical Aphorisms"). Der aus dem Libanon stammende philosophierende Finanzmathematiker und Ex-Derivatehändler ist Verfasser von vielgelesenen bzw. -gekauften Sachbüchern wie "Der schwarze Schwan" oder "Antifragilität", und während belletristische Besteller immer unlesbar sind, kann sich unter die populären Sachbücher bisweilen ein schwarzer Schwan mischen. Um für mich zu klären, ob man Talebs Bücher lesen sollte, las ich also dessen Aphorismen, etwa:
"Der Narr hält sich selbst für einzigartig und die anderen für gewöhnlich; der Weise hält sich selbst für gewöhnlich und die anderen für einzigartig."
"Das Ziel der Sozialwissenschaft besteht darin, eine bestimmte Sorte Menschen zu erfinden, die wir verstehen können."
"Der Großartige glaubt die Hälfte dessen, was er hört, und das Doppelte dessen, was er sagt."
"Ich frage mich, ob mein ärgster Feind eifersüchtig würde, wenn er herausfände, dass ich einen anderen hasse."
"Wenn eine Frau über einen Mann sagt, er sei intelligent, meint sie häufig gutaussehend; wenn ein Mann über eine Frau sagt, sie sei dumm, meint er immer attraktiv."
"Kein Autor sollte als gescheitert angesehen werden, bevor er nicht angefangen hat, anderen das Schreiben beizubringen."
"Wenn Sie auch nur einen Grund dafür angeben können, mit einem anderen Menschen befreundet zu sein, dann sind Sie keine Freunde."
Das ist die Daseinsgestimmtheit der französischen Moralisten, jene angenehme Mischung aus Scharfblick, Arroganz, Unsentimentalität, Illusionslosigkeit und Urteilsvergnügen, die mich für einen Autor sofort einnimmt, erst recht, wenn er überdies noch gebildet ist. Talebs Meinung über einen Menschenschlag, den man heutzutage gewöhnlich als "Entscheider" bezeichnet, ist erfreulich dezidiert. Seine Fußnoten zu Gaunerfiguren wie Robert Rubin, Finanzminister unter Clinton, Obama-Berater und "möglicherweise der übelste Dieb in der Geschichte der Menschheit", weisen Taleb, der übrigens in New York lebt, als nicht sonderlich gefallsüchtig aus.
Passend zur Lage in Deutschland ist die Sentenz: "Seneca war der Meinung, der kluge Stoiker solle sein Engagement für das öffentliche Wohl einstellen, wenn man nicht auf ihn hört und das Staatswesen unwiderruflich korrumpiert ist. Es zeugt von größerer Weisheit zuzuwarten, bis es sich selbst zerstört."
(Frauke Petry – der eine oder andere mag sich ihrer erinnern – pflegte, bevor sie es selber tat, zu sagen: "Man muss seine Gegner ihre Fehler zu Ende machen lassen.")
Passend zur Buchmesse wiederum: "Vermeiden Sie unter allen Umständen verbale Drohungen, Klagen, Rechtfertigungen, Narrationen, Umformulierungen, Versuche, in Diskussionen die Oberhand zu behalten, Appelle – vermeiden Sie Wörter!"
Kurzum: Man soll ihn wohl lesen.


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Den, wie gesagt wird: PR-Coup auf der Messe erzielte zweifellos Götz Kubitschek. In der Halle 4.1 hatte der im April 2018 gegründete Loci-Verlag des Zahnmediziners Thomas Veigel seinen Stand gebucht und dort stracks das Logo von "Antaios" enthüllt. Nun präsentierte Kubitschek dort seine Antaios-Bücher neben Loci-Buchattrappen. Unter Letzteren befand sich der Titel "Deutscher als ich geht eigentlich nicht", dessen fingierter Autor, der Pianist Kemal Yilmaz, versprochen hat, das Buch nachzuliefern. Von Yilmaz gab es am Stand immerhin eine Einspielung der Goldberg-Variationen zu kaufen, eben hat er Schuberts Impromptus aufgenommen, viel deutscher geht es in der Tat nicht. Wirklich entzückend waren die Kommentare zu diesem Streich, deren sogenannter Tenor ungefähr lautet: Wenn wir nicht so zwanghaft über rechte Verlage schrieben, würde nicht alle Welt über sie reden. Oder in den Worten eines Gottbegnadeten vom Tagesspiegel:
"Alle berichten drüber. Aber kann man das noch ernst nehmen? So tun, als verkaufe man seinen Verlag, nur um bei der Buchmesse dabei zu sein, und zwar wie sich das Götz Kubitschek vorstellt. Gute Güte, das ist Realsatire, über die man nicht mal wirklich lachen kann. Subversion für nichts."
Direkt neben dem Loci-Stand befand sich übrigens irgendein Verlag aus der ebenfalls erst vor kurzem gegründeten Kette #verlagegegenrechts. Einträglich hausten beide nebeneinander, wobei die drei Mädels zur Rechten des Götzenstandes samt ihrer Auslage erschütternd unbeachtet blieben (was zumindest eine der drei Maiden keineswegs verdient hatte), während daneben Trubel herrschte. Kopf hoch, Schwestern! Lieber unbeachtet auf der richtigen Seite als vielbeachtet auf dem Weg zur Hölle!

Nachtrag: Das Verlegerehepaar Ellen Kositza/ Götz Kubitschek ist gestern Abend in einem Lokal von Vermummten überfallen worden. Die Angreifer traten Kubitschek gegen den Kopf und schlugen auf seine Frau ein (mehr hier). Wenn man die beiden auf dem Wege der Ausgrenzug und Standortschikane nicht von der Buchmesse wegbekommt, dann müssen halt die bewährten SA-Methoden eingesetzt werden. Ich hoffe, dass beim nächstenmal ein paar von jenen Kerlen Wache halten, die jener Art von Angreifern unvergessliche Erlebnisse bescheren.


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An einem anderen Stand erfahre ich, dass mein längerer Aufenthalt dortselbst am Vorabend wenig später zur Aufkündigung einer Freundschaft geführt habe. Irgendetwas Schlimmes nistet seit ca. 1918 (manche behaupten sogar seit 1517) in diesem armen Volk. Am Manuscriptum-Stand wiederum erzählt mir eine Dame, sie habe bei einer Buchvorstellung eine Frage zur ambivalenten Bewertung eines AfD-Politikers durch den Autor gestellt, die sie sofort dem Verdacht der Sympathie wenn nicht der Parteinahme ausgesetzt habe. Über bestimmte Themen und Personen sei schlechterdings keine Diskussion möglich. Abscheu und einschränkungslose Distanzierung gälten in einem oftmals durchaus gebildeten Milieu als die einzig angemessene Art, mit dergleichen Unholden umzugehen. Ich empfahl ihr, sich nicht zu ärgern, sondern bei nächster Gelegenheit lieber die Frage zu stellen, ob es nicht besser sei, man schlüge solche Kreaturen einfach umstandslos tot – und dann die abwehrenden Reaktionen der sich in ihren wonnigsten Phantasien ertappt fühlenden Wohlmeinenden zu beobachten.


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Wer sich nicht von den Spaltern distanziert, hat in unserer Mitte keinen Platz!


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Apropos Buchmesse:
"Es ist unmöglich, heutzutage eine Putzfrau zu bekommen – alle schreiben."
(Leider nicht von mir, sondern von Paul Léautaud und schon vor knapp 70 Jahren geschrieben; wenn der wüsste!)


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Erst kamen die aktuellen Bolschewiken unter dem Etikett #wirsindmehr busladungsweise nach Chemnitz (in gewissem Sinne auch bußladungsweise, wobei Loges "Zur Buße gehört noch die Beute" hier andersherum gilt: Der Büßer büßt um der Beute willen), nun zogen sie unter dem Label #unteilbar durch Berlin, was insofern witzig ist, als tags zuvor gemeldet wurde, dass die Clans mit dem existenzveredelnden Hintergrund im Westteil der Stadt ganze Straßenzüge für sich reklamieren, und insofern noch eine Nuance witziger, als die Nachfolger der Mauerbauerpartei, die Genossen von SED-PDS-Linkspartei, halbwegs stramm vorneweg marschierten und, nehme ich doch mal an, ihre edlen Parolen gegen "rechts" in antiphonalen Chören vielstimmig zu Gehör brachten.
150.000 oder sogar mehr sollen es gewesen sein, was jemanden, der dem euphorischen Fackelzug der FDJ am Vorabend des letzten DDR-Geburtstages hospitierend beiwohnen durfte, nicht wirklich beeindruckt; einen noch viereinhalb Jahrzehnte tieferen Blick in den Brunnen der Vergangenheit verkneife ich mir heute. Es war eine der üblichen deutschen Staatsveranstaltungen, fast alle Organisationen, die zur Gesinnungsparade riefen, sind steuerfinanziert. Man demonstrierte zu Berlin übrigens nicht nur gegen "rechts", sondern auch für offene Grenzen, und manchmal frage ich mich, ob man denen nicht geben sollte, worum sie bitten, denn dann wären sie endlich, wie Leser *** notiert, "an ihrem eigentlichen Platz in der Nahrungskette" angelangt.
Dazu nochmals Taleb: "Der Schwache kann nicht gut sein; oder wenn vielleicht doch, dann nur innerhalb eines flächendeckenden, übergriffigen Rechtssystems."


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Lesenswert Dushan Wegner dazu:
"Als hätten sie nichts aus der Geschichte gelernt, marschieren in Berlin wieder Menschen auf, unterhalten von Staatsfunk, eingeschworen von Journalisten mit 'Haltung' und aufgepeitscht von entsprechenden Künstlern. Stellen wir uns kurz vor, in einem andern Land würden Regierungspolitiker und Staatsfunk zu Großkundgebungen und Demonstrationen gegen Opposition und Regierungskritiker aufrufen – was für Worte würden wir für solche Aktionen wählen? 'Propaganda' vielleicht? 'Totalitarismus' gar? (...)
Ich war lange Zeit wütend und entsetzt, wie einfach es (wieder) ist, so viele Deutsche wie gehirngewaschene Schafe wirken zu lassen. Staatsfunk und gewisse Minister versuchen scheinbar nicht einmal, seriös oder demokratisch zu wirken. Der Tanker Deutschland steuert auf die Idiokratie zu und die Berliner Masse brüllt wieder: Hurra! Wir schaffen das! Wir sind mehr!" (Weiter hier.)


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Pikant ist die Demo vor dem Hintergrund der immer breiteren Blutspur, die von willkommenskulturell Fellationierten durch dieses Land gezogen wird (aktuell hier oder hier oder hier). Frühere Gesellschaften opferten ihre Söhne und Töchter den Göttern, um sie gnädig zu stimmen; heutige westliche Gesellschaften opfern ihre Söhne und vor allem Töchter auf dem Altar der Willkommenskultur, um dem Zeitgeist zu dienen und den Zorn der Fremden zu stillen, wie unter anderem die Eltern von Maria Ladenburger gezeigt haben. Frühere Opferpraktiken waren entsetzlich rückschrittlich, und es gab weder RTL noch Pro7 für die symbolische Ersatzhandlung, heute sollte man einen Preis für das fortschrittlichste Menschenopfer ausloben. Den "Familie-***-Preis für integratives Märtyrertum" zum Beispiel, gestiftet vom Zentralinstitut für Teilhabe an der Akademie für kritische Weißseinsforschung (das reaktionäre Schreibprogramm schlägt "Weißweinforschung" vor). Dazu gibt es die Sawsan-Chebli-Ehren(mord)nadel oder die Göring-Eckardt-Medaille für tolerantes Verdrängtwerden.

So, und jetzat geh i wähl'n.    MK am 14. Oktober 2018


Nahles mit Arafat