Eigentlich müssten wir uns freuen. Europa ist in aller Munde. Kaum ein
Tag vergeht, an dem nicht Schlagzeilen über Europa die Titel zieren.
Die Sonntagsausgaben der Zeitungen bringen Sonderausgaben. Die
überregionalen Tageszeitungen haben in den letzten Wochen und Monaten
dem Thema Europa dicke Beilagen gewidmet. Die Montagsmagazine überbieten
sich in Untergangsszenarien für die europäische Währung mit düsteren
Bildern für die Zukunft Europas. Europa Sonderausgaben des Parlaments
erscheinen in immer kürzeren periodischen Abständen.
"Wir
brauchen endlich direkte Demokratie", fordert der Vizepräsident des
Bundesverfassungsgerichts, "weil sie sich weit von ihrer Bevölkerung und
ihrer Heimatregion entfernt hat". Danach musste selbstverständlich der
Präsident des Bundesverfassungsgerichts seine Sorge über die Demokratie
in Europa äußern: "Es wäre tragisch und geradezu fatal, wenn wir auf dem
Weg zur Rettung des Euro und zu mehr Integration die Demokratie
verlieren".
Ausflucht in die Expertokratie
Er
kommt immerhin zu dem Ergebnis, dass Plebiszite nicht demokratischer
sein müssen als die repräsentative Demokratie. Sie reduzieren die
Bewältigung komplexer politischer Herausforderungen auf singuläre
Ja-/Nein-Entscheidungen, für deren politische Anschlussfähigkeit und
Umsetzung andere verantwortlich sind. In Bayern sind haushaltsrelevante
politische Entscheidungen vom Volksentscheid ausgeschlossen. Das muss
auch für eventuelle Volksentscheide auf Bundes- und Europaebene gelten.
Ein Referendum über einen europäischen Rettungsring oder Währungsfragen
ist nicht realistisch, zumal es in der aktuellen Diskussion keine
verfassungsrechtliche Grundlage besitzt.
Dessen
ungeachtet ist ein vertieftes Nachdenken über ein europäisches
Referendum bei der Übertragung von Hoheitsakten oder der Schaffung einer
europäischen Verfassung durchaus sinnvoll. Im Übrigen warnt der
Bundesverfassungsgerichtspräsident vor der Ausflucht in die
Expertokratie. Die Entwicklung des supranationalen
Legitimationszusammenhangs bedeute nicht, dass die parlamentarische, auf
den Nationalstaat bezogene Demokratie überholt wäre.
Bis auf
Weiteres hängt die demokratische Legitimation der europäischen
Hoheitsgewalt in ganz zentraler Weise von den nationalen Demokratien ab.
Er warnt vor europäischen Staatskommissaren und europäischen
Wirtschaftsregierungen mit weitreichenden Kompetenzen in Bezug auf
nationale Haushalte. Der frühere Bundesverfassungsrichter und
Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU Professor Dr. Hans Hugo Klein fürchtet
die Metamorphose der Demokratie.
Ratlosigkeit als Nährboden
Eine
nahtlose Übertragung des für die Mitgliedstaaten verbindlichen Modells
der repräsentativen Demokratie auf die EU vertrage sich nicht mit deren
förderativer Struktur. Der Übertragung von Zuständigkeiten auf die EU
seien Grenzen gesetzt. Die nationalen Parlamente müßten sich vermehrt
auf eine Kontrolle der aussenpolitischen Aktivitäten ihrer Regierungen
konzentrieren. In Zeiten des Umbruchs bedürfe es in besonderem Maße der
politischen Führung. Diesen Anforderungen zeigten sich die Parteien
derzeit nicht gewachsen. Es herrsche Ratlosigkeit und so entstehe der
Nährboden, aus dem Bewegungen "erwachsen".
Arnulf
Baring bemerkt im Focus: "Dieser Euro war keine gute Idee, Deutschland
wird den Euro verlassen müssen". Kurz danach lesen wir in der Welt am
Sonntag: "Zehn Gründe, warum der Euro ein Fehler war". Wenige Tage
danach glaubt Werner Abelshauser in der FAZ, es reiche ein möglichst
umfassendes europäisches Währungssystem mit festen Wechselkursen. Er
lässt außer Acht, dass dieses europäische Währungssystem von 1979 bis in
die 90er Jahre hinein über zwanzig mal Realignments erlitt und in den
Krisen der letzten zehn Jahre zerborsten wäre. Hans Ulrich Wehler
wiederholt am gleichen Tag in der Süddeutschen Zeitung die falsche
Behauptung, die Einführung des Euro sei der Preis für die Einheit
Deutschlands gewesen.
Zurück zur Demokratie
Helmut
Kohl, Hans Dietrich Genscher und ich selbst können belegen, dass dies
nicht so war. Niemand von uns hätte im Jahr 1990 zusagen können, dass
ein Deutscher Bundestag und der Deutsche Bundesrat im Jahre 1998 mit
2/3-Mehrheit den Weg für eine gemeinsame europäische Währung und die
Teilnahme der europäischen Länder beschließen wird. Zuvor schon hatte
Werner Plumpe in der FAZ die These vertreten, zerfallende
Währungsunionen seien historisch keine ökonomische Katastrophen. Der
Euro sei nicht unser Schicksal. Dirk Schümer wiederum bringt in der FAZ
zum Ausdruck, die EU sei zum Dämon geworden, wir müssten wieder
zurückkehren zur Nation - zurück zur Demokratie. Natürlich darf bei
dieser Gelegenheit der "Spiegel" nicht fehlen, der der europäischen
Währung ein vielseitiges Requiem gewidmet hat. Nachdem allerdings der
Euro nicht auseinanderfiel, musste wieder ein anderer Titel herhalten,
nämlich "Europa, Weltmacht der Werte".
Da ist man schon froh, wenn der
Herausgeber in der "Welt am Sonntag" folgert, dass aus der Krise ein neuer Aufschwung in Europa entstehen könne
, allerdings ein vielgliedriges Europa, nicht ein karolingisches.
Timothy Ash fordert mehr Führungsstärke in Europa. Er wirft den
Kritikern vor, die Freiheit der Opposition von jeder Verantwortung zu
genießen.
Die Europäische Union, das unverdiente Paradies
Zu einer nie erwarteten Hommage an
Helmut Kohl
wird der Artikel von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom
2./3.7.2011: "Ich hätte nie geglaubt, dass mir Helmut Kohl so fehlen
wird". Er fehlt in der Euro- und Griechenlandkrise; er fehlt, wenn Dänen
und Italiener ihre Grenzen wieder dicht machen; er fehlt, wenn die
Regierungschefs der EU auf einmal wieder im Nationaltrikot in Brüssel
einlaufen ---- Kohl verstand viel von den Nationen, den Menschen und von
ihrem Stolz - --- und Prantl fährt fort: "Europa ist das Beste, was den
Deutschen, Franzosen und Italienern, den Tschechen und Dänen, den Polen
und Spaniern, den Niederländern und Griechen, Bayern und Balten,
Vallonen und Württembergern, Schotten und Sizilianern, den Basken wie
den Badensern in ihrer Geschichte passiert ist.
Die
Europäische Union
ist das Ende eines fast 1000-jährigen Krieges, den fast alle gegen fast
alle geführt haben. Sie ist ein unverdientes Paradies für die Menschen
eines ganzen Kontinents. EU ist das Kürzel für das goldene Zeitalter der
europäischen Historie." Er verweist darauf, dass diese EU nicht nur
Nutzgemeinschaft für die Wirtschaft, sondern auch Schutzgemeinschaft für
die Bürger sein müsse. Europa brauche das Vertrauen seiner Bürger. Der
Sozialstaat sei Heimat und er müsse es bleiben. Europa braucht nicht nur
den Euro, es braucht das Vertrauen der Menschen. Helmut Schmidt hat in
diesem Kontext den Mut zu schreiben: "Ohne den Euro ist alles nichts.
Wer in dieser Lage lediglich taktiere und finanziere, der gar jedwedes
Auseinanderfallen des Euroverbundes öffentlich diskutiere, dem fehle
jede Weitsicht. Auf lange Sicht trage Deutschland einen hohen Anteil an
der Verantwortung dafür, dass die europäischen Staaten zu einem
ökonomisch handlungsfähigen Verband zusammenwachsen."
Je älter
die Kommentatoren sind, je kritischer und bitterer ihre Kommentare. Im
Hinblick auf Griechenland, das nicht nur nach der Meinung von Peter Graf
Kielmannsegg nie in die Währungsunion hätte aufgenommen werden dürfen,
wird das Empfängerland zu einer Art von Protektorat der Europäischen
Union herabgestuft. Wut auf die Europäische Union im Allgemeinen und auf
die Geberländer im Besonderen wird sich aufstauen, nicht etwa
Dankbarkeit wachsen." Sarkastisch fragt er: "Ist nicht das europäische
Projekt auf eine Skepsis angewiesen, wenn es denn langfristig
erfolgreich sein soll?"
Chor der primitiven Wut auf Deutschland
Europa
schafft sich ab, konstatiert Dirk Schümer. Es handele sich
zwischenzeitlich um bloße Notstandsverwaltung, verbunden mit der
Implosion des so fragilen Unterfangens namens Demokratie. EU-Kommission
und Zentralbank würden eine Rolle übernehmen, wie sie in China das
Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ausfülle. Auch frühere
italienische Ministerpräsidenten wie Giuliano Amato und Romano Prodi
reihen sich in diesen Chor der primitiven Wut auf Deutschland ein. Amato
versteigt sich zu der Formulierung: "Die Kanzlerin mache mit den neuen
Verträgen aus Europa einen Frankenstein" und der Chefredakteur der
Berlusconi-Zeitung "Il Giornale" schreibt: "Die Kanonen donnern nicht
mehr, aber die Waffe der Währung ist nicht weniger gefährlich".
Natürlich fehlt es nicht an heilsamen Ermahnungen anerkannter und
geschätzter Währungsexperten.
So zitiert Professor Ottmar Issing
Martin Feldstein, einen der schärfsten Kritiker der Währungsunion.
Dieser meint, der Euro habe Spannungen und Konflikte innerhalb Europas
geschaffen, die es andernfalls nicht gegeben hätte.
Darin liege
nach Issings Meinung mehr als ein Körnchen Wahrheit. Immmerhin stellt
Issing anschließend die Frage, was geschehen wäre, wenn es den Euro
nicht gegeben hätte. Der einheitliche Binnenmarkt wäre mit hoher
Wahrscheinlichkeit auf der Strecke geblieben. Ich stelle mir aber schon
die Frage, warum Europäische Kommission, deutsche Bundesregierung und
auch die EZB die Bedingungen für die Aufnahme Griechenlands in die
Wirtschafts- und Währungsunion nicht stärker überprüft haben. Immerhin
fand dies im Frühjahr 1998 durch die Deutsche Bundesbank im Hinblick auf
den Beitritt von Belgien und Italien in einer eingehenden Untersuchung
statt.
Als wir von Gläubigern profitierten
Nur
selten finden Artikel das Licht der Öffentlichkeit, die daran erinnern,
dass die Bundesrepublik Deutschland auch einmal von der Großzügigkeit
ihrer Gläubiger profitierte. Die Vor- wie Nachkriegsforderungen an die
Bundesrepublik Deutschland konnte Adenauer im April 1953 aufgrund des
Londoner Schuldenabkommens von Hermann Josef Abs auf 14 Milliarden DM
reduzieren. Es ging um knapp 30 Milliarden DM Auslandsschulden der
Vorkriegszeit und der Wiederaufbauhilfe der Alliierten seit 1945.
Angesichts eines Bundeshaushalts von knapp 24 Milliarden DM im Jahr 1952
war dies kein Pappenstiel.
Mein
Allgäuer Landsmann Hans Magnus Enzensberger schildert in seinem Exposé
"Sanftes Monster Brüssel" oder "Die Entmündigung Europas" auf den Seiten
7-9 die unglaublichen Wohltaten und Erfolge Europas und das unsagbare
Positivum, dass ein ganzes Menschenalter ohne Krieg stattgefunden habe.
Dann geht er aber mehr als 30 Seiten auf alle kleinen und größeren
Fehler der Europäischen Union ein, geißelt die Hybris der Uniformierung
und fordert Widerspruch gegen die Bananendemokratie. "Es kommt nicht
darauf an, die Welt zu verändern, sondern sie zu verschonen" zitiert er
Otto Marquardt.
Käse, Kondome, Kruzifixe
–
es gibt nichts, was Brüssel in seiner Kompetenzgier nicht regeln will.
Was die Länder unverwechselbar macht, geht so verloren und auch der
Glaube an den Sinn von Europa. Leidenschaftlich hingegen setzt sich
Jürgen Habermas für die Gemeinschaft ein. Er warnt vor einem
demoskopiegeleiteten Oppertunismus. In dem Maße, wie die Politik ihr
gesamtes Handeln von der Konkordanz mit Stimmungslagen abhängig macht,
denen sie von Wahltermin zu Wahltermin hinterher hechelt, verliert das
demokratische Verfahren seinen Sinn. Habermas verlangt Kraft und
Motivation von unten aus der Zivilgesellschaft. Die Bürger spüren, dass
ihnen eine normativ entkernte Politik etwas vorenthält.
Für die
eine oder die andere politische Partei könnte es sich doch lohnen, die
Ärmel hochzukrempeln, um offensiv auf den Marktplätzen für die
europäische Einigung zu kämpfen. Das schrieb er in der Süddeutschen
Zeitung vom 7.4.2011, um am 5.11.2011 in der FAZ die Krise als Chance zu
begreifen. Die Konzentration der Macht in einem intergouvernementalen
Ausschuss der Regierungschef zu sehen, sei der falsche Weg. Die
überfällige Kontroverse über Notwendigkeit und Nutzen eines europäischen
Bundesstaates müsse in der breiten Öffentlichkeit ausgetragen werden.
Nur
Wenige haben den Mut und die Größe wie der Literaturnobelpreisträger
Mario Vargas-Llosa auf die Frage: "Welches politische Projekt würden Sie
beschleunigt wissen wollen" zu antworten: "Den Aufbau eines einigen
Europa, die einzige Utopie, die praktikabel und erreichbar ist".
Mangel an ökonomischer Expertise
In
der politischen Diskussion und der öffentlichen Debatte fehlen die
ökonomischen Expertisen über Vorteile und Gewinne durch die Wirtschafts-
und Währungsunion. Es dominieren die Risiken durch willkürlich addierte
Garantiehöhen und Targetsalden, die dann in ihrer Gesamtgrößenordnung
als drohendes Untergangsszenario bewertet werden. Da ist es schon ein
Lichtblick, wenn
in der "Welt" vom 10. Januar eine Studie von McKinsey breit erörtert wird
, wonach durch den Euro alle Mitglieder der Währungsunion gewinnen und
die Währung über 300 Milliarden Euro Wachstum im Jahr generiere.
Die
Hälfte dieses Gewinns entfalle auf Deutschland und der positive Effekt
für die deutsche Wirtschaft betrage stolze 165 Milliarden Euro oder 6,4 %
des BIP. Eine ähnliche Rechnung macht die Allianz auf, wie dies deren
Chefvolkswirt Professor Heise im Münchener Merkur vom 28./29.1 dieses
Jahres herausarbeitet. Eine ähnliche Studie gibt es von der
Kreditanstalt für Wiederaufbau. Sie werden in der Öffentlichkeit kaum
wahrgenommen, es dominieren die Negativberichte und die
Krisenüberschriften.
Wenn Organisationen wie das Zentralkomitee
der Deutschen Katholiken, der BDI, der DIHT die Handwerkskammern oder
der Deutsche Bauernverbund positve Erklärungen zur gemeinsamen Währung
abgeben, werden sie meist durch Einzelerklärungen kleinerer
Gruppierungen oder Einzelpersonen konterkariert. In dieser Melange und
Mixtur gedeihen Angst, Sorgen, Widerstand und Wut. Es wird daher hohe
Zeit, sich mit Europa wieder grundsätzlich auseinanderzusetzen, die
tragende Idee dieses großen Projekts darzustellen und
weiterzuentwickeln.
"Was hält Europa zusammen?"
- Am 25. März 1957 wurden die Römischen Verträge unterzeichnet;
-
es war der Startschuss für eine bislang historisch einmalige
Entwicklung hin zu einem Staatenbund, also einer Union unabhängiger
Nationalstaaten;
- heute können wir auf eine 55jährige Geschichte des europäischen Projekts zurückblicken;
- es stellt sich zwangsläufig die Frage, was das Ganze zusammenhält?
Die Frage nach der Identität
- Nachzudenken darüber, was das Ganze zusammenhält, bedeutet die Frage nach der Identität zu stellen;
- unter nationaler Identität wird gewöhnlich jenes Band bezeichnet, das die Staatsbürger verbindet;
-
heute wird die nationale Identität zurückgeführt auf das Band, das sich
durch die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Geschichte und die
gemeinsame Kultur ergibt;
- ein weiteres Element kommt hinzu – die Liebe zum Vaterland, die beim Einen mehr, beim Anderen weniger stark ausgeprägt ist;
-
"Patriotismus" – so treffend Lew Kopelew – "die Liebe zu seiner Heimat,
zu seiner Sprache, zu seiner Geschichte – bedeutet eine lebhafte ebenso
emotionale wie bewusste Verbundenheit mit den Menschen, die die gleiche
Sprache sprechen, das gleiche historische Schicksal teilen".
Europäische Identität?
-
Auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union ist eine so
verstandene Identität nicht oder allenfalls in Ansätzen gegeben;
-
dazu fehlt es bereits an einer europäischen Öffentlichkeit, die eine
gemeinsame politische Kultur und eine eigene Identität ausbilden könnte;
-
Jürgen Habermas schrieb hierzu: "Die Frage ist nicht, ob es eine
europäische Identität gibt, sondern ob die nationalen Arenen füreinander
so geöffnet werden können, dass sich über nationale Grenzen hinweg die
Eigendynamik einer gemeinsamen politischen Meinungs- und Willensbildung
über europäische Themen entfalten kann";
- ein Verbund autonomer Nationalstaaten vermag verständlicherweise keine supranationale Identität auszubilden;
- und dennoch ist dieser Verbund mittlerweile zu einer beispiellosen Erfolgsstory geworden.
• Seit über 60 Jahren ein Kontinent des Friedens und der Freiheit;
• ein grenzenloser Raum für Menschen, für Güter und Ideen;
• praktizierte Völkerverständigung;
• historisch einmalige Wirtschafts- und Kulturverflechtung;
• die erfolgreichste Friedens- und Demokratiebewegung der jüngeren Geschichte.
Fundamente der europäischen Einigung
- Die Europäer der ersten Stunde zogen die Lehren aus der Geschichte:
•
Will der alte Kontinent sein historisch-politisches Gewicht bewahren,
dann muss er den Weg vom Gegeneinander zum Miteinander beschreiten!
•
Dieses Bekenntnis prägte das politische Handeln von Persönlichkeiten
wie Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer.
• Winston Churchill ging so weit, die Bildung der "Vereinigten Staaten von Europa" zu fordern.
- Hinzu kam die Einsicht in die Grenzen des Nationalstaats.
• Auf sich allein gestellt kann ein Nationalstaat die äußere Sicherheit nicht garantieren;
• grenzüberschreitende Probleme nehmen drastisch zu;
• z. B. Verkehr, Umweltschutz oder Einwanderung, innere Sicherheit und Terrorismus;
• kleinere Nationalstaaten können nur überleben durch Einbindung in supranationale Gebilde.
-
Schließlich wurde die Fortentwicklung der EWG im Zuge der
Globalisierung zu einem wichtigen Pfeiler der europäischen
Zusammenarbeit.
• Globalisierung bedeutet Standortwettbewerb und erfordert die Sicherung der globalen Wettbewerbsfähigkeit einzelner Länder;
• Maastricht mit dem einheitlichen Wirtschaftsraum war eine Antwort auf die Globalisierung;
• die europäische Gemeinschaftswährung bildet das monetäre Dach dieses Wirtschaftsraums.
Der geistige Überbau der europäischen Einigung
- Europa als Wertegemeinschaft:
• Heutiges Europa zehrt vom gemeinsamen historischen Erbe;
• als Wertegemeinschaft ist Europa durch Christentum und Aufklärung geprägt;
•
Josef Isensee: "Die wirkmächtigste geistige Kraft, die das europäische
Bewusstsein … geprägt hat, ist das Christentum. In ihm leben jüdische,
römische und griechische Traditionen weiter";
• die Herausbildung der Demokratie als Herrschaftsform;
• die Entwicklung des Rechtsstaats als Grundlage einer bürgerlichen Gesellschaft;
• und die staatliche Garantie der unveräußerlichen Menschen- und Freiheitsrechte;
•
dabei besteht eine unauflösbare Interdependenz zwischen politischer,
gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Freiheit (Walter Eucken).
- Gemeinsames Erbe der europäischen Nationen ist auch das kulturelle Band:
•
Zu Europas Literatur gehören nicht nur Goethe und Schiller, sondern
auch Adalbert Stifter und Franz Grillparzer, Conrad Ferdinand Meyer und
Gottfried Keller;
• europäische Musik umfasst nicht nur Mozart und Strauß, sondern genauso Verdi, Bartok und Tschaikowsky;
• und europäische Malerei umfasst nicht nur Michelangelo und Raffael, sondern auch Picasso, Kandinsky und Turner;
• Europas Philosophie umfasst nicht nur Kant und Hegel, sondern auch Rousseau und Hume.
-
und die europäischen Nationen haben schließlich zusammen eine
wissenschaftlichtechnische Entwicklung ins Leben gerufen, die unter der
Bezeichnung "westliche Zivilisation" zum weltweiten Vorbild wurde.
Von Rom nach Lissabon
-
Am Anfang der Entwicklung standen die deutsch-französische Aussöhnung
und die Montanunion, was seinen ersten Abschluss in der Gründung der EWG
fand;
- Mittelpunkt des gemeinsamen Marktes bilden der Abbau der
Zölle, die Errichtung einer Freihandelszone und die Einführung des
gemeinsamen Agrarmarkts;
- weitere Etappen waren eine Erweiterung der Gemeinschaft und die Einsetzung eines Europäischen Parlaments;
-
unter Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing fanden die Bemühungen zur
Koordinierung der Währung einen ersten Abschluss mit dem Europäischen
Währungssystem;
- Kohl und Mitterrand stehen für die Errichtung des Binnenmarktes, der schließlich in das Vertragswerk von Maastricht mündete;
- der Euro bildet das monetäre Dach der Union und ein Moment für den weiteren Einigungsprozess;
- die Spielregeln für die Währungsunion wurden darüber hinaus vertraglich festgelegt im Stabilitätspakt;
- mit dem Vertrag von Schengen entfielen die letzten Reste von Grenzkontrollen;
- es folgten mit den Verträgen vom Amsterdam und Nizza Schritte zur Vertiefung der Union;
- 2004 folgte die große Ost-Erweiterung der Union;
- den vorläufigen Abschluss bildet der Grundlagenvertrag von Lissabon.
Europa in der Krise
- Gegenwärtig sehen viele Zeitgenossen die Europäische Union in einem krisenhaften Zustand;
-
beklagt wird die unfaire Lastenverteilung bei der Finanzierung des
EU-Haushalts, ohne dabei die jeweiligen nationalen Gewinne in Rechnung
zu stellen;
- Sorgen gelten dem drohenden Zentralismus und Bürokratismus in Brüssel;
- immer wieder wird auf eine Praxis- und Bürgerferne der Arbeit der Kommission verwiesen;
-
nationale Abgeordnete erheben den Vorwurf unklarer Entscheidungswege
und mangelnder demokratischer Legitimation von Entscheidungen auf
europäischer Ebene.
Was ist in diesem Zusammenhang passiert?
-
In den vergangenen Jahren wurden die Mitwirkungsrechte des Bundestages
und des Bundesrates an europäischen Vorhaben entscheidend verbessert;
- die Rechte des Europäischen Parlaments wurden gestärkt;
- Länder und Kommunen sind im Ausschuss der Regionen vertreten;
- das Subsidiaritätsprinzip ist vertraglich verankert.
Der Euro und die Staatsschuldenkrise
- Die Zwischenbilanz der Europäischen Währungsunion fällt positiv aus;
-
die Vorteile vom Wegfall der Transaktionskosten über die
Planungssicherheit im Außenwirtschaftsbereich bis hin zum
Zusammenwachsen der Finanzmärkte sind unbestreitbar;
- von einer Währungskrise spricht man, wenn die innere oder äußere Stabilität einer Währung in Gefahr ist;
- beim Euro ist das Gegenteil der Fall;
-
in den ersten zehn Jahren lag die durchschnittliche Inflationsrate
unter zwei Prozent, womit die innere Stabilität des Euro höher als der
entsprechende Wert zu D-Mark-Zeiten war;
- während der gesamten
Wirtschafts- und Finanzkrise wie auch seit Ausbruch der Krise in
Griechenland lag der Außenwert des Euro über seinem Einführungskurs;
- der Euro hat sich in den zurückliegenden Krisen als Anker des Weltfinanzsystems erwiesen;
-
ohne Euro wäre die D-Mark in der globalen Rezession einem erheblichen
Aufwertungsdruck ausgesetzt gewesen, eine Erholung der deutschen
Wirtschaft über steigende Exporte wäre mit Sicherheit ausgeblieben;
- was wir z.Zt. erleben, ist eine Schuldenkrise einiger Euro-Länder;
- die Schuldenkrise hat alle westlichen Industriestaaten erfasst, die einen mehr, die anderen weniger;
- auch Deutschland musste einen sprunghaften Anstieg seiner Schuldenstandsquote auf über 80 Prozent hinnehmen;
-
Dank der Schuldenbremse im Grundgesetz, der Sparmaßnahmen und der
konjunkturbedingten Mehreinnahmen ist die Defizitquote wieder
rückläufig;
- die Gründe für die Staatsschuldenkrisen liegen zum
Einen in den notwendig gewordenen Hilfen für die Bankensysteme und zum
Anderen in den kreditfinanzierten Maßnahmen zur Überwindung der
Rezession;
- Griechenland, Irland und Portugal haben darüber hinaus hausgemachte Probleme im Immobilien- und Bankensektor;
-
viele Mitglieder der Währungsunion haben gegen Geist und Buchstabe des
Stabilitätspakts verstoßen und die konjunkturell fetten Jahre nicht zur
Konsolidierung genutzt;
- die Aufweichung des Stabilitätspakts
unter Rot/Grün hatte fatale Folgen, weil vor allem kleinere
Euro-Mitglieder darin ein Signal sahen, zur bedenkenlosen
Schuldenpolitik früherer Jahre zurückzukehren;
- unbegründet ist
der Vorwurf, dem Vertragswerk von Maastricht mangle es an Bestimmungen
zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik und zur Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit;
- schon im früheren Artikel 103 des EU-Vertrags war die Koordinierung verankert, sie wurde aber in der Praxis vernachlässigt.
Europäische Solidarität
- Die Lösung von existenziellen Spannungen setzt ein Mindestmaß an Solidarität der Mitgliedstaaten voraus;
- das Festhalten an der No-Bail-Out-Klausel ist und bleibt eine entscheidende Grundlage für das Funktionieren der Währungsunion;
- weder die Gemeinschaft als Ganzes noch einzelne Staaten haften für die Schulden aller Staaten;
-
diese Klausel hindert jedoch nicht, auf freiwilliger Basis zu
Mechanismen zu gelangen, die den Krisenstaaten die Möglichkeit eröffnen,
ihre Probleme zu beheben;
- diese Solidarität muss
selbstverständlich mit Subsidiarität verknüpft werden, in dem die
Krisenstaaten mit harten Konsolidierungsmaßnahmen ihren eigenen Beitrag
zur Krisenlösung leisten müssen;
- wer die eingegangenen
Verpflichtungen im Rahmen der Griechenland-Hilfe, des Rettungsschirms
oder des sich abzeichnenden Europäischen Stabilitätsmechanismus als
unvertretbar hoch kritisiert, der muss daran erinnert werden, dass auch
die früheren Währungsordnungen nicht zum Nulltarif zu haben waren;
- das frühere EWS war nur aufrecht zu erhalten durch zeitweise massive Interventionen der Notenbanken;
-
allein zu Beginn der 90er Jahre, als der französische France unter
Beschuss geriet, musste die Bundesbank innerhalb weniger Wochen in
dreistelliger Milliardenhöhe Kredite an andere Notenbanken bereitstellen
und Interventionen auf den Devisenmärkten tätigen;
- die
Beschlüsse zu Griechenland und zum Rettungsschirm wurden gefasst, um
einen Flächenbrand auf Europas Finanzmärkten zu verhindern;
- die Europäische Währungsunion liegt im existenziellen Interesse Deutschlands;
- bei einer gesamten Exportquote von über 40 Prozent entfallen rund 50 Prozent unserer Exporte auf die Länder der Euro-Zone;
-
einschließlich der weiteren EU-Staaten, die über den
Wechselkurs-Mechanismus II an den Euro gekoppelt sind, sind es weit über
60 Prozent;
- einen Großteil unseres Wohlstands und unserer
sozialen Sicherheit verdanken wir der engen wirtschaftlichen
Verflechtung mit unseren Nachbarstaaten.
Europa als historische Chance
- Wer die Währungsunion in Frage stellt, der gefährdet die Grundlagen der gesamten europäischen Einigung;
- das Projekt Europa reicht weit über Markt und Währung hinaus;
- die Europäische Union muss als ein historisch-politisches Projekt gesehen werden;
-
das Projekt entscheidet letztlich darüber, ob die Europäer im 21.
Jahrhundert auf der Bühne der Weltpolitik als Statisten oder als aktive
Mitspieler auftreten;
- die Attraktivität dieser Gemeinschaft hat entscheidend zum Niederreißen des Eisernen Vorhangs beigetragen;
- Europa ist heute zum Modell der friedlichen Zusammenarbeit "gezähmter Nationalstaaten" (H.-P. Schwarz) geworden;
- und dieses Europa könnte auch zum Vorbild für andere Kontinente werden:
• Die Europäer müssen heute Verantwortung nach außen und Solidarität im Innern unter Beweis stellen;
• die Europäer müssen im Zeitalter der Globalisierung ein eigenes Sozialmodell entwickeln;
• die Europäer müssen an der Seite der USA den Dialog zwischen den großen Kulturen auf den Weg bringen;
• die Europäer müssen mehr denn je weltweit politische Verantwortung übernehmen.
Die tragenden Ideen für Europa und seine Zukunft
In
einer bemerkenswerten Rede hat Heinrich Oberreuter die Rolle von
Christentum, Nation und Bürgerschaft in der Europäischen Union 2006 in
Warschau beschrieben. Er verweist auf die Notwendigkeit der
Übereinstimmung von Werten, auf die schon Johannes Paul II. hingewiesen
hatte.
Er setzt sich mit dem unterbliebenen Bezug auf Gott in dem
gescheiterten Verfassungsentwurf auseinander und zitiert Ratzinger in
seiner Zeit als Kardinal: "Grundlegend für alle Kulturen sei der Respekt
vor dem, was dem anderen heilig ist. Ehrfurcht vor Gott sei auch
demjenigen zumutbar, der nicht an ihn glaube." Im Konkurrenzverhältnis
zwischen Region, Nation und Europa verweist Oberreuter auf die
schlichte, aber richtige Feststellung, es sei kein Widerspruch, zugleich
seiner Heimat, seinem Land und Europa verbunden zu sein.
Differenzierung und Gemeinsamkeit gebe den Nationen Raum.
Am Ende
werde, wie im westlichen Europa schon zuvor, eine Symbiose nationaler
und europäischer Identitäten stehen. Dabei sieht Oberreuter die
Bürgerrolle, die in der EU schlichtweg unterentwickelt ist, und an der
Distanz zu Brüssel und den Institutionen und den Personen leidet, als
zartes Pflänzchen mit ungewissem Aufwuchs. Im Vergleich dazu werden die
christlich-kulturellen Wurzeln trotz der pluralistischen Wertekonkurrenz
und die nationalen Identitäten die bestimmenderen Faktoren der EU
bleiben.
Ratzinger Brückenbau zu den Agnostikern
Kein geringerer als
Papst Benedikt XVI
hat schon als Kardinal anlässlich einer Tagung der Katholischen
Akademie in Bayern am 28./29.4.1979 dazu tiefgehende Gedanken
festgestellt: "Nur wenn der Begriff Europa eine Synthese aus politischer
Realität und sittlicher Idealität darstellt, kann er zu einer prägenden
Kraft für die Zukunft werden". Dabei stellt er nüchtern fest, "das
Politische steht zwar unter religiös begründeten ethischen Normen, ist
aber nicht theokratisch verfasst". Ratzinger fordert die Idee der
offenen Gesellschaft und der gegenseitigen Verantwortung.
Machtbegrenzung, Machtkontrolle und Transparenz der Macht sind
Konstitutive der Europäischen Gemeinschaft. Zur Lebensfähigkeit von
Demokratie gehört die gemeinsame und für das öffentliche Recht
verbindliche Ehrfurcht vor den sittlichen Werten und vor Gott.
Kardinal
Ratzinger betont dabei die Notwendigkeit übernationaler politischer,
wirtschaftlicher und rechtlicher Institutionen, die allerdings nicht den
Sinn haben können, eine Supernation aufzubauen, sondern im Gegenteil
den einzelnen Regionen Europas verstärkt ihr eigenes Gesicht und Gewicht
zurückgeben sollten. Als These formuliert er: "Für Europa muss die
Anerkennung und Wahrung der Gewissensfreiheit, der Menschenrechte, der
Freitheit der Wissenschaft und von daher die freiheitliche menschliche
Gesellschaft konstitutiv sein."
An diesen Maßstäben – so
Ratzinger – wird der Christ Europapolitik messen, von ihnen her wird er
seinen politischen Auftrag vollziehen. In einer späteren Schrift geht
Josef Kardinal Ratzinger auf Europa, seine geistigen Grundlagen gestern,
heute und morgen ein. In den letzten Jahren – so schreibt er – ist das
Bewußtsein dafür wieder gewachsen, dass die wirtschaftliche Gemeinschaft
der Europäischen Staaten auch einer Grundlage gemeinsamer Werte bedarf.
Wichtig ist ihm der zweite Satz der Präambel der Grundrechtscharta: "In
Bewußtsein Ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich
die Union auf die unteilbaren und universellen Werte des Menschen, der
Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität."
Entscheidend ist
für Ratzinger die Unbedingtheit, mit der Menschenwürde und Menschenrecht
als Wert dastehen, die jeder staatlichen Rechtsetzung vorangehen. Diese
übergeordneten Werte, die allem politischen Handeln und entscheidend
vorangehende Gültigkeit der Menschenwürde verweist letztlich auf den
Schöpfer. Insofern ist hier wesentliches christliches Erbe in seiner
besonderen Art von Gültigkeit codifiziert. "Dass es Werte gibt, die für
niemanden manipulierbar sind, ist die eigentliche Gewähr unserer
Freiheit und menschlicher Größe; der Glaube sieht dann das Geheimnis des
Schöpfers und der von ihm den Menschen verliehenen
Gottesebenbildlichkeit."
So schützt dieser Satz ein Wesenselement
der christlichen Identität Europas in einer auch dem Ungläubigen
verstehbaren Formulierung. Damit baut Ratzinger eine Brücke auch zu den
Agnostikern in der europäischen Verfassungsdebatte und versucht, eine
Gemeinsamkeit zwischen Christen und nicht glaubenden Humanisten zu
schaffen. Die gläubigen Christen fordert er auf, sich als schöpferische
Minderheit zu verstehen und dazu beizutragen, dass Europa das Beste
seines Erbes neu gewinnt und damit der ganzen Menschheit dient.
Einen
ähnlichen Gedanken entwickelt Kardinal Jean Marie Lustiger am 3. Juni
1992 in der Katholischen Akademie in München. Europa ist nach der
Meinung von Lustiger christlich, solange es sich immer wieder um
Selbstkritik und Selbsthervorbringung bemüht. Die Christen beanspruchen
damit nicht ein Monopol der europäischen Idee. Sie entdecken, dass das
Evangelium die zentrale Achse bildet, an der entlang sich Europa in
seiner Vielfalt und seinem Pluralismus entwickelte. "Die Freiheit, die
die Kirche von den Gemeinwesen und Staaten für sich und für jeden der
ihren verlangt, verlangt sie für jeden Menschen. Dies ist eine positive
Toleranz. Sie lehrt die Offenheit für den Anderen und den Dialog als
Zeugnis für die Wahrheit.
Hans Maier hat vor über einem Jahrzehnt
konstatiert, wie ein Europa ohne Christentum aussähe, was anders wäre.
Es gäbe dann keine Feiertage, es gäbe wohl eine andere Zeitrechnung,
alles wäre revidierbar, nichts wäre endgültig. Der modernen Arbeits- und
Globalisierungsdynamik fehlte das überlieferte und bewährte Wiederlager
der Ruhe am siebten Tag. Am Deutlichsten aber wären die Veränderungen
im Bereich von Menschenrecht und Menschenwürde. Die christliche
Botschaft richtet sich an alle, an die ganze Menschheit, nicht nur an
einige besondere. Eingriffe in das menschliche Leben und Eingriffe in
die Natur würden ohne das christliche Menschenbild rigoroser und ohne
Skrupel vollzogen.
Die CSU und Europa
Bernd
Posselt, der Europaabgeordnete, hat vor einigen Jahren die
europapolitische Geschichte der CSU deutlich herausgearbeitet. Sie
besteht in einem Dreiklang bayerisch, deutsch und europäisch.
Schon
im CSU-Grundsatzprogramm von 1946 stand das Bekenntnis zur europäischen
Einigung und die Forderung nach einer europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion. Der legendäre "Ochsensepp" war es, der aus der Erfahrung
des Widerstands diese Forderung erhob und damit die CSU zu einer neuen
modernen Partei formte, die nicht nur auf dem Erbe der bayerischen
Volkspartei beruht und sich nicht von der Bayernpartei in die Provinz
abdrängen ließ. Im Erlanger Manifest der CSU zur ersten Direktwahl des
Europäischen Parlaments 1979 steht das Bekenntnis zu einem geeinten
Europa und die Absage an nationalstaatliche Enge sowie nationalistische
Denk- und Verhaltensweisen.
1984 in der Augsburger Erklärung zur
Europawahl definiert sich die CSU als Europapartei der ersten Stunde.
Schon 1968 hatte Franz Josef Strauß den Nationalstaat "ein an sich
überlebtes Element" genannt. 1966 hatte er sich kritisch mit der
Europavision von de Gaulle auseinandergesetzt.
Ein Europa der
Vaterländer könne nur ein Zwischenstadium auf dem Weg zu einer völlig
politischen Einigung unseres Kontinents sein. 1976 hieß es dann im neuen
Grundsatzprogramm: "Der Aufbau eines demokratischen europäischen
Bundesstaates stellt eine wesentliche und vordringliche Aufgabe für die
langfristige Sicherung von Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent
dar." 1977 beschäftigte sich Franz Josef Strauß in Ottobeuren in einer
tiefgehenden Rede mit Europa, seinen Wurzeln und seiner Zukunft. Er
setzte seine Hoffnung auf den transnationalen Charakter Europas. Die
Nationalregierungen bleiben von entscheidender Bedeutung, aber der
Nationalstaat ist nur eine politische Ebene unter anderen. Europa könne
nur als offene Union existieren. Integration heißt nicht Abschließung
und es heißt nicht Vereinheitlichung und Gleichschaltung.
1993
und 2007 rückte die CSU in ihren Grundsatzprogrammen von dem Begriff
"Bundesstaat" ab, weil in absehbarer Zeit die Bereitschaft zu einer
solchen Integration politisch nicht bestand. Im letzten Jahrzehnt hat
sich die Christlich-Soziale Union klar von den Versuchen abgesetzt, ein
Nein zu dem Entwurf des Verfassungsvertrages seitens der CSU ins Auge zu
fassen.
Wie dieses Europa in einem oder zwei Jahrzehnten
aussehen wird, kann heute niemand mit Genauigkeit sagen. Die
Finanzwirtschafts- und Verschuldungskrise zwingt zu mehr Kooperation, zu
stärkeren Regeln und zu durchsetzungsfähigen Institutionen.
Dies
wird in absehbarer Zeit noch intergovernemental durch forcierte
Zusammenarbeit der Mitgliedsländer erfolgen. Dabei werden die nationalen
Parlamente sich mehr mit den europäischen Entscheidungen beschäftigen
müssen, als das bisher der Fall war. Aber auch das europäische Parlament
bedarf einer stärkeren institutionellen Beteiligung, um ein echtes
Gegengewicht zur Kommission darzustellen. Wenn sich diese Zusammenarbeit
bewährt und zu realen Erfolgen führt, wird auch eine weitere
Integration von den Menschen in Europa unterstützt werden. Diese
künftige Europäische Union wird kein Staatenbund und kein Bundesstaat im
herkömmlichen Sinne sein. Der Begriff des Staatenverbunds, den das
Bundesverfassungsgericht geprägt hat, ist zu wenig bestimmt und wohl
auch nicht attraktiv genug für eine mittel- und langfristige Vision. Die
Europäische Union wird ein Rechtssubjekt sui generis sein, das über das
staatenrechtliche Verständnis des letzten und vorletzten Jahrhunderts
hinaus geht.
Was braucht Europa? Ideen, Perspektiven, Konzepte
1. Das Ziel heißt: "Die Vereinigten Staaten in Europa".
2.
Europa muss sich politisch und rechtlich flexibel gestalten. Politisch
und rechtlich besteht dieses Europa aus konzentrischen Kreisen: Der
innerste Kreis bildet die Wirtschafts- und Währungsunion mit ihren
Mitgliedern. Im nächsten Kreis befinden sich die Mitglieder der
Europäischen Union. Wieder im nächsten Kreis befinden sich die
Beitrittskandidaten der EU und den äußersten Kreis bilden Partnerstaaten
wie die Türkei und Russland. Den Mittelpunkt bilden die Vereinigten
Staaten in Europa, das ist mehr als ein Staatenbund oder ein
Staatenverbund, aber kein Bundesstaat früherer Prägung.
3. Das
Prinzip der Subsidiarität muss endlich mit Leben erfüllt werden.
Regionale Strukturpolitik und Landwirtschaftspolitik müssen wieder
stärker in die Zuständigkeit der Länder überführt werden.
4. Die
Konsolidierung der Haushalte in allen Ländern entspricht dem Prinzip der
Nachhaltigkeit. Es ist Teil der Generationengerechtigkeit und muss zum
konstitutionellen Ziel national und supranational gemacht werden.
5.
Es gibt wichtige und zustimmungsfähige Projekte, die von einer großen
Mehrheit auch in Deutschland unterstützt werden. Das ist die bessere
Ausbildung der jungen Menschen und der entschiedene Kampf gegen die
Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern. Hierzu könnten gerade auch
deutsche Unternehmen in diesen Ländern einen wichtigen Beitrag leisten.
6.
Europa braucht ein eigenständiges Wirtschafts- und Sozialmodell. Das
"Geldkapital" bedarf einer Finanzordnung und einer funktionierenden
Finanzaufsicht. Das "Sozialkapital" besteht in der Partnerschaft von
Wirtschaft und Gewerkschaften, die sich in Deutschland gerade im letzten
Jahrzehnt erfolgreich bewährt hat. Das "Infrastrukturkapital" zeigt
sich in der gut ausgebauten Infrastruktur, die nicht nur aus Metropolen
besteht. Das "politische Kapital" äußert sich in der demokratischen
Stabilität, die sich positiv auf die Mitglieder der Union und die
Nachbarn in Europa ausstrahlt.
7. Die europäische Idee bedarf der
Erneuerung. Dazu sollte ein "Bündnis für Europa" geschaffen werden,
gebildet aus Kirchen Wirtschaftsverbänden Gewerkschaften Bauernverbänden
Jugendverbänden Kulturschaffenden und Stiftungen Städten, Gemeinden.
Sie bilden ein konstruktives Netzwerk für den irreversiblen Weg zu einem
gemeinsamen Europa.
8. Ein "Rat der Alten" in Deutschland könnte
für eine stärkere Akzeptanz europäischer Entscheidungen führen. In ihm
sollten die früheren Bundespräsidenten, Bundeskanzler, Aussenminister
und andere profilierte Europapolitiker den politischen
Entscheidungsträgern mit Rat und Kritik zur Seite stehen.
9.
Die deutsche Politik mus bereit sein, in Europa verstärkt politische
und personelle Verantwortung zu übernehmen. Die Zurückhaltung bei der
Besetzung europäischer Spitzenpositionen entspricht nicht der
Notwendigkeit von Verantwortung und Führung in Partnerschaft zu den
Anderen.
Es gilt das gesprochene Wort!
Dieser Beitrag
über die Zukunft Europas ist eine Rede von Bundesminister a.D. Dr. Theo Waigel, die er am 16. Februar 2012 bei der Hanns-Seidel-Stiftung in
München gehalten hat .