Stationen

Donnerstag, 31. März 2022

An Herrn Özdemir


 Anthony Robert Lee aus Möllenbeck am 31. März

Zur Erinnerung

an die Gefahrenanalyse des Oberregierungsrates Stephan Kohn, der als Folge des Corona-Lockdowns im Mai 2020 vor Lieferkettenproblemen warnte und – wegen der einzigen offiziellen Reaktion auf seine Warnung – nun um seinen Beamtenstatus kämpfen muss.

Das Innenministerium ging damals sogleich daran, das Papier und den Mitarbeiter des Innenministeriums zu diskreditieren, und willfährige Journalisten – etwa beim Tagesspiegel – stimmten sogleich in das Lied ein: „Ein Beamter hat sich mit einer Pandemie-Recherche wichtig gemacht, die nun in den Medien kursiert. Schlimm ist das nicht – nur verantwortungslos“.

Horst Seehofer fühlte sich angesichts der massiven Schäden, die der Oberregierungsrat Stephan Kohn aus dem Referat Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz, Abteilung 4: Schutz kritischer Infrastrukturen voraussagte – damals selbst gefordert. Bei Maischberger beruhigte er persönlich die Zuschauer, dass die Bundesregierung alles im Griff habe. Inhaltliche Auseinandersetzung mit den Kohn-Warnungen? Fehlanzeige? Was den Minister jedoch erboste, war, dass sein Oberregierungsrat den Briefkopf des Ministeriums für seine Analyse verwendet habe.

In der Tat ein schweres Vergehen, denn es könnte ja darauf hinweisen, dass wenigstens ein einziger Beamter der Regierung seinen Job gemacht hatte. Hier der Wortlaut ab Seite 18 der Risikoanalyse, die ab Mai 2020 jedem Krisenstab in jedem Bundesland vorlag. Stephan Kohn nimmt dabei Bezug auf eine bereits bestehende Pandemie-Risikoanalyse aus dem Jahr 2012. Die Probleme durch Unterbrechungen von Lieferketten wurden in der Risikoanalyse beschrieben. Und auch, dass die Unterbrechung von Lieferketten zu Kaskadeneffekten führen kann:

„Generell ist zu berücksichtigen, dass Unternehmen die Auswirkungen der Pandemie selbst bei guter Planung und Vorbereitung ggf. nicht mehr kompensieren können (generelle Rationalisierungstendenzen: dünne Personaldecke, Abhängigkeit von Zulieferern, Just-in-Time-Produktion usw.). Dies kann sogar dazu führen, dass weltweit Produktionsketten zum Erliegen kommen.

Mit Blick auf vielfältige internationale Verflechtungen sind auch Versorgungsleistungen aus anderen Ländern für Deutschland von großer Bedeutung. Zahlreiche Güter und Dienste werden weltweit von nur wenigen Schlüsselproduzenten bereitgestellt. Somit könnten Ausfälle im Bereich importierter Güter und Rohstoffe auch in Deutschland zu spürbaren Engpässen und Kaskadeneffekten führen.“ (Seite 79)

Die beschriebenen Auswirkungen beobachteten wir bereits in der Coronakrise (obwohl die Fallzahlen bei weitem niedriger sind als die in der Szenario-Hypthese zurunde gelegten, woraus folgt, dass ihr Effekt sogar unterschätzt wurde). Gäbe es tatsächlich Tote in Millionenhöhe, wäre der gesellschaftliche Zusammenbruch kaum mehr abzuwenden.

Das Risiko dieses Zusammenbruchs ist umso größer, je länger in der Coronakrise die Schutzmaßnahmen von der Politik erzwungen werden.

„Im vorliegenden Szenario wird davon ausgegangen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich solidarisch verhält und versucht, die Auswirkungen des Ereignisses durch gegenseitige Unterstützung und Rücksichtnahme zu verringern. Ähnlich solidarische Verhaltensweisen wurden vielfach bei anderen Extremsituationen beobachtet. Gleichwohl ist es nicht auszuschließen, dass eine zunehmende Verunsicherung und das Gefühl, durch die Behörden und das Gesundheitswesen im Stich gelassen zu werden, aggressives und antisoziales Verhalten fördert.“ (Seite 79)“

Und nun kommt noch der Ukraine-Krieg hinzu. Die deutsche Politik will trotzdem unbedingt an Corona-Restriktionen festhalten. Auf Entscheidungen in dieser Sache wird die Öffentlichkeit schon vorbereitet. Gleichzeitig werden die Folgen dieser Politik nun allein dem Krieg zugeschrieben. Doch der hat nur verschärft, woran Deutschland bereits durch die Corona-Politik litt, denn die hatte der Lieferinfrastruktur jede weitere Belastbarkeit genommen.

Weitere Informationen zu der Geschichte um das Corona-Papier von Stephan Kohn finden Sie hier:

Dr. Gunter Frank: Das Corona-Papier: Wie das Innenministerium das Risiko heraufbeschwor

Dr. Rainer Grell: Das Corona-Papier: Hauptziel Schadensbegrenzung

Dirk Maxeiner: Horsts Antwort: Nicht zuhören, abwatschen, diffamieren

Dirk Maxeiner: Das Corona-Papier: So war es wirklich, Herr Seehofer

Die Achse des Guten: Das Corona-Papier: Wissenschaftler korrigieren Seehofer 

Dirk Maxeiner: Das Corona-Papier: Seehofer im Bunker

Dirk Maxeiner: Panik wie bestellt – ein neuer Blick auf die Affäre Stephan Kohn

 

„Mein Freund ist von einer Mücke gestochen worden, er sitzt jetzt im Rollstuhl.“

Beides wohl wahr, das mit dem Mückenstich und dem Rollstuhl, doch der vermittelte Eindruck, dass das eine irgendwie mit dem anderen zusammenhängt, täuscht! An lauen Sommerabenden sitzt mein Freund gern auf seiner Terrasse und wird da ständig von Mücken gestochen, letztens gar von einer besonders großen. Geschadet hat ihm das bislang nicht. Im Rollstuhl sitzt er auch nicht wegen eines Mückenstichs, sondern weil er sich ein Bein gebrochen hat.

Wie ich dann dazu komme, eine solche Geschichte daraus zu machen?

Ganz einfach, ich arbeite für eine Werbeagentur. An einer Kampagne für Mückenschutz-Mittel.

Und jetzt zur anderen Geschichte:

„Die Zahl der COVID-Fälle steigt täglich, die Intensivstationen drohen überzulaufen.“

So die besorgniserregende Nachrichtenlage zu Beginn der Erkältungssaison. Wieder ist es der vermittelte Eindruck, dass das eine irgendwie mit dem anderen zusammenhängt, der aus einem Alltagsereignis die Sensationsmeldung macht:

Ein Mückenstich, der einen Mann in den Rollstuhl zwingt; ein Erkältungsvirus, das Intensivstationen zum Überlaufen bringt. Vor so etwas muss man sich in Acht nehmen: Dick Mückenschutz auftragen und kräftig „boostern“! Sofern man mir und meinesgleichen die Geschichte abkauft.

Was ist dran an der Geschichte?

Dass die Zahl der Ansteckungen zu Beginn der Erkältungssaison steigt – geschenkt!

Dass damit auch die Zahl der Kranken steigt – logisch!

Aber wie viele von denen landen deswegen gleich auf der Intensivstation?

Sind es tatsächlich so viele, dass das zum Problem wird, oder sollen diesbezügliche Meldungen die Bevölkerung nur verunsichern und so zum Erfolg der Impfkampagne beitragen?

Was besagen denn die amtlichen Statistiken?   Weiter geht es hier.

In den 70ern gab es einen Rückgang der Geburten und der Storchpopulationen. Aber die Störche breiten sich dank Fördermaßnahmen wieder aus. Wenn deutsche Mütter für jedes Kind monatlich so viel Geld bekämen wie Migrantinnen, würde sich auch der Geburtenrückgang wieder erholen.

 

"Wer versteht, der rechtfertigt"

Ich kann nicht mehr tun, als den Menschen meiner Zeit signifikante Mosaiksteinchen anzubieten.


"Wer versteht, der rechtfertigt", sagte Amos Luzzatto sehr bedauerlicherweise vor Gymnasiasten in einem Vortrag über die Shoah (auf Primo Levi Bezug nehmend). Dieses sehr persönliche Dogma war damals eine fast geflüsterte, wenn auch sehr entschieden, unerbittlich deutlich gemachte Außenseiterposition; jetzt schallt sie aus den Gurgeln eines quasi einstimmigen deutschen Journalistenchors in Bezug auf einen Mann, der bisher nicht einmal so brutal vorgegangen ist wie Katherina die Große, die ihren Gatten ermorden ließ, um auf den Thron zu gelangen. In Deutschland ist das Nichtverstehen mindestens seit den 70-ern beliebter als das Verstehen. Damals unterstrich Peter Brückner, dass "die Dinge nicht einfach vom Himmel fallen" in einem Buch über die Radikalisierung Ulrike Meinhofs und Gudrun Ensslins. Ich glaube inzwischen, dass sie zum Teil tatsächlich vom Himmel fallen bzw. dass sie von unten, aus des Teufels Küche, wo der verdorbene Brei entsteht, den Leute wie Klaus Schwab, Claas Relotius, Karl Lauterbach und Lex Luthor zusammen mit den Köchen der Spectre zusammenrühren, als Ausdünstung des Freudschen Unbewussten und der Selbsbehauptungsenergien, die Konrad Lorenz als das "sogenannte Böse" bezeichnete (und Freud nicht wusste, ob er sie dem "Es", dem "Narzissmus" oder dem "Über-Ich" anlasten sollte), auch dann noch nach oben quillen werden, wenn Immanuel Kants und Francis Fukuyamas Wunschvorstellungen eines Tages tatsächlich wahr geworden sein sollten.

Primo Levi drückte sich in Wirklichkeit sehr viel vager, anspielender und behutsamer aus: «forse, quanto è avvenuto non si può comprendere, anzi, non si deve comprendere, perché comprendere è quasi giustificare». Übersetzt heißt das: "Vielleicht kann man, was geschehen ist, nicht verstehen bzw. darf man es nicht verstehen [wobei comprendere auch die Bedeutung "Verständnis dafür haben" hat], weil verstehen ja fast schon rechtfertigen ist". So drückte er sich in einem nachträglich geschriebenen Anhang seines Buches "Ist das ein Mensch?" aus. Primo Levis Vorsicht entspricht einer ganz anderen Absicht als es die Amos Luzzatos ist! Letzterem ging es darum, Deutungshoheit bei der politischen Bewertung der Vergangenheit und der Gegenwart zugunsten der italienischen Kommunisten durchzusetzen; dabei schreckte er nicht davor zurück, Primo Levi zu instrumentalisieren (die Methode der moralischen Erpressung, die inzwischen die deutschen Leitmedien auf die vorstellbar plumpeste Weise beherrscht, wandte Luzzatto noch sehr, sehr subtil an). 

Primo Levi dagegen versuchte uns für die anthropologische Bedeutsamkeit des "timor sacro", der "heiligen Scheu" zu sensibilisieren, die auch dem Gebot "Non adsumes nomen Domini Dei tui in vanum" zugrunde liegt. Man kann nicht alles begreifen, vor allem das Beste nicht und das Schlimmste nicht, deswegen gelten beide als unnennbar. Man soll nicht vom Teufel sprechen, weil man ihn dadurch auf den Plan rufen könnte, und in der jüdischen Religion soll man nicht einmal Gottes Namen nennen, weil dies eine unzulässige Reduzierung dessen auf ein ungeeignetes Wort wäre, von dem man laut Maimonides allenfalls sagen kann, was ER nicht ist.

Ich ziehe das Verstehen dem Nichtverstehen allemal vor. Das ist eine Frage des Temperaments. Wahrheit ist jedoch nur das Zweitbeste, was wir haben können. Denn sie ist gefährlich: Wenn sie göttlich ist, erzeugt sie Neid, wenn sie teuflisch ist, erzeugt sie Unruhe; deshalb halten Mütter sie unter Verschluss

Die Tatsache, dass die Liebe wichtiger ist als die Wahrheit, kann einem allerdings auch zum Verhängnis werden: All den von moralischer Eitelkeit durchdrungenen Gutmeinenden, die heute das Leben in Deutschland mehr und mehr zur Hölle machen, wurde diese Tatsache zum Verhängnis.

 

Mittwoch, 30. März 2022

Glaubt man's

„Ein Kunde, der mit seinem Fahrzeug ihre Einfahrt blockiert hat, habe gedroht, ihr ‚auf die Fresse’ zu hauen, schildert die Anwohnerin [Muslima] in einer Mail an Udo Bausch (OB). Danach habe er versucht, sie zu überfahren. ‚Er stieg in sein Auto, gab Vollgas und raste auf mich zu. Er versuchte tatsächlich, mich zu überfahren! Ich konnte gerade noch zur Seite springen und das Auto schoss an mir vorbei’, schildert sie die erschütternden Erlebnisse.

Die Polizei konnte einen 35-jährigen Darmstädter als Beschuldigten ermitteln. Seit vergangenem Juni lag die Anzeige wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung, Nötigung und Bedrohung bei der Staatsanwaltschaft. Mittlerweile ist der Beschuldigte zu 5 Jahren Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt.

In Wirklichkeit war es allerdings so:

Ein Kunde, der mit seinem Fahrzeug ihre Einfahrt blockiert hat, habe gedroht, ihr ‚auf die Fresse’ zu hauen, schildert die Anwohnerin [Ureinwohnerin] in einer Mail an Udo Bausch (OB). Danach habe er versucht, sie zu überfahren. ‚Er stieg in sein Auto, gab Vollgas und raste auf mich zu. Er versuchte tatsächlich, mich zu überfahren! Ich konnte gerade noch zur Seite springen und das Auto schoss an mir vorbei’, schildert sie die erschütternden Erlebnisse.


Die Polizei konnte einen 35-jährigen Darmstädter als Beschuldigten ermitteln. Seit vergangenem Juni lag die Anzeige wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung, Nötigung und Bedrohung bei der Staatsanwaltschaft. Mittlerweile wurde das Verfahren mangels hinreichendem Tatverdachts eingestellt. Der Beschuldigte habe die Tat bestritten, weitere Zeugen seien nicht bekannt, so die Staatsanwaltschaft.

(Quelle: Rüsselsheimer Echo, 29.03.2022, S. 9 ‚Mit dem Ramadan kommt das Chaos’)”

Was mag der Ukrainer der maskierten Völkerrechtlerin auf seinem Händi zeigen? Seinen Impfnachweis?

 

Putin laut FAZ

 

Die „Zeitung für Deutschland” erklärt die Weltlage. Das erinnert mich an den alten Fatalistenscherz, der Führer habe die Russen erst bis zu den Seelower Höhen gelockt, um sie von dort leichter zurücktreiben zu können. Putin seinerseits (den man nach neuen deutschen Pressestandards mit Hitler vergleichen darf) hat also die Amis bis ins Baltikum und in die Ukraine gelockt, um sie besser aus Europa vertreiben zu können. Das ging bei dem einen Feind der Menschheit so schief wie bei dem anderen.

Wer kauft so was?

Klima der Angst


Ulrich Wickert, damals Redakteur bei Monitor, später bekanntlich „Mister Tagesthemen”, zum „Radikalenerlass” von 1972 (hier bei 23.15): „Leider ist es so, meine Damen und Herren, dass zu viel Denken und eine eigene Meinung haben in unserem Staat gefährlich werden kann – zumindest dann, wenn man Beamter werden will. Es wird ein Klima des Duckmäusertums und der Anpassung geschaffen.”

Der Unterschied zur heutigen Verfolgung von Falschdenkern im Staatsdienst und anderswo bestand darin, dass weiland die RAF den Zenit ihres mörderischen Treibens erreicht hatte. Die Reanimation des Radikalenerlasses durch die linksradikale Innenministerin Nancy Faeser, SPD, richtet sich bekanntlich gegen Beamte in der AfD, einer Partei, die bislang vornehmlich als Opfer von Straftaten in Erscheinung tritt, wobei die Täter aus einem früher staats‑, heute oppositions‑, aber immer verfassungsfeindlichen Milieu stammen, mit dem die Innenministerin offen sympathisiert. Kecke Journalisten, die das aussprechen oder gar kritisieren, gibt es im Klima des Duckmäusertums und der Anpassung natürlich nicht mehr.


Kurz vor der Abschaffung des Bargelds, die uns endgültig ins Korsett der Algorithmen zwängen wird

 

„An den Ballsaaltüren steht manchmal angeschrieben: ‚Heute Maskenzwang’. Ich träume von einer Lustbarkeit, die unter dem Leitspruch vonstatten geht: ‚Heute Gesichterzwang’.”   Anton Kuh

Holland ist ansteckender als Sars-CoV-2

 


Es ist nicht zu fassen

Kubicki kann einem auch leid tun

Ich werde nie vergessen, wie ich 1985 zu der Überzeugung kam, das Jahr 2000 werde der Herr erst dann werden lassen, nachdem (zumindest in Italien) ein erheblicher Rechtsruck erfolgt sein würde (der dann 1994 glücklicherweise eintraf). Damals war Italien auf eine unerträgliche Weise linkskonformistisch, schlimmer noch als das heutige Deutschland linkskonformistisch ist (und das will was heißen).

Ich werde ebenfalls nie vergessen, wie ich 1989 wenige Wochen nach dem Mauerfall zu dem Schluss kam, dass kontrapunktistisch zu dieser unvermeidlichen Rechtsdrift jedoch das Zusammenwachsen Europas zu einer Sozialdemokratisierung Europas führen werde.

Aber dass es so schlimm kommen würde, wie es dann tatsächlich gekommen ist - denn, was wir erleben, ist ja keine Sozialdemokratisierung, sondern eine DDRisierung - das hätte ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen können.

Solschenyzin 2018

Mit seinem Glauben an eine zivilisatorische Mission Russlands erwies sich Alexander Solschenizyn am Ende seines Lebens trotz seiner Dissidenz zum Sowjetstaat als natürlicher Verbündeter Putins. Zu seinem 100. Geburtstag, am 10. 12. 2018 erschien sein unbedingter Wahrheitsanspruch den Polittechnologen im Kreml jedoch wieder unbequem.

In einem Punkt stimmen Alexander Solschenizyns Anhänger und Gegner auch heute in Russland überein: Er durchlebte eine «schwierige» Biografie. Damit enden aber schon alle Gemeinsamkeiten. Seine Fans verehren Solschenizyn als mutigen Kämpfer für die Freiheit des Wortes. Seine Feinde beschimpfen ihn als Verräter, der die positiven Aspekte der Sowjetzeit verleumde. Die tiefen Gräben in der Bewertung des Literaturnobelpreisträgers haben sich erst nach dem russischen Schicksalsjahr 2014 aufgetan. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte es so ausgesehen, als könne Solschenizyn eine neue geistige Einheit Russlands verbürgen.

Mit seinem feinen Gespür für publikumswirksame Auftritte besuchte Präsident Putin den berühmten Schriftsteller bereits im September 2000. Er besprach mit ihm die Idee eines Denkmals für Piotr Stolypin, der als Premierminister nach der ersten Revolution von 1905 die Modernisierung des russischen Staates energisch vorangetrieben hatte. Putin betrachtet Stolypin wegen seines autoritären und effizienten Regierungsstils seit je als politisches Vorbild. Für Solschenizyn war Stolypin jener russische Geschichtsheld, der die revolutionären Katastrophen des Jahres 1917 hätte abwenden können, wäre er nicht 1911 von einem Terroristen ermordet worden.

Für einen starken Staat

Überhaupt zeigte sich Solschenizyn davon überzeugt, dass nur ein starker Staat das Überleben der russischen Nation garantieren könne. Deshalb hielt er sorgfältige Distanz zu allen Protestbewegungen in der Ära Putin. Anfang 2001 blieb Solschenizyn einem Moskauer Kongress fern, der von über dreihundert russischen Menschenrechtsorganisationen als Zeichen gegen den Demokratieabbau und den wachsenden Einfluss der Sicherheitsdienste unter Putin organisiert worden war. Als der Kreml wenig später den kritischen Fernsehsenders NTV durch eine erzwungene Handänderung disziplinierte, fand Solschenizyn keine tadelnden Worte. Im Jahr 2005 ging in der russischen Präsidialadministration die Angst vor einer «Farbrevolution» nach georgischem oder ukrainischem Vorbild um. Auch in dieser Situation unterstützte Solschenizyn den Kreml moralisch. In einem Fernsehinterview des staatlichen Kanals Rossija verglich er die «orange Revolution» in Kiew mit der Februarrevolution 1917 und warnte vor einem Abgleiten ins Chaos. Der Schriftsteller bekräftigte diese Sicht im April 2006, als er in einer konservativen Moskauer Zeitung die USA für die Unterstützung der ukrainischen Proteste kritisierte und Putin für seine Bemühungen um die Wahrung der russischen Staatlichkeit lobte. Wenig später bedankte sich Putin symbolisch bei Solschenizyn, indem er seinen Namen in der Rede zur Lage der Nation erwähnte.

2007 erhielt Solschenizyn sogar einen Staatspreis. Aus diesem Anlass besuchte Putin den gebrechlichen Schriftsteller in seiner Moskauer Wohnung und erklärte nach dem Treffen, dass seine Vorstellungen über den zukünftigen russischen Staat mit Solschenizyns Position harmonieren. Diese zur Schau gestellte Einmütigkeit erstaunte umso mehr, als Solschenizyn noch 1998 die Verleihung des höchsten Ordens aus den Händen des damaligen Präsidenten Jelzin abgelehnt hatte. Damals begründete der Schriftsteller seine Weigerung damit, dass er keine Auszeichnung von einer Staatsmacht annehmen könne, die Russland in den Abgrund geführt habe.

Gelegenheit zur historischen Legitimierung

Auf den ersten Blick erscheinen Solschenizyn und Putin als höchst ungleiches Paar. Hier der unerschrockene Kämpfer gegen den repressiven Sowjetstaat, dort der Karrierist, der stolz auf seine Vergangenheit als Geheimdienstoffizier blickt. Der Schriftsteller und der Staatslenker fanden sich jedoch in vier Punkten: Beide gingen davon aus, dass sich die russische Staatlichkeit auch auf Belarus und die Ukraine erstrecken müsse, beide unterstrichen die Wichtigkeit der orthodoxen Kirche für die russische Kultur, beide kritisierten die Medienabhängigkeit der westlichen Demokratie, und beide sprachen sich gegen den Raubtierkapitalismus der Oligarchen aus. 

Für die Polittechnologen des Kreml war klar, dass sich mit Solschenizyn eine einzigartige Gelegenheit zur historischen Legitimierung und kulturellen Veredelung eines genuin russischen Wertekanons bot. Als Solschenizyn im Jahr 2008 starb, wurde er feierlich auf dem Moskauer Donskoi-Friedhof neben dem konservativen Philosophen Iwan Iljin und dem zaristischen Historiker Wassili Kljutschewski beigesetzt. Putin nahm persönlich an der Zeremonie teil. Wenig später liess die Spitze der Regierungspartei verlauten, dass sie auch in Zukunft Solschenizyns Ideen als ihre ideologische Grundlage betrachte. In Moskau wurde noch im selben Jahr die Große Kommunistische Strasse in Alexander-Solschenizyn-Strasse umbenannt.  

Der damalige Präsident Medwedew nahm für diese Hommage sogar die Verletzung eines Gesetzes in Kauf, das die Benennung einer Straße frühestens zehn Jahre nach dem Tod der namengebenden Persönlichkeit erlaubt. Bereits im Juli 2014 unterzeichnete Putin einen Ukas, der die Hundertjahrfeier von Solschenizyns Geburtstag regelte. Diese frühe Ankündigung zeugte von der symbolischen Wichtigkeit dieses Ereignisses in der offiziellen Gedächtnispolitik – zumindest zum damaligen Zeitpunkt. Zum Vergleich: Den entsprechenden Ukas für das unbequeme 100-Jahr-Jubiläum der Oktoberrevolution erließ Putin mit der extrem knappen Vorlaufzeit von zehn Monaten.

Erstaunlich ruhig

Allerdings ist es in Russland bisher erstaunlich ruhig um Solschenizyns hundertsten Geburtstag geblieben. Von der angekündigten wissenschaftlich kommentierten Ausgabe des «Archipel Gulag» hört man nichts. Das geplante Solschenizyn-Museum in Moskau wird erst nach dem eigentlichen Jubiläum eröffnet. Auch das angekündigte Denkmal beim Taganka-Platz entsteht erst in letzter Minute. Ein weiteres Denkmal in Solschenizyns Geburtsstadt Kislowodsk wurde von einer rechtspopulistischen Bewegung bekämpft. In einem offenen Brief erklärten die Demonstranten, dass Solschenizyn die heldenhafte russische Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Schmutz ziehe und sich im Kalten Krieg auf der Seite des amerikanischen Feindes gegen den Sowjetstaat engagiert habe. 

Eine Gruppe radikaler Neokommunisten forderte, im Jahr 2018 nicht den hundertsten Geburtstag des «Geschichtsfälschers» Solschenizyn zu begehen, sondern den hundertfünfzigsten Geburtstag des «großen Sowjetschriftstellers» Maxim Gorki. Mitglieder der patriotischen Bewegung «Das Wesen der Zeit» führten Mahnwachen durch. Sie trugen Schilder in den Händen mit der warnenden Aufschrift: «Wenn unsere Kinder mit Solschenizyn lernen, dann bekommen wir weitere Reueauftritte im Bundestag.» Damit wurde auf die Rede eines russischen Schülers am Volkstrauertag 2017 vor dem deutschen Parlament angespielt – der Junge hatte vom «unschuldigen Tod» eines Wehrmachtsoldaten auf sowjetischem Boden gesprochen und damit in Russland eine Welle der Empörung ausgelöst. Nun sind solche Pöbeleien gegen Solschenizyn wahrscheinlich nur vorgeschoben. Der große Mahner ist wieder unbequem geworden, weil sein berühmter Aufruf «Lebt nicht mit der Lüge!» im heutigen Russland eine fatale Resonanz auslösen könnte. Solschenizyn hatte sich mit diesem flammenden Plädoyer zu Beginn der siebziger Jahre an die russische Intelligenzia gewandt und sie im verlogenen Sowjetsystem auf die bedingungslose Hochachtung der Wahrheit verpflichtet. Dieses Programm erhält eine neue Aktualität, wenn grüne Männchen auf der Krim auftauchen, Soldaten ihre Ferien kämpfend im Donbass verbringen und russische Touristen die Kathedrale von Salisbury bewundern.   NZZ

 

Solschenyzins als Buch "Offener Brief (an die sowjetische Führung)" erschienener Aufruf "Lebt nicht mit der Lüge!" sollten auch die bundesdeutschen Wähler lesen, in Zeiten, in denen Claas Relotius von seinen Kollegen mit Preisen überhäuft wurde. Ich fand die Lektüre schon 1976 (und mehr noch 1977) erbaulich. Damals erstand ich auch "Drei Reden an die Amerikaner" die Solschenyzin vor amerikanischen Gewerkschaften gehalten hatte (unter anderem zum heute heiß umworbenen Thema Ökologie). Dass Solschenyzin heute von der woken Meute verleumdet wird, ist nicht nur eine himmelschreiende Geschmacklosigkeit, sondern ein unheilvolles Zeichen. Die jungen Menschen von heute sind nicht zu beneiden.




 

Solschenyzin 2006

Welt: In Rußland ist viel von nationalen Projekten - von einer Reform des Gesundheitswesens bis hin zur Reform der Landwirtschaft - die Rede. Was halten Sie davon?

Solschenizyn: Wenn das Schiff 99 Lecks hat, kann man nicht alle sofort stopfen. Tatsächlich haben all diese Projekte zu Recht den Anspruch, "nationale Projekte" genannt zu werden. Sie sind wichtig und unaufschiebbar. Was die Landwirtschaft und das vernichtete Dorf anbelangt (...), dieses nicht erst seit einem Jahrzehnt ausgebrannte und zerstörte russische Dorf: Hier gibt es die absolut vorrangige Notwendigkeit zu handeln. Anderenfalls werden wir nicht nur in eine hungrige Abhängigkeit hineingezogen, sondern verlieren auch das Recht, den Grund und Boden unseres Landes zu bewirtschaften.

Welt: Es ist anzunehmen, daß Sie dem noch ein demographisches Projekt hinzufügen würden. Was ist nötig, um Rußland vor dem Aussterben zu bewahren?
 
Solschenizyn: Ja! Das "Bewahren des Volkes" - was seine Zahl anbelangt und auch seine physische und moralische Gesundheit - ist die höchste unserer staatlichen Aufgaben. (...) Alle Maßnahmen, um das Lebensniveau des Volkes zu heben, zielen darauf ab, unser Volk zu bewahren.


Welt: Rußland braucht ein demokratisches System. Vollwertige politische Parteien haben es jedoch schwer. Als Parteiengründer betätigt sich vor allem der Kreml.

Solschenizyn: Parteien wachsen schlecht bei uns, weil sie für uns eine unnatürliche Form darstellen. Unsere heutigen Parteien behindern nur die Entwicklung der Demokratie. (Ich habe des öfteren gesagt, daß ich die Idee "politischer Parteien" als Form eines "kollektiven Egoismus" auf Kosten anderer verurteile. Ich will nur an den Satz Trotzkis erinnern: "Eine Partei ist nichts wert, wenn sie nicht das Ziel hat, die Macht zu erlangen.") (...) Eine Demokratie, die auf der Ebene der existierenden örtlichen Selbstverwaltungsorgane beginnt und Stufe für Stufe bis zur Obersten Landesversammlung reicht, ist meines Erachtens die gesündeste Demokratie (...).

Welt: Rußland hat sich das demokratische System des Westens zueigen gemacht. War das richtig?


Solschenizyn: Wir haben tatsächlich so gehandelt wie ein Affe ohne Sinn und Verstand. Die heutige westliche Demokratie steckt in einer ernsthaften Krise, und man kann noch nicht ahnen, wie sie da herauskommen will. Für uns besteht der richtige Weg darin, keine Muster abzupausen, sondern sich, ohne von demokratischen Prinzipien abzukehren, um das physische und moralische Wohlergehen des Volkes zu kümmern.


Welt: Metropolit Kirill, einer der höchsten Würdenträger der Russisch-Orthodoxen Kirche, hat eine neue Definition von Menschenrechten in Rußland gefordert.

Solschenizyn: Metropolit Kirill hat zurecht darauf hingewiesen, daß die "Realisierung der Freiheiten nicht die Existenz des Vaterlandes bedrohen, weder religiöse noch nationale Gefühle verletzen darf". Diese heiligen Werte sind nicht weniger wert als die "Menschenrechte". Grenzenlose "Menschenrechte" - das ist das, was unsere Vorfahren, die Höhlenmenschen, hatten: Nichts konnte ihn daran hindern, seinem Nachbarn erjagtes Fleisch abzunehmen oder ihn zu töten. Daher brauchte jede Gesellschaft eine (...) herrschende Schicht. Im Laufe der Jahrhunderte behielt sie diese "Rechte", jedoch die Masse wurde eingeschränkt. Seit der Aufklärung hören wir vieltausendfach von "Menschenrechten", und in einer Reihe von Ländern sind sie in großem Umfang umgesetzt, nicht immer jedoch im Sinne der Moral. Jedoch: Was ist mit der Verteidigung der "Menschenpflichten"? Selbst die Aufforderung zur Selbstbeschränkung wird als unstatthaft gesehen. Doch gerade die Zurückhaltung gibt uns einen moralischen und zuverlässigen Ausweg aus allen möglichen Konflikten.

Welt: Wie kann die Gesellschaft aus der moralischen Krise finden?
 

Solschenizyn: Die staatliche Macht ist in ihrem Handeln noch mehr der Verantwortlichkeit verpflichtet als der gemeine Bürger, den moralischen Rahmen einzuhalten. Ich sehe hier den Ausweg darin, daß sich besonders die Leute, die sich zur Aufgabe gemacht haben, die gesellschaftliche Meinung zu beeinflussen, einer bewußten Selbstbeschränkung unterziehen.

Welt: In Rußland gehört es für einen Politiker zum guten Ton, sich als konservativ zu bezeichnen. Was stellt für Sie der moderne russische Konservatismus dar?

Solschenizyn: Ich halte den Konservatismus für das Streben, die besten und vernünftigsten Traditionen, die sich im Laufe von vielen Jahrhunderten in den Handlungen des Volkes als richtig herausgestellt haben, zu erhalten und zu verteidigen. Der Konservatismus, dessen Keime jetzt in Rußland sprießen, wurde geboren als natürliche Antwort auf hemmungslose Haltlosigkeit. Er gibt Hoffnung, wirkt aber noch immer wie ein Versuch, noch nicht ausgearbeitet für die Gegenwart.
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Welt: In Rußland gab es zuletzt zahlreiche fremdenfeindliche Übergriffe, weshalb nun von einem Aufkeimen des russischen Nationalismus, gar Faschismus die Rede ist. Besteht eine solche Gefahr?

 Solschenizyn: Xenophobie ist den Russen historisch nicht eigen, anderenfalls hätte das Imperium nicht aus 120 Nationen bestanden. Mit dem Wort "Faschismus" wird bei uns verantwortungslos um sich geworfen. Der deutsche Nationalsozialismus begründete sich auf der überhöhten Selbsteinschätzung der deutschen Nation (gefüttert lange vor Hitler) - diesen Vorwurf kann man dem heutigen russischen Volk nicht machen. Mit dem Zusammenbruch aller sozialen Garantien und mit dem Beginn der Ära der freien Meinungsäußerung fanden auf gefährliche Art und Weise, häßlich und verzerrt, aggressive Auswüchse, Überfälle und Morde statt, verübt von einer nicht aufgeklärten Jugend. Ja, wir brauchen staatliche Maßnahmen, um derartige wilde Überfälle und Mordtaten zu verhindern. Und wir brauchen eine klare Untersuchung und Analyse der Gründe dieser aggressiven Stimmungen.

Welt: Gibt es einen "Konflikt der Zivilisationen zwischen Christentum und dem Islam? Was kann Rußland in dieser Situation tun?

Solschenizyn: Den globalen Konflikt könnte man am exaktesten so charakterisieren: Die Dritte Welt gegen die Goldene Milliarde. (...) Die Theorie des "Konfliktes der Zivilisationen" verschleiert den abgrundtiefen Unterschied im Wohlstand der Erdbevölkerung. Selbst wenn der christliche Einfluß im globalen Kontext nachläßt und der Islamismus sich kämpferisch gibt, sehe ich dennoch (...) keine Möglichkeiten für den Ausbruch von Religionskriegen, die den Planeten oder ganze Kontinente ergreifen könnten.

 Welt: Sehen Sie eine Islamisierung Rußlands?

Solschenizyn: (...) Die Politik des russischen Staates, die darauf zielt, eine friedliche und von gegenseitiger Achtung geprägte Koexistenz mit dem Islam zu ermöglichen, ist richtig. Wenn man sich jedoch das physische Aussterben des russischen Volkes vor Augen führt, existiert natürlich die Perspektive, daß die russische Kultur auf dem Territorium Rußlands von anderen Religionen und Kulturen (darunter der chinesischen) abgelöst wird. (...)

Welt: Gibt es denn eine Rettung für die euro-atlantische Zivilisation?

Solschenizyn: Der globale politische Prozeß bewegt sich leider nicht in die gewünschte Richtung. Die USA stellen ihre Besatzungstruppen in einem Land nach dem anderen auf. Das ist de facto in Bosnien so, in Kosovo, Afghanistan und im Irak, wird aber noch lange fortdauern. Die Handlungen der Nato und der USA unterscheiden sich nur in Details. Es ist klar ersichtlich, daß das heutige Rußland keine Bedrohung für sie darstellt, dennoch baut die Nato hartnäckig ihre militärische Struktur aus - in Richtung Osteuropa und, um Rußland als Kontinent zu umschließen, von Süden her. Das gilt auch für die offene materielle und ideologische Unterstützung der "bunten Revolutionen" und das paradoxe Eindringen nordatlantischer Interessen nach Zentralasien. All das läßt keinen Zweifel daran, daß eine völlige Umzingelung Rußlands vorbereitet wird - mit dem anschließenden Verlust der Souveränität Rußlands. Eine Anbindung Rußlands an eine solche euroatlantische Allianz (...) würde nicht zur Ausweitung, sondern zum Niedergang der christlichen Zivilisation führen.


Welt: Welche Ideologien dominieren? Ist es noch der Liberalismus?


Solschenizyn: Der "totale Liberalismus" hat sich im globalen Maßstab erschöpft, seine Frist läuft ab. An seine Stelle treten anderen Formen des gesellschaftlichen und staatlichen Bewußtseins.

Welt: Wie stehen Sie zu den Ereignissen in der Ukraine?

Solschenizyn: Was in der Ukraine geschieht (...) erfüllt mich mit ständiger Trauer und Schmerz. Die fanatische Unterdrückung und Verfolgung der russischen Sprache ist nicht nur eine barbarische Maßnahme, sondern richtet sich auch gegen die kulturellen Perspektiven der Ukraine selbst (...) Rußland hat kein Recht, gleichgültig die russische Bevölkerung mit ihren vielen Millionen Einwohnern in der Ukraine zu verraten.

Das Interview führte Vitali Tretjakow, Chefredakteur der Moskauer Wochenzeitung Moskowskije Nowosti“. Die Fragen wurden schriftlich gestellt, wir dokumentieren eine gekürzte Fassung des Gesprächs. Übersetzung: Jens Hartmann

Finlandisierung

Es wird sich zeigen, ob es nun zur Finlandisierung der Ukraine kommt, oder ob es eine Finlandisierung ganz Europas wird. Dürrenmatt sagte einmal, nur durch Verschweizerung ganz Europas werde die EU Bestand haben können (nein, er drückte sich viel drastischer aus: "Die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern"). Ein waches Europa muss daher aus der angestrebten Finlandisierung Europas in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eine Verschweizerung machen und im Zuge dessen Russland europäisieren.

Genau wie Berlusconi es vorhatte. Dieser schrieb im Mai 2015 an den Corriere della Sera: «Caro direttore, l’assenza dei leader occidentali alle celebrazioni a Mosca per il settantesimo anniversario della Seconda guerra mondiale è la dimostrazione di una miopia dell’Occidente che lascia amareggiato chi […] ha operato incessantemente per riportare la Russia, dopo decenni di Guerra fredda, a far parte dell’Occidente. La scelta di non essere presenti a Mosca è prima di tutto una mancanza di rispetto al contributo decisivo della Russia alla vittoria su Hitler nel 1945. […]

Naturalmente il regime di Stalin era un regime criminale, ma il sangue versato dai soldati russi (si calcolano 20 milioni di morti) per una causa che era anche la nostra meriterebbe ben altra considerazione. Quello che stiamo commettendo è un errore di prospettiva. Quella tribuna sulla piazza Rossa, sulla quale di fianco a Putin siederanno il Presidente cinese, il Presidente indiano, gli altri leader dell’Asia, non certificherà l’isolamento della Russia, certificherà il fallimento dell’Occidente.
Davvero pensiamo, dopo decenni di guerra fredda, che sia una prospettiva strategica lucida quella di costringere la Russia ad isolarsi? Costringerla a scegliere l’Asia e non l’Europa? Crediamo che questo renderà il mondo un luogo più sicuro, più libero, più prospero? Nell’attuale scenario geo-politico l’Occidente ha di fronte due sfide, quella economica delle potenze emergenti dell’Asia e quella politica e militare dell’integralismo islamico. Per sostenere queste sfide è fondamentale avere la Russia dalla nostra parte. Ciò sarebbe coerente d’altronde con la storia e la cultura della Russia, che è per vocazione un grande paese europeo.

Perché allora isolare Putin? Perché costringerlo ad alzare i toni della sfida con l’Occidente? Perché invitarlo a considerare la Federazione Russa una potenza asiatica? È vero, con la Russia ci sono delle serie questioni aperte. Per esempio la crisi ucraina. Ma sono problemi che è ridicolo pensare di risolvere senza o contro Mosca. Anche perché in Ucraina coesistono due ragioni altrettanto legittime, quelle del governo di Kiev e quelle della popolazione di lingua, cultura e sentimenti russi. Si tratta di trovare un compromesso sostenibile fra queste ragioni, con Mosca e non contro Mosca.

Certo, siamo consapevoli delle ragioni dei Paesi baltici che hanno sofferto l’espansionismo sovietico. È ovvio che dobbiamo farci carico della loro sicurezza. Ma tale sicurezza si garantisce meglio con una Federazione Russa parte integrante dell’Europa e dell’Occidente, o con una Federazione Russa asiatica, isolata e conflittuale?».

Solschenyzin hatte sich bereits 2006 ähnlich geäußert und Kissinger 2014 ebenfalls.

An alle woken Eiferer: Finger weg von Dostojewski und Solschenyzin!

Zum ersten, zum zweiten und zum dritten!

Dienstag, 29. März 2022

 

Die Trends unserer Zeit

 

Lob auf den Scholzomat

 

Köppel äußert die Ansicht, dass die wahre Politik Deutschlands nicht die der Politiker ist, sondern die der Verwaltungsbeamten (und das Scholz wie kein anderer diese Verwaltungsbeamten verkörpert). Das deckt sich mit meiner Beobachtung, dass Deutschland Italien immer ähnlicher wird: In Italien hatte ich bisher nur während der ersten 10 Jahre Berlusconi immer wieder mal und konstant jetzt, wo Draghi in diesem Sessel sitzt, den Eindruck, dass es tatsächlich eine Regierung gibt. Dass es unerheblich ist, ob Deutschland eine Regierung hat oder nicht, ist ein Gefühl, dass während Merkels Zeit immer stärker spürbar wurde. Es wäre nicht so schlimm, wenn nicht gleichzeitig eben doch Gesetze verabschiedet würden, die dann auch Wirkungen haben (gegen die kein Verwaltungsbeamter qua Interpretation ankommen kann), wie z.B. die Beseitigung der Wehrhaftigkeit und generell die Ausbreitung des Chaos, welches irgendwann den Ruf nach Ordnungsmacht immer lauter werden lassen wird. Und der Himmel bewahre uns davor, dass die rotgrünwoke Faschingsgarde, die zur Zeit an den Hebeln herumfuhrwerkt diese Ordnungsmacht dann stellt, um das Chaos zu beherrschen, dass sie selbst mehr volens als nolens fördert. 

Montag, 28. März 2022

Bitte keine Halbwahrheiten

„Hätte die durch einen von den USA orchestrierten Coup 2014 an die Macht gelangte Regierung ausdrücklich auf einen Beitritt zu NATO und EU verzichtet, so wie zum Beispiel die Schweiz, und hätte man die beiden daraufhin abtrünnigen russischsprachigen Provinzen im Osten des Landes gehen lassen, anstatt sie zu schikanieren und terrorisieren, und hätte man so die potentielle Bedrohung für Russland reduziert, wäre es mit großer Sicherheit nicht zur gegenwärtigen Katastrophe gekommen”, kommentiert der libertäre Denker Hans-Hermann Hoppe den Krieg auf der Webseite des Ludwig von Mises-Instituts.
„Auf anhaltenden Druck der USA, kombiniert mit eigener Dummdreistigkeit, tat die ukrainische Regierungsclique nichts dergleichen und forderte weiterhin eine NATO-Mitgliedschaft. Damit wäre die Militärpräsenz der USA bis unmittelbar an die Grenze des zum Feindstaat erklärten großen Russlands ausgedehnt worden. Niemand konnte deshalb daran zweifeln, dass das Verhalten der ukrainischen Regierung von russischer Seite aus als ungeheure Provokation und ernsthafte Bedrohung wahrgenommen würde. Das tatsächliche, mittlerweile vorliegende Ergebnis dieser Provokation war zwar nicht vorhersehbar, aber es war durchaus vorhersehbar, dass das eigene Verhalten auch eine russische Reaktion wie die tatsächlich erfolgte wahrscheinlicher machen würde.
Der Krieg in der Ukraine, wie so oft in der Geschichte, hat also keineswegs nur einen Vater, Putin, sondern mehrere. Die derzeit überall im Westen verbreitete, völlig einseitige anti-Russland Hysterie und Hetze ist deshalb nicht nur faktisch inkorrekt, sondern sie soll vor allem von der eigenen Rolle in dem gegenwärtigen Drama ablenken. Und sie soll uns vergessen machen, dass die USA und ihre NATO-Vasallen während der letzten 30 Jahre weit mehr Kriegstote und Kriegsschäden zu verantworten haben als Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und gegenwärtig in der Ukraine.“
 


 

Gestern noch Verschwörungstheorie


 Hier der Artikel

Rechtsunsicherheit breitet sich weiter aus

Die Welt ist am Überschnappen. Besonders das immer noch und ständig mehr mit der Hitlerkompensation beschäftigte Deutschland läuft wieder mal aus der Spur. Man hat den Eindruck, die Deutschen sind glücklich über diesen Krieg, als einer Gelegenheit, sich endlich einmal für ein erniedrigtes Volk aufopfern zu können, in der irrigen Meinung, dadurch die Auschwitzsünde loswerden zu können; und wenn dabei die Welt zugrunde geht. Und wenn dabei die Welt zugrunde geht. Man kann nur noch hoffen, dass Putin nicht so irrational ist. Aber im Moment sieht es eher aus, als erreiche er das genaue Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hatte.

Mein Großvater väterlicherseits sagte immer wieder: "Wie man's macht, macht man's verkehrt". Die Deutschen können einem wirklich leid tun. Man kann ihr Seelenleben auch daran erkennen, wie unterschiedlich die spontanen Reaktionen auf die Flüchtlinge sind, je nach dem, ob sie aus dem Orient kommen (und gar keine richtigen Flüchtlinge sind, sondern zu Glücksrittern mutierte Deserteure, die man in Saudiarabien oder anderen arabischsprachigen Ländern nicht will bzw. die dort nicht hinwollen) oder ob sie nur aus dem Osten kommen (und echte Flüchtlinge, also Frauen und Kinder sind). Den indoeuropäischen, christlichen Familien aus dem Osten, deren Männer nicht desertieren, wird spontan von deutschen Familien (gern auch von kinderlosen Paaren!!) Aufnahme angeboten: Hier ist die spontane Bereitwilligkeit und solidarische Identifikation auch eine Geste der Zärtlichkeit gegenüber der geächteten Erinnerung an die vergessenen Opfer des Zweiten Weltkriegs, nämlich an die durch Flucht und Vertreibung gepeinigten Deutschen, die selbst heute noch verleumdet werden, wenn jemand an die an ihnen begangenen Verbrechen erinnert. Berechtigtes Selbstmitleid, berechtigter Hass gegenüber Stalin und berechtigter Hass auf Putin finden zueinander, und es entsteht endlich wieder einmal ein Hauch von Schicksalsgemeinschaft in Deutschland. Es schweißt zwar nicht zusammen, aber es fühlt sich wenigstens so ähnlich an. Ganz anders war die Reaktion 2015 gegenüber den Orientalen: Es wurden im Überschwang der Gefühle zwar Bürgschaften übernommen, aber als die Bundesbürger merkten (sehr bald), dass ihre Schutzbefohlenen diese Bürgschaften schändlichst und schamlos ausnützten, wollten sie diese Bürgschaften schleunigst wieder loswerden (was die Behörden, das Recht beugend, auch gewährten), während nun, wo es sich um echte Flüchtlinge handelt (die - das ist die Kirsche auf der Torte - Wert darauf legen, nicht als Flüchtlinge gelten zu wollen, sondern sich als "Reisende" bezeichnen; gewissermaßen ein unerfreulicher Eiertanz auf einem Nebenschauplatz) sogar so etwas wie ein entschlossener Wille zu beobachten ist, die impulsive Aufnahmebereitschaft durchzuhalten und persönliche Integrationshilfe gegenüber den "Reisenden" sich zur Lebensaufgabe zu machen, wohin die Reise auch gehen wird. Wohin die Reise auch gehen wird. Wie frau's macht, macht frau's verkehrt.

Dem Himmel sei Dank, dass es Köppel gibt. Ich könnte ihm gar nicht mehr zustimmen, so sehr hat er meine Zustimmung. Sean Penn heizt die moralische Empörungshysterie leider zusätzlich noch an, indem er der Oskarverleihung einen Live-Beitrag Selenskyjs aufzwingen möchte. Man stelle sich vor, es wäre wirklich dazu gekommen, dass Selenskyj Hollywood so geohrfeigt hätte, wie er es zuvor mit Scholz im Bundestag tat. Ob Will Smith dann wohl auch mitgeohrfeigt hätte? Oder hätte es Chris Rock dann so die Sprache verschlagen, dass sein verunglückter Kalauer unterblieben wäre? Ob Sean Penn seine Oskars jetzt wohl tatsächlich einschmelzt? Seine Absicht war die Traumwelt Hollywoods auf den Boden der Realität zu zerren. Aber das Ergebnis wäre nur eine noch abstoßendere Vermischung von Traum und Realität gewesen.

Was soll man hoffen, wenn das Wählerverhalten - in den USA wie in Deutschland - immer irrationaler wird und die Demagogie immer entscheidender? Man kann dann eigentlich nur hoffen, dass die Vernünftigeren auch die besseren Demagogen sein werden. Und dennoch darf nicht vergessen werden: Es gilt, irrsinnige Propaganda zu widerlegen, nicht sie zu verbieten. Und es gilt - wie Dahrendorf schon vor 20 Jahren mahnte - die Demokratie auf ein neues Fundament zu stellen, denn wir befinden uns in einer "postdemokratischen" (Dahrendorf) Situation.

Ich habe Verständnis dafür, dass die Konservativen der Auseinandersetzung mit den 68ern aus dem Weg gingen - in der Überzeugung, dass Gegenargumentation ohnehin vergebliche Mühe gewesen wäre und dass schweigender Einsatz für Sachfragen und wirtschaftliche Belange ausreichen würden, um das ideologische Geschnatter verstummen zu lassen -, aber es war ein schwerwiegender Fehler. Das Versäumnis, das eigene handeln weltanschaulich zu unterfüttern (nur Biedenkopf engagierte sich in dieser Hinsicht), rächt sich jetzt.

Ein zweites Versäumnis betrifft die Frage, welche Gesetze gewährleisten können, dass Informationsflüsse nicht zur Unterminierung oder gar Beseitigung der Demokratie führen. Und die Frage, wie ein Missbrauch des Verfassungsschutzes verhindert werden kann. Mit diesen beiden Bereichen haben sich Konservative nie befasst, weil sie sich schlicht nicht vorstellen konnten, dass nicht sie, sondern ihre Gegner einst die Verfügungsgewalt über Medien, Informationsflüsse  und die Aktivität des Verfassungsschutzes erlangen könnten.  

Der Datenschutz wurde von den Konservativen nie besonders ernst genommen, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass irgendwann die Ultralinken die Macht übernehmen ("Was ist gegen Kontrolle einzuwenden? Wer sich nichts vorzuwerfen hat, hat auch nichts zu befürchten", argumentierten sie in unermesslicher Einfalt, jedesmal, wenn das Thema Datenschutz auf die Tagesordnung kam, und warnende Skeptiker wurden sofort mit staunender Herablassung brüskiert). Die Linken konnten sich das eigentlich auch nicht vorstellen, und genau deshalb haben sie den Datenschutz (also die Verfügungsgewalt über Daten, Meinungsäußerungen und Informationsflüsse) immer sehr ernst genommen. Seit sie tatsächlich an der Macht sind, werden Verfassungs- und Datenschutz nun zum Regierungsschutz umfunktioniert. Gerade Konservative, die sich nichts vorzuwerfen haben, müssen jetzt mit Vorwürfen rechnen. Spätestens dann, wenn sie sich dagegen positionieren, dass Solschenizyn der Cancel Culture zum Opfer fällt.

 

Maximytschew erklärt Russland. Und auf welcher Rechtsgrundlage plötzlich Enteignungen vorgenommen werden, ist unklar. Russophobe Willkür zertrümmert die Rechtssicherheit.

Wer beschreibt, wie es ist, sagt nicht, wie es sein soll

Viele Missverständnisse und Vorwürfe fangen mit der Missachtung dieses Satzes an.

Sonntag, 27. März 2022

Wie wir zu einer Lösung des Ukrainekonflikts kommen können

3 Szenarien

Ukrainer haben immer Papiere (und sind meist Frauen mit Kindern), andere Immigranten haben nie ihr Telefon verloren, aber immer die Pässe (und sind junge Männer)

 

Wie Geschichte erzählt werden muss

Giovanni Segantini war als Maler kein großer Geschichtenerzähler. Sieht man von einigen der symbolistischen Bilder ab, in denen literarische oder mythologische Motive aufgenommen wurden, die entweder aus einer Geschichte stammen oder auf der Suche nach einer Geschichte sind, kommt sein Werk ohne Anleihen bei irgendwelchen literarischen, philosophischen oder historischen Programmen aus, die die Welt – oder auch nur einen Zipfel davon – erklären wollen.

Auf der Suche nach der Schönheit heißt Segantinis Lebensroman als Künstler, aber diese Suche geht gewissermaßen ohne jede Ablenkung, ohne jedes Abenteuer, vielleicht sogar ohne Risiko auf ihr Ziel zu: Wenn die technischen und malerischen Bedingungen einmal erlernt sind, kann ihn nichts davon abhalten, sein Ziel zu erreichen. Die Schönheit (nicht Gott) ist das Absolute, und man erreicht sie, wenn man sich lange genug ausschließlich auf sie konzentriert.

Mitten ins Herz

Das Engadin und das Bergell, wo der größte Teil seines Werkes entstand, sind voller Geschichten, Märchen und Legenden, und Segantini selber neigte obendrein noch dazu, den «Urkräften» zu vertrauen. Aber wenn er malte, malte er den Stein und nicht die wimmelnde Welt darunter, er malte die Berge und nicht die Götter, die ihre Wohnung in den Höhen haben, er malte den Himmel und die Wolken als Himmel und Wolken, er malte Menschen, die auf den Hochebenen mit ihrer Hände Arbeit das Brot verdienen – und er malte die Tiere, die den Menschen helfen, die Arbeit erträglich zu gestalten: Pferde, Kühe, Schafe, Ziegen.

Das Engadin und das Bergell sind voller Geschichten, Märchen und Legenden.

Engadin und Bergell waren schon seit Ewigkeiten nicht nur bäuerliches Gelände, sondern wegen der Pässe nach Süden immer auch ein Durchgangsland für Gewerbe, Handel und Militär. Gerade Soglio, wo die Segantinis häufig den Winter verbrachten, ist mit seinen Palästen der Familie von Salis ein gutes Beispiel dafür, dass hier seit dem Mittelalter auch andere Lebensentwürfe möglich waren, und die Zuckerbäcker aus dem Unterengadin waren auf der ganzen Welt begehrt – und konnten erzählen, wie es in St. Petersburg oder Madrid aussah. Aber davon ist auf Segantinis Bildern nichts zu sehen. Seine «schöne reine Welt» ist ohne Geschichte (und Geschichten).

Und trotzdem gibt es keinen verlässlicheren Maler als Segantini. Wenn man zum Beispiel durch die mit Bildern gepflasterte Pinacoteca die Brera in Mailand wandert, vorbei an all den dramatischen Metaphern für das Leid des Menschen oder die Hierarchie seiner brüchigen Welt, wenn man erschöpft die ausgefeilten Bildprogramme entziffert und die Anspielungen auf die Bibel oder auf Ovid erraten hat, steht man plötzlich vor Segantinis «Frühlingsweide» von 1896, die der Maler drei Jahre vor seinem Tod gemalt hat. Der erste Eindruck: Erleichterung! Gott sei Dank, da stehen sie noch auf der gerade von einem grünen Hauch überzogenen Wiese, die Kuh und das Kälbchen dazu, mutterseelenallein und doch offenbar nicht unzufrieden, und fressen das noch nicht gerade üppige Gras, das erst im Juni in seiner ganzen vielfältigen Herrlichkeit aufblüht.

Und während die anderen Bilder sich mit unserem Älterwerden und der Zunahme unserer Kenntnis über die Welt ändern, während wir darüber nachgrübeln, ob Judith recht daran tat, dem Holofernes den Kopf vom Körper zu trennen, stehen Kuh und Kälbchen unerschütterlich vor der noch verschneiten unverrückbaren Kulisse der Berge und versuchen konzentriert, die ersten Hälmchen zwischen den Steinen zu erwischen. Das Bild zeigt einen bestimmten Augenblick – und meint doch die Ewigkeit, das ist der punto cruciale bei Segantini: Es ist nur ein Augenblick, den wir sehen, der kurze Moment der Nahrungsaufnahme einer Kuh, die dieser Tätigkeit viele Jahre von früh bis spät nachgeht, und doch sehen wir gewissermaßen der Ewigkeit ins Auge: Das ist der Grund, warum uns diese Bilder immer noch und immer wieder ins Herz treffen.

«Kann man sich etwas Ernsthafteres vorstellen als eine Kuh?», hat der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (ein großer Verteidiger des Bauernstandes) gefragt, und wir alle (aber ich ganz besonders) haben natürlich laut «Nein» gesagt. Aber auf Bergwiesen gibt es keine Philosophie, hier gelten andere Gesetze. Auch wenn sich die Kuh an sich nicht für den Milchpreis und die damit zusammenhängenden Probleme der Volkswirtschaft interessiert und auch zu den weitergehenden Fragen der Ökonomie nur den Kopf (und die Glocke) schütteln kann, bedienen wir uns ihrer doch, um vom Milchpreis über den gesellschaftlichen Wandel bis zu den entscheidenden Fragen des Umgangs mit der Natur nachzudenken. Jedes Tier, das Segantini gemalt hat, fordert uns heraus, über uns nachzudenken – besonders dann, wenn wir nichts davon wissen wollen. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen: Sollte eines Tages Segantinis Kuh, das leuchtende Vorbild, nicht mehr an der Wand hängen, würde das Ende unserer Zivilisation erreicht sein. In melancholischen Anwandlungen denke ich manchmal, ich sollte einfach vor dem Bild stehenbleiben und mich nicht wegbewegen, um so das Ende aufzuhalten (so wie ich früher von den Werken von Georges de La Tour nicht weggehen wollte, aus Angst, die Kerze auf seinem Bild könnte erlöschen).

Gott sei Dank, da stehen sie noch auf der gerade von einem grünen Hauch überzogenen Wiese.

Die Geschichte, wie sie uns die Geschichte der Malerei zeigt, ist eine Geschichte des Wandels. Was oben war, muss nicht oben bleiben, was unten sich zu verlieren drohte, kommt doch an die Oberfläche. Mittlerweile können wir die Welt vom Weltraum aus ansehen, der Berg ist nicht mehr der höchste Ort; wir können sogar in den Menschen hineinsehen und ihn künstlich nachahmen, ja, wir werden daran gemessen, ob wir uns ein anderes, un-natürliches Leben vorstellen können. Die Kuh bleibt in all den Veränderungen Kuh, sie sieht auf den Bildern der frühen Höhlenmalerei nicht viel anders aus als heute, wo man bis auf drei Rappen hinter dem Komma ihren Fressverbrauch berechnen kann.

Helligkeit, das Offene

Eigentlich möchte sie in Ruhe gelassen werden. Sie möchte ihr Kälbchen großziehen und sich nicht um den Bullen kümmern müssen, der ihr das Kälbchen gemacht hat. Sie möchte auch nicht für einen gesunden Bauernstand posieren und schon gar nicht Reklame machen für die «unberührte Natur» im Engadin – ein blöder Witz, den sie schon lange durchschaut hat. Sie möchte Kuh sein und «muh!» machen, wenn und wie oft es ihr beliebt. Ich weiß, das klingt lächerlich. Und doch ist es (für mich) notwendig, zu wissen, warum ich mein ganzes Leben zu den (gemalten) Kühen und Schafen des Malers Segantini zurückkehre.

Es gibt Maler, die einem nahe sind und nie enttäuschen, ganz egal, in welcher Verfassung man ihnen gegenübertritt. In jedem kräftigen Pinselstrich seiner «divisionistischen» Malerei – ja, auch der stolze Segantini brauchte einen Ismus, damit man ihn in der verkrauteten Kunstgeschichte finden konnte – ist er immer gegenwärtig. Dabei hat er nicht den Winkel gemalt, die Höhle, das Versteck, das Dunkel, die andere Seite der Wirklichkeit, um eine Alternative zur Realität der Arbeit und zu den Mühen der Existenz zu zeigen, sondern die Helligkeit, das Offene, eine Situation, in der man weit sehen kann.

Mit Segantini kann man sehr weit sehen.

«Große Kunstwerke», hat Franz Servais in seiner (der ersten) Segantini-Biografie geschrieben, «sind Offenbarungen der Menschheit. Ausser dem Zauber der Kunst haben sie noch jenen Zauber der Mystik, der aus den verborgenen Tiefen der Menschenseele kommt.»

Kann man heute noch so sprechen?

Nein.

Aber warum eigentlich nicht?

Der Schriftsteller, Verleger und Übersetzer Michael Krüger ist ein grosser Kenner und Liebhaber des Hochgebirgsmalers Segantini. Ende März erscheint im Verlag Schirmer/Mosel der Band «Michael Krüger über Gemälde von Giovanni Segantini» (208 S., 47 Farbtafeln, Fr. 45.80).

Der hier gedruckte Text ist ein leicht gekürztes Kapitel aus dem Buch.


 

In dieser Hütte starb Segantini

 

Freitag, 25. März 2022

Köppel schätzt die Deutschen völlig richtig ein

 

Richard David Precht hat zu seinen analytischen Fähigkeiten zurückgefunden. 

Die Ukraine ist ein tragisches Opfer westlicher Blauäugigkeit und russischer Großmachtambitionen. Schrecklich ist zudem, dass der Holodomor nie erwähnt wird. Im Zusammenhang mit dem Euromaidan nicht und jetzt auch nicht. Es war der Holodomor, der die Ukrainer Triumpfbögen bauen ließ, als die Wehrmacht eintraf, die als Befreierin vom russischen Joch angesehen wurde. Dieser fürchterliche Bruderzwist hat eine lange Geschichte. Es hat seine Gründe, wenn es das Regiment Asow gibt. Und dass ein jüdischer Regierungschef es gewähren lässt, ist damit auch nicht so verwunderlich.


 

Wann wird man endlich von Samuel Huntington lernen?

 

 

 

 

 

 

 

Europa bekommt, was es verdient. Wenn man Politiker wählt, die gegen Trump hetzen und ihn verhöhnen, weil er Deutschland dafür rügte, sich von Russland abhängig zu machen und die nicht einmal wissen, dass das stärkste Nato-Land nach den USA die Türkei ist, dann muss man auslöffeln, was man sich eingebrockt hat. Solange man noch in der Lage ist, einen Löffel zu halten.

Wenn Merkel nicht diese irrsinnige Energiewende beschlossen hätte, hätte Putin diesen Krieg womöglich nicht gewagt. Aber Merkel hat wirklich alles getan, um ihm diese Entscheidung zu erleichtern.

So wird ein Schuh draus

„Wenn der Nationalsozialismus nichts anderes als den vorzeitigen Tod Friedells auf dem Kerbholz hätte, würde das allein schon ausreichen, um ihn auf ewig zu verdammen.”
Martin Lichtmesz, 2013 

1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe, a b e r   d e r   W a h r h e i t nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. 2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.


Heute ist der Dantetag. Vom italienischen Staat wurde der 25. März dafür gewählt. Nach Ansicht eines Teils der Danteforscher begann Dantes einwöchige Jenseitsreise durch Hölle, Läuterungsberg und Paradies am 25. März. Dieser Tag galt in Florenz zur Zeit Dantes als Tag der Zeugung (Incarnatio) Jesu (oder auch Conceptio Christi) und auch als sein Todestag, unabhängig vom Karfreitag, der dem Stand des Mondes entsprechend jedes Jahr ein anderes Datum hat, aber ebenfalls gefeiert wurde. Der Tag der Incarnatio (der Verkündigung, wie man bei uns sagt) und des Todes Jesu wurde jedes Jahr in Florenz also am 25. März begangen (und in der Malerei oft dargestellt). Wenn die Reise Dantes und Vergils an einem 25. begann, dann waren sie am 27. am Fuß des Läuterungsberges angelangt, wo die zweite Cantica beginnt.

Andere Danteforscher meinen, die Reise beginne am Karfreitag, der 1300 auf den 8. April fiel, wieder andere haben errechnet, sie müsse am 5. April begonnen haben, auf Grund von Angaben, die Dante in der Göttlichen Komödie über die Mondphasen machte; aber die astronomischen Angaben Dantes sind ohnehin nicht immer korrekt, sei es, weil er bestimmte Angaben aus dem Almanach von Prophatius Judaeus fehlerhaft kopierte, sei es, weil er sich bestimmte Freiheiten nahm, wenn es besser in sein poetisches Konzept passte. Sei es, wie es sei: In mein persönliches poetisches Konzept passt der 25. März am besten, weil das Purgatorio meine Lieblingscantica ist und mir der Gedanke, dass sie am 27. März beginnt, behagt. Außerdem finde ich grandios, dass nach dieser symbolistischen Erzählung Jesus am gleichen Tag die Erde (die in Dantes Comedía, anders als in den Hörsälen deutscher Mittelalterhistoriker, eine Kugel war und keine Scheibe: Dante beschreibt sogar die Umkehrung der Erdanziehungskraft, als er mit Vergil den Erdmittelpunkt überschreitet) betritt und wieder verlässt. Bedauerlich ist das heillose, schlampige Durcheinander, das Kurt Flasch anbietet: Der geht in seinen Kommentaren nämlich mal davon aus, die Reise habe am 25. März begonnen und mal am 8. April. Und er behandelt die Sache derart schludrig, dass man den Eindruck bekommt, er merke es selber nicht. Sehr merkwürdig, denn ansonsten ist sein Kommentar so gut wie seine Übersetzung.

Donnerstag, 24. März 2022

100 Tage Scholz


 

Weltwoche

 

Welt

Woche 

Frau Werlt 

Dank Merkel wurden Joschka Fischer & Gysi zu Deutschlands Seele

 

Es ist nur noch erbärmlich

Wenn man Tölpel sein möchte, soll man sich nicht beklagen, wenn man übertölpelt wird

 

 

Der Pazifismus ist in Verruf geraten. Wieder einmal. Zwar gelten Pazifisten heute nicht mehr als Vaterlandsverräter oder Drückeberger, aber immerhin als Realitätsverweigerer, Traumtänzer oder, wenn es ganz schlimm kommt, als Putin-Versteher. Auch landen Pazifisten nicht mehr im Gefängnis, dafür bekommen sie jedoch die geballte Empörung der aufrechten Kämpfer für Demokratie und die Werte des freien Westens zu spüren.

Pathos des gerechten Krieges

Entsprechend erlebt der Heldentod eine ungeahnte Renaissance, nachdem er für ein paar Jahrzehnte in Verruf geraten war. Man stirbt wieder gerne – noch besser: lässt sterben –, und das mit Überzeugung. Diesmal nicht für Volk und Vaterland, das auch, vor allem aber für Freiheit und Demokratie. Das klingt irgendwie moderner, macht im Endeffekt allerdings keinen grossen Unterschied. Tot ist man so oder so.

Ein unorthodoxer Pazifismus, bisher vager Grundkonsens westeuropäischer Gesellschaften, gilt seit ein paar Wochen wieder als verdächtig. Wer nicht bereit ist, zu den Waffen zu rufen und im heroischen Kampf gegen den Aggressor zur Not auch die halbe Welt in Trümmer zu legen, firmiert als Kleingeist. Entsprechend haben nicht wenige Publizisten den Freiheitshelden in sich entdeckt. Mehr oder minder offen plädiert man etwa für ein Eingreifen der Nato in der Ukraine. Man kokettiert mit gedanklichen Kriegsspielen. Und verkündet vollmundig, nun gelte es, die Freiheit zu verteidigen, die westliche Werteordnung und die Demokratie.

Der hohe Ton gilt auf einmal wieder etwas. Das Pathos des gerechten Krieges, noch vor Wochen unvorstellbar, wabert weihrauchgeschwängert durch die öffentlichen Diskurse. Man schlägt sich wieder mit eiserner Faust an die gepanzerte Brust. Mal fordert man, dass Nato-Truppen direkt in der Ukraine intervenieren sollen. Dann wieder Flugverbotszonen. Wenn der ganze Unfug nicht so brandgefährlich wäre, man müsste eigentlich laut lachen.

Der Westen sollte mehr Selbstbewusstsein haben und auf seine zivilen Werte vertrauen.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Putins Überfall auf die Ukraine ist ein Verbrechen, auch wenn es, wie viele Verbrechen, eine Vorgeschichte hat. Und der Widerstandswille des ukrainischen Volkes ist bewundernswert. Die Versuche der ukrainischen Regierung, immer wieder die Nato oder einzelne Nato-Staaten militärisch mit in den Konflikt hineinzuziehen, sind daher verständlich, im Kern aber ein Spiel mit dem atomaren Feuer.

Gedankenspiele der Schreibtischhelden

Noch gefährlicher sind allerdings die westlichen Schreibtischhelden, die solche Gedankenspiele aufgreifen und unterstützen. Ein Eingreifen der Nato hätte Konsequenzen, die – Wahrheiten können schmerzhaft sein – in keinem Verhältnis zum Anliegen stehen. Deutlich formuliert: Man riskiert keinen Atomkrieg aus humanitären Gründen. Das wäre ein Widerspruch in sich und sollte eigentlich einleuchten.

Doch im Moment triumphiert an manchen Schreibtischen die Gesinnungs- über die Verantwortungsethik. Vernarrt, dogmatisch und selbstgefällig ist man entschlossen, grosse Ideale zu verteidigen, Unabhängigkeit, Freiheit und Demokratie etwa, und ist bereit, dafür Tausende Tote, Zerstörung und eine extrem gefährliche Eskalation in Kauf zu nehmen. Das alte «Lieber tot als rot» wird wieder aus der Mottenkiste geholt, farblich diesmal modisch aktualisiert zu «Lieber tot als weissblaurot».

Doch sogar John F. Kennedy, damals die Ikone der freien westlichen Welt, wollte seine Kinder «Lieber rot als tot» sehen, wie er einmal seiner Geliebten Mimi Alford gestand. Und Kennedy hat natürlich recht. Auch wenn es für viele schwer zu akzeptieren ist: Es gibt keinen Wert, für den zu sterben sich lohnt. Das Leben ist viel zu wertvoll, viel zu einzigartig und viel zu schön, um es für Regierungsformen, Herrschaftsansprüche oder Staatsverfassungen herzugeben. Und perfide ist es, andere in einen solchen Wahn hineinzuziehen. Wer meint, für erhabene Werte den Heldentod sterben zu müssen, soll das tun und sich irgendwelchen Freischärlern andienen. Ganze Völker aber, Millionen von Menschen in eine solche Katastrophe hineinzuziehen, indem man einen Waffeneinsatz des Westens herbeifabuliert, ist mehr als fragwürdig.

Wären sie wirklich willens, das Leben ihrer Kinder herzugeben, ihr Lachen, ihre Zukunft, ihre Liebe?

Auch wenn es schwerfällt: Manchmal ist es hilfreich, Dinge zu Ende zu denken, radikal und in aller Konsequenz. All jene, die heute mit einem Eingreifen der Nato in der Ukraine kokettieren, sollten sich überlegen, ob sie bereit wären, ihre eigenen Kinder für Demokratie und Freiheit zu opfern. Wären sie wirklich willens, das Leben ihrer Kinder herzugeben, ihr Lachen, ihre Zukunft, ihre Liebe, ihr Glück? Der grosse John F. Kennedy war ehrlich. Unsere neuen Hobby-Bellizisten sollten es auch sein. Die Antwort kann nur lauten: Nein, niemals.

Doch es herrscht wieder der Ungeist der politischen Romantik. Man greift wieder zur Waffe, zumindest rhetorisch, man steht wieder für etwas ein, für etwas Grosses, Erhabenes und Ewiges. Der aufgeblasene Schmierenton dominiert die Gazetten. Autoren, die noch vor wenigen Wochen den Moralismus öffentlicher Debatten beklagten, produzieren auf einmal selbst schwärmerisches Moralin im Überschuss.

In ihrer ideologischen Verblendung übersehen sie, dass auch die berechtigte Verteidigung eines Landes ethische Grenzen kennt. Auch moralisch gerechtfertigter Widerstand verliert irgendwann seine moralische Legitimität. Die gerechte Sache kann durch die Wahl der Mittel zu einer zweifelhaften werden. Denn die Aufgabe jeder verantwortungsvollen Regierung ist es, Schaden vom eigenen Volk abzuwenden. Regierungsverantwortliche, die immer mehr Männer in den Tod schicken und die Bombardierung ihrer Städte hinnehmen, allein aus dem eitlen Bewusstsein heraus, im Recht zu sein, handeln kurzsichtig.

Differenziert denken

Genauso wie der Krieg das Mittel der Politik ist, so ist es auch der Friede. Für verantwortungsethisch denkende Menschen kann es sinnvoll sein, die Waffen niederzulegen, um weiteres sinnloses Blutvergiessen zu verhindern – selbst dann, wenn man prinzipiell das Recht auf Selbstverteidigung auf seiner Seite hat. Aber recht haben ist eben nicht alles.

Denn liberale Gesellschaften opfern keine Menschen für die gute Idee. Das machen nur totalitäre Regime und autoritäre Ideologien. Diese sind stets bereit, das Glück, die Zukunft und die Lebensfreude des Individuums für etwas Grösseres hinzugeben: für die Nation, den Klassenkampf, die Ehre. «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod», formulierte einst Al-Qaida-Führer Abu Dudschan al-Afghani. Und er hatte recht.

Liberale Gesellschaften lieben das Leben. Jedes einzelne ist ihnen heilig und steht höher als irgendwelche Kollektivwerte oder gar Institutionen. Auch Menschen, die für die Demokratie sterben, sind tot. Und jeder tote Mensch ist eine Tragödie. Für die Freiheit zu sterben, ist kein bisschen besser, als für ein russisches Grossreich zu krepieren. Am Ende stehen immer nur Schmerz und Leid, zerstörte Sehnsüchte und nie gelebte Träume.

In ihrer verständlichen Empörung über die russische Okkupation lassen sich allzu viele Liberale hinreissen und beginnen, zwischen dem sinnvollen und dem sinnlosen Tod auf dem Schlachtfeld zu unterscheiden. Doch der Tod auf dem Schlachtfeld ist immer sinnlos. Daher Kennedys Wunsch, seine Kinder lieber rot als tot zu sehen.

Die mächtigsten Waffen der freien Welt sind ohnehin keine Luftgeschwader oder Panzerbrigaden. Die mächtigsten Waffen der freien Welt sind ihre Lebenslust, ihre Daseinsfreude, ihr Spass am Genuss. Putin hat seinen jungen Soldaten nicht mehr zu bieten als leere Regale und den Tod für Mütterchen Russland. Mit diesem kargen Angebot muss er langfristig scheitern. Der Westen sollte mehr Selbstbewusstsein haben und auf seine eigenen zivilen Werte vertrauen, statt sich romantischer Kriegsrhetorik hinzugeben.

Orthodoxer Pazifismus ist blauäugig. Und ein von blindem Idealismus und dem Rausch moralischer Rechthaberei getriebener Bellizismus ist brandgefährlich. Wie immer, so gilt auch hier: Differenziert zu denken, kann nicht schaden. Wehrhaft sein ist gut. Doch im richtigen Moment muss man auch den Mut haben, mehr Pazifismus zu wagen!   Alexander Grau

Theorie der ethischen Gefühle 


Blick zurück ins Jahr 2013 und 2003

Vorahnung