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Sonntag, 1. Dezember 2019

Wir haben freie Medien!

So viel Freiheit wie jetzt hatten die Medien in Deutschland wohl kaum jemals. Eine Freiheit, die erst dann wirklich ist, wenn sie genutzt wird, wie sie genutzt wurde, als sich während der Spiegel-Affäre die gesamte deutsche Presse, einschließlich der Springer-Zeitungen, mit Augstein solidarisierte. Damals, 1962, begann die Pressefreiheit in Deutschland, lebendig zu werden.

Wie konnte es soweit kommen, dass sich heute die Leser trotzdem gegen eine allzu kanzleramtsnahe Presse wehren müssen? Wie kommt es, dass die deutschen bundesweit veröffentlichten Zeitungen mehrheitlich ohne Notwendigkeit Propaganda für Merkel und das System Merkel Machen??

All die Spekulationen über angebliche Vorgaben aus Merkels Umfeld sind so gut wie gegenstandslos, auch wenn Wolfgang Herles ein paar Fälle nennen kann, bei denen tatsächlich Druck ausgeübt wurde. Das ist letztlich sozialer Druck in einem Klima des schieramento: wenn es ernst wird, kommt es zu einer parteiischen Aufstellung, und wer bei dieser Lagerbildung plötzlich zu den Einsamen gehört, erlebt jede Absprache unter den Gleichgesinnten der Gegenseite als Weisungsdruck.
Nein, Merkel gibt keine Weisungen. Das Problem ist viel einfacher und gleichzeitig größer: für die deutschen Medien (und ihre Produktionen, vor allem die Krimis, Talkshows und die politischen Nachrichtenmagazine und Investigationsprogramme) ist es seit den 70-er Jahren Ehrensache, immer etwas linker als das erziehungsbedürftige Publikum zu sein. Nicht die Medien mussten auf Merkels Linie gebracht werden, Merkel brauchte die bereits vorhandene Linie der Medien nur zu übernehmen und zu ihrer eigenen zu machen und darauf zu vertrauen, dass unter den Lesern und Zuschauern niemandem auffällt oder unangenehm ist, dass sie dazu in vielerlei Hinsicht eine 180°-Wendung machen musste. Auf letzteres konnte sie zählen, weil ihr die Wiedergutwerdungssehnsüchte der Deutschen bekannt waren; schließlich hatten die Medien diese Sehnsucht durch jahrzehntelange Publikumsbeschimpfungen selber erzeugt, weshalb auch nicht zu erwarten war, dass die Medien Merkels Trick an die große Glocke hängen würde. Im Gegenteil, die Medienschaffenden hatten allen Grund, ihren eigenen Triumph - wann schwenkt schon ein Regierungschef auf die Linie der Medien ein? - zu genießen (und Merkel dafür dankbar zu sein: Huldigung also auch gesichert). Man könnte Merkels Verschlagenheit als genial bezeichnen. Aber kann darin auch das Glück einer durch ermüdende Huldigungen träge gewordenen Quotenkanzlerin sehen, die sich von so viel Glück übermannt einfach im Strom des Zeitgeists treiben lässt und aufgehört hat, der forza delle cose etwas entgegenzusetzen.

Es ist in gewisser Weise so, als sei der Hauptmann von Köpenick Bundeskanzler geworden.
Beides, dass ein als Hauptmann verkleideter Schuster die Stadtkasse von Cöpenick konfisziert und dass eine Regierungschefin die freie Presse ihres Landes sozusagen einsackt, indem sie sie dazu bringt, sich selber einen Ring durch die Nase zu ziehen, weil sie die Mehrheitsmeinung der Journalisten einfach zu ihrer eigenen macht, dies ist beides nur in Deutschland möglich.

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