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Mittwoch, 19. Dezember 2018

Wochenrückblick im Zug

Wer als Kunde der Deutschen Bahn im Bordrestaurant ein Essen verzehrt, bekommt grundsätzlich die Chance, bei der Nahrungsaufnahme auch etwas Gutes zu tun. In der Speisekarte findet sich jedenfalls der Hinweis: „Mit jedem bestellten Gericht gehen 10 Cent an den Bergwaldprojekt e. V.“.Bei der vorletzten Fahrt des Wochenrückblickschreibers erledigte sich allerdings die Frage, wo denn die begünstigten Bergwälder liegen, denn wegen des populären Bahn-Features heute reduziertes Speiseangebot gab es kein einziges 10-Cent-Zuschlagsgericht.
Bei der Bahn handelt es sich grundsätzlich um ein gutes Unternehmen. In der ersten Klasse – aber nur dort – fährt der Reisende mit Ökostrom. (Fragen Sie mich nicht a) nach den Details und b) danach, womit der Reisende im klassenlosen Bordrestaurant durch die Gegend spediert wird). Denn das ist glasklar ein Adiaphoron, theologisch eine sittliche oder kultische Angelegenheit, die in Bezug auf Heil oder Rechtgläubigkeit unerheblich ist. Ganz im Gegensatz zu einem Imagefilm, den die Bahn vor einiger Zeit in Auftrag gab; dort ist ein milchbrötchenhafter biodeutscher Medizinstudent zu sehen, der angeblich für die morgen stattfindende Prüfung lernt, sich aber in seinem Selbstgespräch so anhört, als würde er zum ersten Mal in ein Medizinlehrbuch schauen, worauf ihm eine patente bekopftuchte Muslima auf die Sprünge hilft, die schon weiß, wo Gott den nucleus accumbens gelassen hat.
In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass die Pünktlichkeitsquote der Bahn im November auf 70 Prozent gefallen ist (was bedeutet, dass 70 Prozent der Züge nur unerheblich später ankommen). Von der ICE-Flotte sind 20 Prozent der Züge komplett funktionstüchtig, es gibt sie damit nur unwesentlich häufiger als alleinreisende verschleierte Medizinstudentinnen. Ebenso viele Züge, ein Fünftel, stehen kaputt in Depots. Mit anderen Worten, die Bahn nähert sich der Bundeswehr an. Daher das Feature reduziertes Waggonangebot. Immer öfter fehlen Wagen, manchmal auch der halbe ICE.
Als mittelfunktionstüchtig gelten ICEs, bei denen es beispielsweise Schäden in der Bordküche gibt. Im Sommer sagte mir ein Bistroangestellter, die Kühlung in der Küche funktioniere nicht, daher das sehr reduzierte Speiseangebot. Er winkte mich in den eigentlich nur für Personal zugänglichen Bereich; dort stand tatsächlich ein Eimerchen, das aus der Deckenverschalung tropfendes Wasser auffing. Kürzlich fuhr ein ICE, in dem ich leider von Berlin nach München musste, eine 120-Minuten-Umleitung. Auf der Nebenstrecke merkt der Reisende erst, wie es dort um die Gleise steht – der Zug ächzte und schlingerte wie ein Kahn im Sturm – und wie sich ein Mobilfunknetz jenseits der großen Trassen auf dem Telefondisplay in Gestalt huschender kleiner Signalbalken zwischen den Funkwüsten bemerkbar macht. Deshalb kostete es extra viel Zeit, per Google ein, zwei muslimische Twitterer zu suchen, die sich über den Anschlag in Straßburg ungefähr so intensiv aufregten wie andere kürzlich über die Blutwurst auf dem Büffet der deutschen Islamkonferenz, die dort provozierend neben zwölf anderen Häppchensorten herumlagen.
Weitere Bahnfeatures sind drei in einer Reihe gesperrte WCs, der so genannte Blasenhattrick; der gewitzte Vielfahrer bricht beizeiten auf, denn vor der nächsten funktionierenden Toilette staut sich schon eine Wartegemeinschaft, die höchst albern von einem Bein aufs andere hampelt, als ob das was nützen würde. Nach zehn Sekunden hampelt man mit. Jetzt bloß nicht an die tropfende Decke in der Küche resp. Regenwald denken. Quatsch, es war ja Bergwald.
Der Verkehrsstaatssekretär Enak Ferlemann sagte in der vergangenen Woche, so könne es nicht weitergehen. Er forderte eine Organisationsreform der Bahn AG. Wahrscheinlich wird sie einfach mit der Bundeswehr zusammengelegt.

Man sollte mit Gleichnissen vorsichtig sein – aber ein bisschen spricht ein staatliches Beförderungsunternehmen doch für ein Land. Der Rückblickschreiber war vor einiger Zeit mit der Schweizer beziehungsweise der tschechischen Bahn unterwegs. Die Züge fuhren einigermaßen pünktlich, die WCs funktionierten, auf der umfangreichen Speisekarte war alles zu haben, so weit, so populistisch. Sie machen es sich, um mit der Kanzlerin zu sprechen, zu einfach. Virtue signalling funktioniert vielmehr als unique selling point einer Firma und eines Landes, jedenfalls dann, wenn sonst ziemlich viel kaputt ist.
In der verzischten Woche lehnte eine Waldorfschule in der teilfunktionierenden Stadt Berlin die Aufnahme des Kindes eines AfD-Politikers mit der Begründung ab, es könnte anderenfalls Konflikte geben. Im November hatte die Deutsche Bank das Konto des AfD-Politikers Nicolaus Fest gekündigt. Die Golden Bar im Münchner Haus der Kunst zeigte Haltung und weigerte sich, die stellvertretende AfD-Landtagsfraktionsvorsitzende Katrin Ebner-Steiner zu bedienen, die dort dreist essen wollte. Vor ein paar Tagen rief der FDP-Politiker Hans-Ulrich Rülke im Stuttgarter Landtag in Richtung AfD und insbesondere des Abgeordneten Stefan Räpple: „Die geistigen Vorläufer von Leuten wie Herrn Räpple sind im Stechschritt durch das Brandenburger Tor marschiert.”
Bei der Debatte, in der er das feststellte, ging es übrigens um die so genannte Kindergartenbroschüre von Anetta Kahanes Amadeu-Antonio-Stiftung, versehen mit einem Vorwort der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, die Erzieherinnen unter anderem dazu anleiten soll, an der Haartracht von Mädchen (Zöpfe) die politische Gesinnung der Eltern abzulesen.
Die letzten, die Unter den Linden in Berlin mit Stechschritt marschierten, waren allerdings nicht die Nazis und auch nicht Monty Python, sondern die Soldaten der NVA-Wachkompanie, die zum großen Wachaufzug unter den Linden mit Schellenbaum und Stiefeltritt paradierten – ­ während Anetta Kahane sich irgendwo in der Nähe mit ihrem Stasi-Führungsoffizier traf – um mit Tschingdirassabum die Opfer von Faschismus und Militarismus zu ehren. Es hieß seinerzeit bei dem Wachaufzug tatsächlich: „Zur Ehrung der Opfer des Faschismus und Militarismus – präsentiert das Gwehr.“
Militarismusopfer mit Stechschritt zu gedenken, das ist ungefähr so, wie im Kampf für Vielfalt und Humanismus bestimmten Kindern den Privatschulbesuch zu verweigern oder bestimmte Leute im Restaurant nicht zu bedienen. Insofern – nicht nur, was die Qualität der Deutschen Reichsbahn angeht – war die DDR weit voraus.
Aber zurück zu dem Stuttgarter FDP-Mann: Die Figur des geistigen Vorläufers ist ausbaubar. Am besten in Form eines Geistesahnenpasses. Die meisten würden dort wahrscheinlich unter geistige Urgroßeltern eintragen: Hans und Sophie Scholl. Natürlich nicht jeder, sondern nur diejenigen, deren Lebensführung dazu berechtigt.
Es heißt zwar immer, Tugend benötige keine Belohnung, sie habe ihren Lohn in sich selbst. Aber es braucht auch Pragmatismus, auch und gerade in einem guten Land.
Ich finde, wer den Doppelschollpass trägt, der sollte in der Schlange vor der funktionierenden Bordtoilette des ICE Anne Frank eins vorrücken dürfen.    Wendt

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