Für den im Stahlbad der sogenannten Vergangenheitsbewältigung
gehärteten Musterdeutschen ist praktisch jeder historische Begriff mit
dem Nationalsozialismus konnotiert. So auch das Wort "Exil". Das ist
merkwürdig, schon angesichts der zahlreichen Exil-Iraner, Exil-Russen,
Exil-Vietnamesen, Exil-Kubaner, Exil-DDRler etc. pp., die sich in der
Bundesrepublik niederließen. Auch die in diesem Kontext nicht ganz
uninteressante Monika Maron nahm 1988 in der Bundesrepublik Zuflucht.
Exilanten
gibt es seit jeher, von Themistokles, der Exil bei den Persern fand,
über Ovid und Dante bis zu Heine, der nach Frankreich emigrierte, oder
Marx, den es nach London verschlug. Die beiden bedeutendsten Denker des
Toleranzmärchenlandes Al Andalus, Averroes und Moses Maimonides, gingen
ins Exil, um ihr Leben vor den Islamfanatikern zu retten. Scharen von
Franzosen flohen vor dem Terreur der Jakobiner ins Ausland (man
schätzt 150.000), darunter Männer wie Chateaubriand, La Fayette, Joseph
de Maistre und König Ludwig XVIII. Auch unser vorerst letzter Kaiser
musste sein Leben im Exil beschließen.
Der Begriff Exil ist also
ein politisch eher neutraler – es gingen ja auch zahlreiche Nazis und
Diktatoren ins Exil –, und er überspannt die Jahrhunderte. Wer ihn
reflexhaft auf diejenigen bezieht, die vor dem NS-Terror aus Deutschland
geflohen sind, verfolgt Interessen. Das Exil ist nicht nur ein Flucht-,
sondern auch ein Sehnsuchtsort, an welchem man vor denen Ruhe zu finden
hofft, in deren Mitte zu leben unerträglich wurde, und es gehört zu den
unangenehmsten Vorstellungen, die der Begriff one world in mir weckt, dass diese Eine Welt keine Exile mehr kennen würde.
Der
Minimalsinn von „Exil“ wäre also die Beschreibung eines Ortes, an den
man sich begibt, um von irgendeiner existenzversauenden Sache verschont
zu bleiben. Insofern besteht nicht der geringste seriöse Einwand gegen
die dennoch irgendwie schlimme Idee der Dresdner Buchhändlerin Susanne
Dagen, eine Editionsreihe unter dem Titel "Exil" herauszubringen.
Die
ersten drei, im Frühjahr erschienenen Bändchen stammen von Monika
Maron, Uwe Tellkamp und Jörg Bernig, alle drei bekanntlich inzwischen
hochumstrittene und z. T. martialische Gesellschaftsspalter, überdies
Vertrauensvorschussveruntreuer – wozu schenkt man Leuten
Literaturpreise, wenn sie später ihrem Staat, der ihnen alles ermöglicht
hat, in den Rücken fallen? –, und womöglich sind es, wer weiß,
irgendwann Kandidaten für ein tatsächliches Exil.
(Der hier geschmähte Roman gehört formal nicht in die genannte Reihe, aber in gewissem Sinne doch.)
Der Schoß ist bekanntermaßen fruchtbar noch, schon gibt das nächste Terzett sein Debüt in der Exil-"Edition
Buchhaus Loschwitz". Auf eines der drei will ich heute hinweisen, auf
ein zweites demnächst. Es handelt sich um das Buch "Rettet den gesunden
Menschenverstand!" von Eva Rex, einer aus Katowice (heute Dunkelpolen)
stammenden und in Dresden lebenden Schriftstellerin. Die Slawistin und
Historikerin beginnt ihre Betrachtung mit Fragen:
"Wie kommt es,
dass die meisten Mitglieder der westlichen Gesellschaften so merkwürdig
apathisch und desinteressiert an ihrem eigenen Geschick agieren und
ihrer eigenen Verdrängung (als Volk, als Nation, als Kultur)
entgegensehen, ja diese sogar beklatschen? Warum sind moderne Menschen
trotz ausdifferenzierter Individualisierung und Aufgeklärtheit so
empfänglich für ideologische Großkonzepte wie Gleichstellung, Multikulturalismus und Kampf gegen den Klimawandel?
Warum begegnen uns gerade in Künstlern und Intellektuellen die
fanatischsten Befürworter dieser neuen Ideologien? ... Wie kommt es,
dass so viele sich nicht mehr auf ihre eigene Wahrnehmung verlassen und
nicht den Mut haben, sich ihres Verstandes zu bedienen?"
Plausible
Antworten findet sie skandalöserweise bei Hannah Arendt (für deren
Befreiung aus der absurden linken Umarmung Frau Rex schon seit Längerem
plädiert). Und zwar im Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" –
man muss den Wikipedia-Eintrag dazu lesen, um würdigen zu können, wie
unsere wuseligen Linksscheitler die einst ja ebenfalls hochumkämpfte,
zeitlebens allen intellektuellen Moden abholde Denkerin – von der ich
übrigens den Begriff "Kleiner Eckladen" (bei ihr mit dem Zusatz: "des
Denkens") stiebitzt habe –, von Anstößigkeiten befreiten und auf Linie
stutzten.
Anders als bei der herkömmlichen Tyrannis mit ihren
konventionellen Motiven beruht die totale Herrschaft Arendt zufolge
immer auf einer Ideologie. Diese Ideologie erhebe Anspruch auf
universelle Geltung, mobilisiere dafür die Massen und verheiße die
Verwirklichung einer Fiktion, an deren Ende eine neue Welt und der neue
Mensch stehen.
Wer heute auch nur für eine Seminarstunde in eine
sogenannte geisteswissenschaftliche Fakultät einer beliebigen westlichen
Universität blickt, wird feststellen, dass alles, was älter als, sagen
wir, zwanzig Jahre oder auch Wochen ist, dort im Grunde nichts mehr
gilt. Kann also eine vor 70 Jahren – wenn immerhin auch nicht von einem Cis-Mann – veröffentlichte Analyse unsere heutige Situation auch nur um ein Millilux erhellen?
Eva
Rex behauptet, ja. Schauen wir also mit ihr auf die Kriterien (vulgo
Elemente und Ursprünge), die Hannah Arendt zufolge eine totalitäre
Herrschaft kennzeichnen.
Erstens: Die Gesellschaft ist atomisiert
und zugleich homogenisiert, die traditionellen Bindungen durch Klassen,
Stände, Familien, Geschlechter, Nationen, Identitäten sind weitgehend
aufgelöst. Ein im sozialen Vakuum lebender Massenmensch bevölkert die
Städte.
Zweitens: Aus dieser Orientierungs- und Bindungslosigkeit
resultiert ein kollektiver Mangel an Urteilskraft. Er äußert sich in
einer Mischung aus Leichtgläubigkeit und Zynismus und mündet in eine
Revolte gegen den Wirklichkeitssinn – gegen den bei Arendt noch ganz
zentralen "gesunden Menschenverstand" (auf den sich heute bekanntlich
nur Ewiggestrige berufen). Die Philosophin – die übrigens in ihrer
Totalitarismusanaylse noch ganz frisch und frei die trefflichen Termini
"Mob" und "Gesindel" verwendet (nicht für die Massen, sondern für den
Mob und das Gesindel) – schreibt: "Die Mentalität moderner Massen (...)
beruht darauf, daß sie an die Realität der sichtbaren Welt nicht
glauben, sich auf eigene, kontrollierbare Erfahrungen nie verlassen,
ihren fünf Sinnen mißtrauen und darum eine Einbildungskraft entwickeln,
die durch jegliches in Bewegung gesetzt werden kann, was scheinbar
universelle Bedeutung hat und in sich konsequent ist. ... Auf sie wirkt
nur die Konsequenz und Stimmigkeit frei erfundener Systeme, die sie mit
einzuschließen versprechen."
Drittens – gleich in den Worten von
Arendt (auch alle folgenden Zitate stammen von ihr) –: "Der
Egozentrismus (der modernen Massen) konnte kein gemeinsames Interesse
entstehen lassen, und war daher oft mit einer typischen Schwächung des
Instinkts der Selbsterhaltung verbunden. Selbstlosigkeit, nicht als
Güte, sondern als Gefühl, daß es auf einen selbst nicht ankommt, daß das
eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes ersetzt werden
kann, wurde ein allgemeines Massenphänomen."
Viertens: Die
geistigen Eliten haben sich freiwillig gleichgeschaltet und betreiben
primär Systempropaganda. Gerade sie hegen eine "Neigung für die
abstraktesten Vorstellungen, diese leidenschaftliche Vorliebe, ihr Leben
nach sinnlosen Begriffen zu gestalten, wenn sie dadurch nur dem Alltag
und dem gesunden Menschenverstand, den sie mehr verachteten als irgend
etwas sonst, entgehen konnten".
Fünftens: Frei erfundene, aber in
sich logische Systeme beherrschen das Denken der Menschen und erzeugen
eine Hyperrealität. "Während die totale Herrschaft einerseits alle
Sinnzusammenhänge zerstört, mit denen wir normalerweise rechnen und in
denen wir normalerweise handeln, errichtet sie andererseits eine Art
Suprasinn ... Über der Sinnlosigkeit der totalitären Gesellschaft thront
der Suprasinn der Ideologien, die behaupten, den Schlüssel zur
Geschichte oder die Lösung aller Rätsel gefunden zu haben."
Sechstens:
Die Massen werden mit sogenannten wissenschaftlichen Beweisen von der
Stichhaltigkeit der staatlichen Pläne und Maßnahmen überzeugt. "Diese
ideologisch verankerten Lügen (sind) unantastbar. Sie werden mit
sorgfältig ausgearbeiteten Systemen pseudowissenschaftlicher Beweise
geschützt." – "Im Gegensatz zu älteren Formen politischer Propaganda,
die dazu neigt, sich auf die Vergangenheit zu berufen, um Gegenwärtiges
zu rechtfertigen, benutzt totalitäre Propaganda die Wissenschaft, um die
Zukunft zu prophezeien."
Siebentens: Gemäß dem strikten
Determinismus der Ideologie steht am Ende des gesellschaftlich
eingeschlagenen Weges eine Transformation der menschlichen Natur, das
Erreichen einer neuen Gattungsqualität. "Diese Exekution der objektiven
Gesetze von Natur oder Geschichte soll schließlich die Menschheit
produzieren.“
"Woran", fragt Eva Rex, "erinnert uns das?"
Was
in diesen sieben Punkten beschrieben wird, erleben wir derzeit
tatsächlich wieder, wenn auch auf vollkommen andere, unvergleichlich
weniger gewaltsame, unvergleichlich smartere und von den Sirenengesängen
des Humanitarismus begleitete ungleich raffiniertere Weise, aber in
einer vor allem dank Big Data bewerkstelligten
Totalität – es gab nie ein zentralistischeres Gebilde in der
Menschheitsgeschichte als die Allianz von Google, Facebook et al. –, die
den Vergleich mit ihren freiheitsfeindlichen Vorgängern nicht scheuen
muss. Freilich betreffen die Folgen ausschließlich den Westen. Die
afrikanischen, asiatischen, orientalischen Völker oder Stämme können
bleiben, was sie sind, ihr Kindersegen schadet dem Weltklima nicht, ihre
Frauen müssen nicht gleichgestellt werden, solange sie frei zwischen
Tschador und Niqab wählen dürfen, ihre Religionen, Sitten und
Geschlechter sind keine Konstrukte, sondern bunt, sie haben nie andere
Völker bzw. Ethnien versklavt und unterdrückt, keine verachtenswerten
Eroberungskriege geführt, haben keine Erbschuld abzutragen, und bis
heute sind sie an der Diskriminierung Andersartiger nicht interessiert.
Frau
Rex holt die Exilantin Hannah Arendt heim dorthin, wo sie allzeit ihren
Hauptwohnsitz hatte – nein, nicht ins "Erstaunen vor dem Einfachen"
(dort auch), sondern ins Umstrittensein. Denn nichts
Schlimmeres könnte einem öffentlich denkenden und urteilenden Menschen
widerfahren, als dass er inmitten dieser weltumspannenden Herde aus
Gaunern, Opportunisten, Gierhälsen, Bescheidwissern, Fatzkes, Gläubigen,
Huren, Banditen, Idealisten, Beutelschneidern und Einfaltspinseln nicht
wenigstens umstritten wäre.
Natürlich ist in siebzig Jahren einiges passiert, was nach einem, wie es neudeutsch heißt, Update oder auch Great reset
der Arendtschen Analyse verlangt. Das erledigt Frau Rex klug und
prägnant. Etwa wenn Arendt feststellt: "Tyrannen und Despoten haben
immer gewußt, daß Gleichheit ihrer Untertanen, Ausschaltung von
Rangunterschieden und Verhinderung jeder gesicherten, gesellschaftlichen
und politischen Hierarchie die unabdingbare Voraussetzung ihrer
Herrschaft bildet."
Eva Rex fährt fort: "Uns hingegen wird
vermittelt, dass es sich um Emanzipation aus unterdrückerischen
Strukturen handelt." – "Aber warum sollte der Egalitarismus vor anderen
Ungleichheiten Halt machen? Zum Beispiel vor der genetischen?"
Hannah
Arendt notiert: "Totale Herrschaft, die darauf ausgeht, alle Menschen
in ihrer unendlichen Pluralität und Verschiedenheit so zu organisieren,
als ob sie alle zusammen nur einen einzigen Menschen darstellen, ist nur
möglich, wenn es gelingt, jeden Menschen auf eine sich immer
gleichbleibende Identität von Reaktionen zu reduzieren, so daß jedes
dieser Reaktionsbündel mit jedem anderen vertauschbar ist. Es handelt
sich dabei darum, das herzustellen, was es nicht gibt, nämlich so etwas
wie eine Spezies Mensch."
Eva Rex – Hannah und Eva, fällt mir
gerade auf, was für ein schönes Namenspaar – entwirft dazu ein
treffendes Gleichnis: Das Ziel der globalistischen Eliten sei es, "die
Menschen zu Plastikgranulat zu zerreiben, damit aus ihnen, bei Bedarf,
eine neue PET-Flasche geformt werden kann. ... Und dafür braucht es die
Homogenisierung – das Zerreiben der Menschen zu ethisierten,
ökologisierten, pazifizierten, feminisierten und durchgegenderten
Bestandteilen des humanitären Universalismus."
PS:
Selbstredend geht die Autorin auch noch auf die totale Mobilmachung
gegen Corona ein. Ich bescheide mich auf eine Sottise: "Corona ist eine
Servilitäts-App, die nach Belieben aktiviert werden kann." Die weitere
Lektüre stelle ich nicht nur anheim, sondern empfehle sie nachdrücklich.
***
Noch zum Vorigen.
Der
israelische Bestseller-Autor und jugendtaugliche Welterklärer Yuval
Noah Harari macht sich auch so seine Gedanken über Corona; im Interview
mit t-onlie sagt er:
Aber:
Bemerkt
der Mann den Widerspruch nicht? Oder ist es die mutwillige Beschränkung
auf "ein paar Milliardäre", mit der er sich davonstehlen will? Der Witz
an den aktuell laufenden "Verschwörungen" besteht ja darin, dass sie
nicht oder nur zum Teil im Geheimen, in den sprichwörtlichen
Hinterzimmern stattfinden, sondern, wie die Reden von Emmanuel Goldstein
in "1984", vor aller Augen gezeigt werden. "Great reset", "Große
Tranformation", Globaler Pakt für Austausch-("replacement")-Migration,
die Allianz von Big Data, Pharmaindustrie und Regierungen bei der
Freiheitseinschränkung der Bürger unter dem Vorwand der
Pandemiebekämpfung, die Neuaufteilung der Märkte unter einer Handvoll
Großkonzerne durch Ausschaltung des Mittelstands, die Entmachtung der
nationalen Parlamente, die Pläne des Weltwirtschaftsforums* zur
Vergemeinschaftung von Wohnungen, Autos etc., die totale elektronische
Überwachung in China – jeder kann zuschauen dabei. Nur muss er sich
hüten, sich einen Reim bzw. eine Dingenstheorie darauf zu machen. Dann
wird er gesperrt. Würde übrigens auch Harari so gehen. Vielleicht ist er
einfach nur clever.
* Diese Pläne sind
hier
in einer Acht-Punkte-Prognose gelistet. Punkt 1: "Alle Produkte
verwandeln sich in Serviceleistungen. 'I don't own anything. I don't own
a car. I don't own a house. I don't own any appliances or any
clothes'." Neckisch auch Punkt 6: Die "hochgebildeten syrischen
Flüchtlinge" werden anno 2030 unsere CEOs sein (warum eigentlich nicht
in Syrien? Und teilen sie sich ihre Wohnungen und Klamotten auch mit den
ungläubigen CEOs?). Klartext spricht dann Punkt 7: Die westlichen Werte
sind überholt. Dass Punkt 8 die baldige erste Marslandung ankündigt,
könnte man für Satire halten, aber eine nach dem Geschmack des
Weltwirtschaftsforums eingerichtete Erde würde der Besiedelung des Roten
Planeten einen unverhofften Sinn zuwachsen lassen – ich sprach oben ja
davon –: den des Exils. Das neue Amerika quasi.
***
Apropos Milliardäre – deren einer ist ja Billyboy – und
etwas nicht bemerken: Den Aufstieg der
FAZ
vom Selbstverständigungsorgan der bundesdeutschen zumindest geistigen
Eliten zum prachtvollen Politnuttenblatt illustriert Alexander Wendt am
Beispiel eines unkommentiert und kontextfrei in die "Zeitung trotz
Deutschland" eingerückten Selbstbejubelungsartikels von eben jenem
Billyboy (der dem Blatt vorher ein bisschen Geld – aber nicht viel –
gespendet hat; immer einen Schritt nach dem anderen):
(
Hier.)