Stationen

Donnerstag, 15. November 2018

Das Ende des gesunden Menschenverstandes (im gesamten Westen)

Seit fünfzig Jahren straft uns ein zorniger Gott, indem er die Wünsche der 68er erfüllt. Mit dem berühmten Marsch durch die Institutionen begann damals eine Kulturrevolution, die sich im Lauf der Jahre nicht etwa abgeschwächt, sondern sogar dramatisch verschärft hat. Über „n-Geschlechter“ und „Transgender“ hätte Rudi Dutschke noch den Kopf geschüttelt – heute sind sie regierungsoffizielle Grundbegriffe. Und seither steht der gesunde Menschenverstand auf verlorenem Posten. Es gibt nichts Selbstverständliches mehr.

Man könnte das als Verlust der Normalität bezeichnen. In allen Lebensbereichen sind die traditionellen Standards fragwürdig geworden. Man denke nur an die faktische Unmöglichkeit, in der Schule einen Lektürekanon durchzusetzen. Goethes Faust, Brechts Maßnahme oder ein Comic Strip – alles ist gleichermaßen möglich. Dass ein Sonett von Shakespeare wertvoller sein könnte als ein Song von John Lennon, leuchtet heute kaum mehr jemandem ein. Und das passt durchaus ins Bild der westlichen Kulturentwicklung: Erst, nämlich in der Moderne, werden die Standards abgesenkt und dann, nämlich in der Postmoderne, werden sie ganz aufgegeben.

So leben wir heute in einer geistlosen Konjunktion von Relativismus und Universalismus. Der Relativismus behauptet, dass alle Kulturen gleich viel wert sind. Und der Universalismus präsentiert sich als ein unpolitischer Humanitarismus, für den es nur noch Menschen gibt – ohne weitere Bestimmung.

Die Normalität wird abgeschafft

Die Universitäten, deren Geisteswissenschaften schon immer Brutstätten der Realitätsfremdheit waren, spielen in dieser Dynamik des Normalitätsschwunds eine Schlüsselrolle. Natürlich gibt es auch heute noch viele Geisteswissenschaftler, die in ihrem Fach Hervorragendes leisten. Aber sie sind von zwei Seiten bedroht.

Da gibt es zum einen die Gefälligkeitswissenschaftler, die den Studenten politisch korrektes Denken beibringen und genau die „Gutachten“ produzieren, die die Regierung braucht. Und da gibt es zum anderen die Zauberer und Magier, die vollkommen neue Wesenheiten erfinden. Solche Voodoo-Science entsteht, wenn man vorwissenschaftliches Wissen, das kein normaler Mensch bezweifelt, „wissenschaftlich“ in Zweifel zieht – z.B. dass es einen natürlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt.
Doch wie soll man ohne Normalität leben? Sollen wir alles immer wieder neu aushandeln? Diese Politik der Verständigung um jeden Preis verdrängt die Frage nach dem Richtigen. Gerade die regierungsoffizielle Kultur der sogenannten Diversity sieht keine Unterschiede mehr. Mit ihrem Diskriminierungsverbot tabuisiert sie die Unterscheidung von normal und pathologisch. Dadurch wird die Neurose zum Identitätsentwurf aufgewertet.

Der Neurotiker klammert sich an seine Angst und wird darin von den Warnern und Mahnern in den Medien bestätigt. Das einschlägige Stichwort lautet hier: Identitätspolitik. Im Klartext bedeutet das, dass Hysteriker nicht mehr psychoanalytisch behandelt, sondern politisch geadelt werden. So verlangt jeder Wahn heute Respekt.
Schlechte Zeiten für Leute mit gesundem Menschenverstand.
Norbert W. Bolz, Prof. emeritus für Medienwissenschaft und Kommunikationstheorie, hat sich einen Namen als Kritiker der political correctness gemacht. Dieser Beitrag erschien zuerst in der Würzburger Tagespost.