Es war Anfang März 2020. Nach einem anstrengenden Arbeitstag begann
um 20 Uhr die jährliche Sitzung eines gemeinnützigen Vereins, für den
ich mich seit rund 20 Jahren ehrenamtlich engagiere. Bei der Arbeit des
Vereins geht es um Kinder mit einer speziellen Behinderung. Er bietet
Therapien und Informationsveranstaltungen an, berät Eltern, Kitas und
Schulen u.v.m. Ich helfe bei der Beratung und Vertretung, halte
Fachvorträge im Bereich Recht und Bildung; aktuell bin ich außerdem
Rechnungsprüfer des Vereins.
Wie üblich wurde die Tagesordnung abgearbeitet, mittlerweile wurde es
spät, und alle waren gedanklich schon auf dem Heimweg. Nur noch der TOP
„Verschiedenes“ stand auf der Liste. Auf die Frage, ob es irgendetwas
zu besprechen gäbe – wovon niemand ausging – meldete sich überraschend
die ursprüngliche Gründerin des Vereins zu Wort. Früher war sie für die
Grünen politisch aktiv, aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nun aber
sowohl in der Politik wie im Verein nur noch passives Mitglied. Sie
hatte erkennbar etwas Gewichtiges auf dem Herzen:
Die Mutter eines im Verein therapierten Kindes hatte ihr mitgeteilt,
dass man Kinder nicht mehr dort behandeln lassen könne, weil im Vorstand
ein AfD-Mitglied tätig sei.
Wer sollte das sein?
Überraschung machte sich breit. Die unsanft von der Vision eines
schönen Glases Wein in die traurigen Gefilde der Politik Beförderten
schauten sich alarmiert und verdutzt an. Wer sollte das sein? Das grüne
Urgestein brannte sichtlich darauf, den Pranger zu bestücken und der
Oscar ging – Tusch und Konfetti – an mich! Bühne frei, Auftritt des
Bösewichts!
Im ersten Moment war ich überrascht, im zweiten befremdet.
Grundsätzlich ist die politische Gesinnung eines jeden Vereinsmitglieds
oder beruflich/karitativ dort Tätigen vollkommen egal, sie geht schlicht
niemanden etwas an. Aus gutem Grund gehören freie, gleiche und geheime Wahlen
zu den grundlegenden Prinzipien von Demokratien, damit jeder ohne
Furcht seine politische Entscheidung treffen kann. Wusste die Gute
eigentlich, was sie da verschrottet, indem sie von mir eine Offenlegung
erwartete?
Mein erster Impuls war, aus reiner Renitenz mit „Ja, und?“ zu
antworten und mich über das anschließende Schauspiel der Aufgescheuchten
zu amüsieren. Aber es war spät und ich bezweifelte, dass irgendeiner
meinen Sinn für Humor teilen würde. Außerdem machen Lügen eine schlechte
Situation nicht besser, also sagte ich ebenso friedlich wie
wahrheitsgemäß, dass ich weder in der AfD war noch bin, im Übrigen als
Rechnungsprüfer nicht im Vorstand des Vereins. Mehr allerdings sagte ich
nicht.
Lautes Schweigen
Es folgte eine Pause, das Schweigen war laut. Erwartet wurde wohl,
dass ich mich echauffiere, verbal so viel Raum zwischen mir und dem
Teufel in Parteigestalt wie möglich lege. Das war mir klar und ich hätte
völlig ehrlich sagen können, dass ich diverse Auffassungen der AfD
nicht teile. Aber ich sagte nichts. Hetzjagden lehne ich ab, da mache
ich nicht mit. Offenbar sah man mir das Ende meiner Geduld sehr deutlich
an, jedenfalls begannen einige Mitglieder, den peinlichen Moment eilig
zu überspielen.
Es kristallisierte sich die naheliegende Frage heraus, wie die Mutter
(der Name wurde nicht genannt) darauf gekommen sei. Auch mich
interessierte, welche meiner zahlreichen Schandtaten auf mich
zurückgefallen war. Darauf schien das grüne Urgestein nur gewartet zu
haben, nun ließ sie die Bombe platzen:
Ich hatte die Gemeinsame Erklärung 2018 unterschrieben, sogar als eine der Erstunterzeichnerinnen!
Wumms, das schlug ein! Oder genauer gesagt, hätte einschlagen sollen.
Dummerweise lief die Sache aber nicht nach Plan. Statt zerstört am
Boden zu liegen, war ich amüsiert. Die anderen waren nicht empört,
sondern schlicht ratlos. Sie hatten nicht die leiseste Ahnung, wovon
überhaupt die Rede war. Wer in der politischen Blase lebt, denkt
wirklich, Politik sei im Leben der meisten Menschen wichtig. Welch
fataler Irrtum!
Alles in einer Hand
Das grüne Urgestein musste also erst einmal die Schwere meines
Verbrechens erklären. Das gelang nur halb, aber immerhin. Dann erklärte
sie triumphierend, dass sie – sich ganz offenbar nicht nur als Ankläger,
sondern zugleich als Gericht fühlend – die Anschuldigung nachgeprüft
habe, diese sei wahr. Damit schien ihr die Verwerflichkeit bewiesen.
Außerdem habe sie festgestellt, dass ich zahlreiche andere höchst
bedenkliche Sachen geschrieben hätte, was von einem empörten Blick in
meine Richtung begleitet wurde.
Munter räumte ich als Angeklagte alles ein. Die irritierten
Anwesenden, nun quasi als Geschworenengericht fungierend, bemühten sich,
mein Verbrechen zu erfassen. Dabei zeigte sich die kuriose Überzeugung
nahezu sämtlicher Anwesenden, dass Deutschland wegen des Asylgrundrechts
in der Verfassung gezwungen gewesen sei, alle Migranten aufzunehmen. Es
sei unsere Pflicht und damit alternativlos. Ich persönlich fand es
hochinteressant, zu erfahren, welcher Eindruck durch die
Berichterstattung in der Öffentlichkeit als Tatsache implementiert
worden war.
Ganz ruhig zitierte ich Art. 16a GG, der nicht nur in Absatz 1 den
grundsätzlichen Anspruch auf Asyl garantiert, sondern auch über einen
Absatz 2 verfügt, der diesen erheblich einschränkt. „Auf Absatz 1 kann
sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen
Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die
Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
sichergestellt ist.“
Da die meisten Migranten auf dem Landweg einreisen, war selbst den
juristischen Laien klar, dass dann ein Anspruch auf Asyl nicht besteht.
Sie fingen an, sich zu wundern.
Das glaube ich nicht!
Wie beim Tennis gingen nun die Augen zur Gegenseite, dem grünen
Urgestein als Anklägerin. Ihre Reaktion verblüffte mich komplett. Sie
sagte empört: „Das glaube ich nicht!“ Nach einer kleinen Pause fügte sie
hinzu: „Darüber könnten wir stundenlang diskutieren, aber das bringt
jetzt nichts, lassen wir das Thema.“
Wie bitte? Sie glaubte es nicht? Was in Art. 16a GG steht, ist keine
Frage des Glaubens, sondern des Wissens, den Wortlaut kann jedermann
selbst nachlesen. Mir lag auch schon die spitze Bemerkung „Wer lesen
kann, ist klar im Vorteil“ auf der Zunge oder der Hinweis, dass ich
Jurist und nicht Theologe sei. Aber als ich sie perplex anschaute, wurde
mir klar, dass es für sie tatsächlich eine Glaubensfrage war. Es hätte
nichts geändert, wenn ich ihr die Richtigkeit meiner Ausführungen
schwarz auf weiß bewiesen hätte. Sie hätte es dennoch nicht „geglaubt“.
Es ist ernsthaft ihr tiefer Glaube, dass der Staat verpflichtet ist,
alles Leiden zu vermindern ohne Ende und dass ihm dieses auch möglich
ist. Er ist allmächtig und allwissend, hat nicht nur die Macht, sondern
geradezu die Pflicht, Menschen wie Marionetten zu führen um sie „zum
Guten“ zu zwingen. Um der Erlösung Willen heiligt der Zweck die Mittel.
Ihr missionarischer Eifer ist dabei in jeder Hinsicht grenzenlos.
Der Sinn des Lebens
Von diesem Glauben ist das grüne Urgestein durchdrungen und nichts,
was dagegen gesagt wird, hat die Chance, Gehör zu finden. Alles in ihr
würde sich dagegen wehren, denn es würde die Grundfesten ihres Glaubens
zerstören, ihr Halt und Orientierung nehmen, ja sogar noch schlimmer:
den Sinn des Lebens. Ihre Weigerung, die Diskussion weiterzuführen, war
meines Erachtens nicht nur dem Umstand geschuldet, dass sie dabei
möglicherweise den Kürzeren gezogen hätte, sondern reiner Selbstschutz.
Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, lief die Diskussion
weiter, nur mit halbem Ohr hörte ich, wie jemand meinte, dann könnten
wir im Protokoll aufnehmen, dass die Frage besprochen und festgestellt
worden sei, dass keiner bei der AfD sei. Da meldete sich ein
Vorstandsmitglied zu Wort, eine junge Psychologin. Nein, sagte sie, so
ginge das nicht. Sie würde darauf bestehen, dass mein Name im Protokoll
erschiene, denn sonst stünden alle anderen unter Generalverdacht. Dies
begleitete sie mit einem höchst giftigen Blick in meine Richtung.
Wieder richteten sich alle Blicke auf die Anklagebank. Wieder
reagierte ich nicht den Erwartungen entsprechend. Statt mich dagegen zu
wehren, stimmte ich ihr zu. Sie hatte recht, man muss negative
Konsequenzen fürchten, auch berufliche, wie ich aus eigener Erfahrung
weiß. Wer sich so verhält wie ich, muss bereit sein, die Konsequenzen zu
tragen, aber Dritte, die sich nicht dafür entschieden haben, sollten
nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Daher stimmte ich ihr zu, eine
klare Kennzeichnung sei nötig.
Der Elefant im Raum
Was ich nicht sagte, aber nahelag und mir unwillkürlich durch den
Kopf ging, war der Gedanke, man müsse solche Menschen wie mich am besten
auch äußerlich sichtbar kennzeichnen. Dann sind die anderen gewarnt,
können leichter Abstand halten. So etwas hatten wir schon einmal.
Offenbar gingen diese Gedanken nicht nur mir durch den Kopf, ich hatte
den Eindruck, dass plötzlich der sprichwörtliche Elefant im Raum stand.
Nur die junge Psychologin schien ihn nicht zu bemerken, sie war viel zu
erfüllt von selbstgerechter Empörung und dem Eifer, möglichst viel Raum
zwischen uns zu legen. Die Anderen hingegen bemerkten ihn sehr deutlich.
Das grüne Urgestein schaute plötzlich ganz entsetzt, sie stotterte,
nein, nein, das wolle sie nicht, wirklich überhaupt nicht, das sei doch
nicht nötig, mein Name solle nicht erwähnt werden.
Eingeprägt hat sich mir dabei der Blick, mit dem sie mich anschaute.
Sie schien einerseits entsetzt, andererseits verwirrt, rätselnd. Es war
vielleicht die blitzartige Erkenntnis, wohin ihr Verhalten führte, aber
auch der Umstand, dass ich aus ihrer Sicht eigentlich denkbar ungeeignet
für die Rolle des Bösewichts war. Anders als die neu hinzugekommene
Psychologin kennt sie mich seit Jahren und weiß sehr genau, dass mir
menschliches Leid absolut nicht gleichgültig ist, ich sogar für
Benachteiligte selbst dann eintrete, wenn es an meine Substanz geht.
Wieso gehörte ich dann zu den Bösen, den „Rechten“? Und was wäre
gewesen, wenn sie überzeugt gewesen wäre, dass ich zu „den Bösen“
gehöre?
Die Antwort auf die Frage, was ins Protokoll kommt, habe ich nicht
mehr so ganz mitbekommen. Der unrühmliche Abend endete kurz darauf, alle
wollten nur noch weg. Ein Protokoll habe ich bis heute nicht erhalten.
Sehr nachdenklich fuhr ich nach Hause. Drei Gedanken beschäftigten
mich: Erstens, dass niemand die entscheidenden Fragen gestellt hatte.
Zweitens die Erkenntnis, dass unsere westlichen Gesellschaften auf Sand
gebaut sind, weil ihr Fundament, nämlich ein säkularer Staat, eine
Illusion ist. Drittens – was folgt daraus?
Niemand hatte das Tribunal hinterfragt. Als Angeklagte war ich in der
Position der Ohnmacht, hätte es also nicht wirksam tun können. „Lahme
Verteidigung“ wäre der Eindruck gewesen. Die Steuerung in solchen
Situationen haben die Machthaber, also Ankläger und Richter. Sie
bestimmen das Stück, das gespielt wird, und die Tonart. Daher kommt der
Spruch „Der Fisch stinkt vom Kopf her“. Von diesen aber fragte nicht
einer, ob ein solches Tribunal berechtigt sei. Dass die Masse
aufgepeitscht wird, um den Stab über jemanden zu brechen, scheint
mittlerweile normal zu sein. Wie viele Stufen der Kultur und
Zivilisation muss man heruntergepurzelt sein, um das für normal zu
halten?
„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas
Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Mit diesen Worten
beginnt „Der Process“ von Franz Kafka. Es sind berühmte Worte des 1915
geschriebenen Romans, der als wohl bedeutendstes Werk des 20.
Jahrhunderts gilt. Es wird die Untersuchung des Verbrechens geschildert,
bei welcher die Zuschauermenge in zwei Gruppen geteilt ist, die Linken
und die Rechten. Als Josef K. bemerkt, dass der Richter der Menge
Zeichen gibt, sieht er sich umstellt. Bis zum Schluss weiß niemand, was
Josef K. eigentlich vorgeworfen wird. Dennoch wird er hingerichtet. „Wie
ein Hund, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Das
sind zugleich die letzten Sätze des Romans, der viele Interpretationen
ermöglicht. Eine davon ist, dass Kafka die kommenden fatalen
Entwicklungen antizipierte. Die Scham überlebte tatsächlich.
Entfernt mich!
Ich hatte nichts Böses getan. Aber es half mir nichts, denn die
Herrschenden haben ihre eigene Ethik. Danach bin ich böse. Also gibt es
ein Tribunal, denn ich gehöre entfernt. Das Verhaltensmuster ist
identisch, es wiederholt sich.
Was mir an diesem Abend aber erst so richtig bewusst wurde und
seitdem ernsthaft an mir nagt, ist die Erkenntnis, dass es sich wirklich
um Glaubensfragen handelt. „Das glaube ich nicht“ war der Kernsatz. Er
war völlig ernst gemeint. Die Divergenz unserer Glaubensgrundsätze war
das Problem.
Die Nähe politischer Ideologien zu religiösen Sekten hatte ich schon
früher bemerkt. Beim Thema Klimawandel ist die Ähnlichkeit zu
Endzeitsekten mittlerweile vielen aufgefallen. Auch deshalb hatte ich
über Gustave Le Bon geschrieben, der in seinem Grundlagenwerk
„Psychologie der Massen“ ausdrücklich darauf hinweist, dass die Ideen
der Massen stets religiöse Züge annehmen. Er räumte ganz explizit mit
dem Irrtum auf, dass man nur dann religiös sei, wenn man eine Gottheit
anbetet. Religiös ist man immer dann, wenn man sich einem Wertesystem
unterordnet, das als Maßstab des Handelns und Denkens dient. Konkret
nannte er den Sozialismus.
Le Bon behauptet sogar, dass eine Ideologie die Masse überhaupt nur
dann bewegt, wenn sie religiös ist, sonst entfalte sie keine Wirkung.
Daher könne eine Masse nicht durch Vernunft gelenkt werden, sondern die
Vernunft müsste erkennen, dass es nur mit einer Religion funktioniere.
„Zwar wollen die Massen die Worte der Gottheit und Religion, von
denen sie so lange beherrscht wurden, nicht mehr hören, aber zu keiner
Zeit sah man sie so viele Bildwerke und Altäre errichten, wie seit einem
Jahrhundert.“, so schrieb Le Bon schon 1895.
Politik als Spielplatz religiöser Sektierer
Wenn aber Le Bon recht hat, was ich für überwiegend wahrscheinlich
halte, dann trägt das Fundament der westlichen Gesellschaften nicht. Die
Trennung von Kirche und Staat setzt zwingend voraus, dass beide
vorhanden, verschieden und ergo trennbar sind. Noch mehr, die Trennung
muss vollzogen sein. Die Vernichtung der Bedeutung der Religion, bei uns
im Wesentlichen des Christentums, hat paradoxe Wirkung. Nicht der
Vernunft wurde zum Sieg verholfen, sondern die Politik wurde unmittelbar
zum Spielplatz religiöser Sektierer. Dann aber ist der Staat nicht
säkular. Und er ist absolut, alles vereinigt sich in einer – seiner –
Hand. In dem Spiel des Lebens sind wir Stufen der Zivilisation zurück
gerutscht Richtung Anfang.
Le Bon führte weiter aus, dass die Institutionen die Macht nicht
begrenzen könnten, sondern diese seien umgekehrt Ausfluss der
Grundstimmungen im Volk. Dies scheint zu stimmen, denn das Recht hat
nicht nur in den letzten Dekaden, sondern auch im letzten Jahrhundert
als Korrektiv versagt. Genau betrachtet, sind legendäre Schauprozesse
sogar älter und geradezu fundamental für die jüdisch-christliche
Entwicklung. Sie entsprangen Situationen, in denen der Glaube vom Staat
usurpiert wurde.
Jesus kritisierte die enge Kollaboration der jüdischen Eliten mit der
römischen Staatsmacht, ebenso wie Martin Luther die finanziell
lukrative Verquickung der katholischen Kirche mit den Herrschenden. Auch
heute wieder ist die christliche Kirche finanziell abhängig und agiert
als verlängerter Arm der Staatsmacht. Nicht anders und insoweit nicht
besser als früher ist die Wissenschaft ebenso abhängig vom Staat. Nichts
hat sich geändert oder wesentlich verbessert, alles, was zu recht an
der Religion kritisiert wurde, nicht zuletzt der fehlende
wissenschaftliche Diskurs, ist heute genauso problematisch wie in längst
vergangen geglaubten Zeiten.
Der Staat als Herr statt Diener
Wird der Staat zur Kirche, ist er nicht säkular. Eigentlich einfach.
Staatsgläubigkeit mit all ihren zahlreichen, Konfessionen ähnelnden
Erscheinungsformen, seien sie rot, grün oder identitär, zerstört das
Fundament der westlichen Gesellschaften. Der Staat kann nur dann säkular
sein, wenn die Bürger sozusagen anderweitig fromm sind. Glauben sie an
den Staat, geht es um Religion und Kirche. Dann ist das Gegenteil von
dem erreicht, was das Ziel des Westfälischen Friedens und der späteren
Aufklärung war. *
Man hat die absolutistische Monarchie beseitigt und den König
geköpft, aber die Grundstimmung der Masse ändert sich nicht so schnell.
Ist sie seit Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden Unterwerfung
gewöhnt, dann wird der Staat immer zum Herrn und nicht zum Diener der
Bürger werden, ganz gleich in welcher Regierungsform. Dass dies das
absolute Gegenteil des Menschenbildes des Grundgesetzes ist, ist dann
völlig egal.
Unterstellt, die derzeitigen politisch-ideologischen Entwicklungen
sind als Glaubenskämpfe zu bewerten, dann steht uns nichts Gutes bevor.
Der Dreißigjährige Krieg begann als Glaubenskrieg – an diesem Punkt
mochte ich nicht weiterdenken. Der Gedanke war zu furchtbar.
Zu Hause angekommen, erzählte ich meinem Mann von dem Abend und
versuchte, meinen Kummer im Wein zu ertränken. In den nächsten Tagen
schrieb ich die Geschichte auf, um sie aus dem Kopf zu bekommen, aber
auch, damit die Erinnerung nicht die Tatsachen verändert. Der Vorfall
ließ aber meine Gedanken nicht los.
Dann kam Corona
Ohne dass sie etwas Böses getan hatten oder eine Gefahr für andere
waren, wurde Millionen Menschen die Freiheit genommen. Es gab keinen
Prozess und keinen Richter, Verordnungen reichten. Wie ein Hund wurden
sie an die Leine genommen, die nach Belieben gestrafft wurde und wird.
Kaltherzig ließ man Sterbende allein, Einsame, Kranke und auch das
Wohlergehen von Kindern kümmerte nicht. Die Vulnerablen wurden nicht
geschützt, aber Existenzen vernichtet. Nichts, was Spaß machte oder auch
nur von Ferne an Kultur erinnerte, ist erlaubt. Arbeitsdrohnen gleich
muss die Bevölkerung schuften, aber Vergnügungen und Hochkultur sind den
Jakobinern ein Dorn im Auge. Ihre Herrschaft kennt weder Güte noch
Weisheit. Im Gegenteil, kalt und anmaßend richten sie über Leben und
Tod, damals wie heute.
Wieder einmal ist das Verhaltensmuster identisch.
Was könnte ein Ausweg sein? Immer neue Parteien, die ihre Vorstellung von der Welt anderen aufzwingen wollen? Eher nicht.
Der einzig gangbare Weg ist zu versuchen, Religionsfreiheit zu
gewähren. Hier kann man auf einen bekannten Lösungsansatz zurückgreifen,
der in der Vergangenheit funktioniert hat. Verhaltensmuster kann man
auch im Positiven kopieren.
Die Menschen sind verschieden, es wäre weder gütig noch weise,
jemandem, der Halt braucht, diesen zu nehmen. Umgekehrt ist es ebenso
wenig gütig oder weise, Menschen, die ihre Freiheit wie die Luft zum
Atmen brauchen, diese abzuschnüren. Es gibt daher unterschiedliche
Anforderungen an den Staat, die sich in entsprechenden
Glaubensgrundsätzen widerspiegeln. Niemand darf diese auf Kosten anderer
durchsetzen. Daher bedarf es unterschiedlicher Angebote, die den
jeweiligen Bedürfnissen gerecht werden.
Die Staatsgläubigen auf dem Weg zur Erlösung
Der Staat heutigen Formats ähnelt mehr einem Versicherungsunternehmen
als einem Staat traditionellen Zuschnitts. Nicht mehr die
Basisdienstleistungen wie Sicherheit und Ordnung stehen im Vordergrund,
sondern Absicherung gegen Risiken. Zusätzlich vermittelt er
Staatsgläubigen neben dem moralischen Kompass die Chance, durch
gemeinschaftliche Handlungen so etwas wie spirituelle Erlösung zu
erfahren. Christen haben bekanntlich einen eigenen moralischen Kompass
und können Erlösung nur durch eigene Handlungen, die auf freier
Entscheidung beruhen, erlangen.
Versicherungsunternehmen bieten für gewöhnlich unterschiedliche
Tarife an, vom günstigen Basis- über Standard-Tarif bis hin zum
„Rundum-Sorglos-Paket“. Es ist sicherlich nicht trivial, diesen Gedanken
auf ein Staatswesen zu übertragen. Der Gedanke erscheint zunächst
fremd, fast schon verrückt. Möglich und machbar ist es aber durchaus.
Für sämtliche versicherungsähnlichen Leistungen des Staates jedenfalls
ist es sogar recht einfach möglich. Traditionelle Dienstleistungen wären
der Basis-Tarif, wer mehr staatliche Dienstleistungen möchte, muss
entsprechende dazu buchen. Warum nicht? Dann lebt jeder in seiner
Gemeinschaft entsprechend seinen Vorstellungen und lässt andere ihren
eigenen Weg gehen. Das gemeinsame Fundament wären dann die
Basisdienstleistungen, für die alle zusammen einstehen.
Praktisch die größte Schwierigkeit dürfte es sein, den
missionarischen Eifer der Staatsgläubigen zu bremsen, deren
alleinseligmachender Anspruch den des Papstes deutlich übersteigt.
Es erscheint mir aller Mühe wert, dies ernsthaft zu versuchen. Denn
wenn die Staatsgläubigkeit triumphieren sollte, wird dies ebenso
katastrophal enden wie in der Vergangenheit. Das letzte Jahrhundert
sollte Mahnung genug sein. Daher wäre es sinnvoll, diesmal auf Vorspulen
zu drücken, den Krieg zu überspringen und gleich zum Frieden
überzugehen. Das grundlegende Prinzip des Westfälischen Friedens ist
allgemein gültig, es lautet Religionsfreiheit mit gleichberechtigtem
Nebeneinander unterschiedlicher Religionen. Die moderne Variante
garantiert dies auf der Basis unveräußerlicher Menschenrechte.
Es wird Zeit, neue Wege zu gehen. Annette Heinisch
* Naturam expelles furca, tamen usque recurret!
Neue Wege, auf denen uns das Böckenförde-Dilemma begeleiten wird.