Stationen

Freitag, 14. Dezember 2018

Delikt im Konjunktiv

Es gibt eine neue mediale Wendung für Angriffe auf Personen, die ersatzweise dann greift, wenn der jeweiligen Person keine Vorwürfe zu machen sind. Beziehungsweise, wie es in diesem Neusprech heißt, keine direkten Vorwürfe. Oder wenn Recht verweigert wird. Ganz allgemein: wenn Moral Rechtsnormen ersetzen soll.
Wegen seiner Abschiedsrede am 18. Oktober 2018 durfte der langjährige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen nicht wie vorgesehen ins Bundesinnenministerium wechseln, sondern wurde von Horst Seehofer in den einstweiligen Ruhestand versetzt. In der Rede, um die es geht, hatte Maaßen gesagt, es habe eine Kampagne gegen ihn gegeben; Medien und linke Politiker, die von „Hetzjagden“ in Chemnitz geschrieben, gesendet und geredet hatten, hätten sich „ertappt“ gefühlt, als er, Maaßen, darauf hingewiesen habe, dass für die Hetzjagd-Behauptungen jeder Beleg fehlte. Wegen dieser und anderer Aussagen in seiner letzten Rede forderten Politiker ein Disziplinarverfahren gegen ihn. Vor wenigen Tagen teilte das Bundesinnenministerium mit, es werde kein Disziplinarverfahren gegen den ehemaligen Präsidenten geben, es gebe keine Anhaltspunkte, dass ihm dienstrechtlich etwas vorzuwerfen sei.
Genau so hätten es die Medien auch melden können. Taten sie aber nicht. Stattdessen hieß es etwa bei Spiegel Online, im Handelsblatt und anderswo: „Maaßen entgeht Disziplinarverfahren wegen umstrittener Abschiedsrede.“ Entgeht – das suggeriert, er habe sich dem Verfahren irgendwie entzogen, oder sein Dienstherr habe eine eigentlich nicht gerechtfertigte Gnade walten lassen.

Noch besser ist: Entging einem Disziplinarverfahren wegen seiner Rede. Die Verknüpfung wegen hätte nur Sinn ergeben, wenn ein Verfahren eröffnet worden wäre. Wenn kein Verfahren stattfindet, gibt es auch keinen Verstoß, es sei denn, Medien und generell Ankläger führen gerade das Delikt im Konjunktiv ein. Darum scheint es gerade zu gehen. Von den Überschriften bleibt die Suggestion übrig: Maaßen hätte wegen seiner Rede eigentlich bestraft gehört, konnte aber gerade noch entwischen.
Noch eine Umdrehung perfider handhabt die ehemalige Beauftragte für die Stasi-Unterlagen Marianne Birthler diese Technik. Birthler wurde von dem Stiftungsrat der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen als so genannte Vertrauensperson eingesetzt, offenbar, um die Entlassung des früheren Gedenkstätten-Direktors Hubertus Knabe mit einem eilig geschriebenen Gutachten zu flankieren. Birthler ist Knabe noch aus früheren Zeiten in Abneigung verbunden. Die Vorwürfe gegen Knabe bestehen in der vagen Behauptung, er habe sexuelle Belästigungen in der Gedenkstätte geduldet. In einem – journalistisch tadellos geführten – Spiegel-Interview (Spiegel 50/2018) sagte Birthler:
„Gegen Herrn Knabe gab es keinen direkten Vorwurf sexueller Belästigung, das stimmt“.



 
Nun gilt in einem Rechtsstaat das Prinzip: entweder gibt es Vorwürfe, oder es gibt sie nicht. Wenn es sie gibt, sind sie per Definition direkt. Birthler bekräftigt in dem Interview ihr nicht direkt, indem sie suggeriert, Knabe habe sexuelle Grenzüberschreitungen seines ehemaligen Stellvertreters „geduldet“, ohne diesen Vorwurf näher zu begründen. Tatsächlich hatte Knabe diesen Stellvertreter wegen der Vorwürfe beurlaubt. Bis jetzt gibt es allerdings keine Anklage gegen ihn, natürlich auch kein Urteil. Geklärt ist noch nicht einmal, ob die Vorwürfe gegen Knabes Stellvertreter überhaupt die juristische Relevanzschwelle überschritten hatten. In der Gedenkstätten-Affäre spielt sich also der bisher präzedenzlose Fall ab, dass ein Direktor wegen unbewiesener Vorwürfe gegen seinen Untergebenen gefeuert wurde, und das, obwohl er Schritte gegen diesen Untergebenen unternommen hatte. Das alles erwähnt Birthler nicht. Stattdessen bringt sie den Namen Knabe und die Formulierung „Vorwurf sexueller Belästigung“ in einem Satz unter, garniert mit nicht direkt, also irgendwie doch.
Gegen Birthler gibt es übrigens nicht direkt Vorwürfe der Geldunterschlagung in ihrem ehemaligen Amt. Deshalb entging sie auch einem Strafverfahren.
Eine Rhetorik, die bisher geltende Standards beiseiteschiebt oder vielmehr zersetzt, blüht auch auf einem anderen Gebiet, das mit Recht zu tun hat. Am Donnerstag dieser Woche ließen die Mehrheitsfraktionen im Bundestag die AfD-Abgeordnete Mariana Harder-Kühnel zum zweiten Mal der Wahl zur stellvertretenden Bundestagspräsidentin durchfallen. Vorher hatte eine Mehrheit der Abgeordneten schon den AfD-Kandidaten Albrecht Glaser dreimal scheitern lassen. Gegen ihn hatte es von den anderen Fraktionen Vorwürfe wegen dessen Äußerungen zum Islam gegeben. Gegen Harder-Kühnel, die zum gemäßigten AfD-Flügel zählt, äußerte bisher niemand einen konkreten Vorbehalt. Trotzdem verweigerte ihr eine Mehrheit den Posten.
Die rechtliche Lage ist eindeutig: jeder Fraktion steht ein Posten des stellvertretenden Parlamentspräsidenten beziehungsweise der –Präsidentin zu. Schon nach dem ersten Wahlgang Harder-Kühnels wählte eine ganze Reihe von Medien trotzdem eine bemerkenswerte Formulierung: der Posten stehe der AfD „eigentlich“ zu. Das kleine Wörtchen, das sich dazwischenschiebt, suggeriert, es gebe zwar einen Anspruch der AfD auf den Posten, aber eben nur eigentlich. Man könne die Sache auch anders sehen. Wie, das schrieb die taz:
„Die Wahl einer AfD-Politikerin könnte als Anerkennung der Rechtspopulisten als ganz normale demokratische Partei missverstanden werden. Das ist ein Problem.“
Jemand, gegen den nichts vorliegt, entgeht einem Verfahren, jemand, gegen den es keine Belästigungsvorwürfe gibt, ist eben nur nicht mit direkten Vorwürfen konfrontiert, ein Recht besteht, wenn es um eine bestimmte Fraktion geht, nur eigentlich, und nicht seine Verweigerung, sondern seine Erfüllung stellt ein Problem dar. Jedenfalls dann, wenn es um ganz bestimmte Personen und um diese eine Fraktion geht.
Dass die Parlamentsmehrheit einer Fraktion auch nach mehr als einem Viertel der Legislaturperiode den Weg zu einem ihr zustehenden herausragenden Posten versperrt, ist offene Rechtsbeugung. Der Begriff kommt allerdings in praktisch keinem Kommentar und keinem Bericht der meisten Medien vor.
Diese Wendung muss man sich schließlich aufsparen für den Fall, dass in Ungarn oder Polen etwas Ähnliches passiert.    Wendt


In Deutschland herrschen die Halunken.

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