John J. Mearsheimer ist Professor für Politikwissenschaft an der
Universität Chicago und befasst sich hauptsächlich mit Geopolitik. Im
Juni 2022 sprach er über den Ukraine-Krieg als mehrdimensionale
Katastrophe, die sich in absehbarer Zeit noch erheblich verschlimmern
dürfte. Wir dokumentieren seinen hochinteressanten Vortrag in einer
leicht gekürzten deutschen Fassung. Das englische Original ist frei auf Youtube anzuhören:
Der Krieg in der Ukraine ist eine mehrdimensionale Katastrophe, die sich in absehbarer Zeit noch erheblich verschlimmern wird.
Wenn ein Krieg erfolgreich ist, wird den Ursachen wenig
Aufmerksamkeit geschenkt. Aber wenn das Ergebnis katastrophal ist, ist
es von grösster Bedeutung, zu verstehen, wie es dazu gekommen ist.
Die Menschen wollen wissen: Wie sind wir in diese schreckliche Situation geraten?
Ich habe dieses Phänomen zweimal in meinem Leben erlebt: Zuerst im Vietnamkrieg und dann im Irakkrieg.
In beiden Fällen wollten die Amerikaner wissen, wie sich ihr Land so sehr verkalkulieren konnte.
Die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten haben eine
entscheidende Rolle bei den Ereignissen gespielt, die zum Krieg in der
Ukraine geführt haben. Und sie spielen jetzt eine zentrale Rolle bei der
Führung dieses Krieges. Darum ist es angebracht, die Verantwortung des
Westens für dieses Unglück zu bewerten.
Ich werde zwei Hauptargumente dafür vorbringen.
Erstens: Die Vereinigten Staaten sind in erster Linie für die Verursachung der Ukraine-Krise verantwortlich.
Damit soll nicht bestritten werden, dass Putin den Krieg begonnen hat
und dass er für die russische Kriegsführung verantwortlich ist.
Es soll auch nicht geleugnet werden, dass Amerikas Verbündete eine
gewisse Verantwortung tragen, aber sie folgen in der Ukraine weitgehend
der Führung Washingtons.
Meine
zentrale Behauptung ist, dass die Vereinigten Staaten eine Politik
gegenüber der Ukraine vorangetrieben haben, die von Putin und anderen
russischen Führern als existenzielle Bedrohung empfunden wird – ein Punkt, den sie seit vielen Jahren immer wieder vorbringen.
Konkret spreche ich von Amerikas Besessenheit, die Ukraine in die
Nato aufzunehmen und sie zu einem westlichen Bollwerk an Russlands
Grenze zu machen.
Die Regierung Biden war nicht gewillt, diese Bedrohung durch
Diplomatie zu beseitigen, und so verpflichteten sich die Vereinigten
Staaten im Jahr 2021 erneut, die Ukraine in die Nato aufzunehmen.
Putin reagierte darauf mit dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres.
Zweitens hat die Regierung von Joe Biden auf den Ausbruch des Krieges
reagiert, indem sie bei den Massnahmen gegen Russland nachgedoppelt
hat.
Washington und seine westlichen Verbündeten sind entschlossen,
Russland in der Ukraine zu besiegen und umfassende Sanktionen zu
verhängen, um die russische Macht erheblich zu schwächen.
Die Vereinigten Staaten sind nicht ernsthaft an einer diplomatischen
Lösung des Krieges interessiert, was bedeutet, dass sich der Krieg
wahrscheinlich über Monate, wenn nicht Jahre, hinziehen wird.
Dabei wird der Ukraine, die bereits schwer gelitten hat, noch
grösserer Schaden zugefügt werden. Im Grunde genommen tragen die
Vereinigten Staaten dazu bei, die Ukraine auf einen Unglückspfad zu
führen.
Ausserdem
besteht die Gefahr, dass der Krieg eskaliert, weil die Nato in die
Kämpfe hineingezogen wird und Atomwaffen eingesetzt werden könnten.
Wir leben in gefährlichen Zeiten.
Lassen Sie mich nun meine Argumente ausführlicher darlegen. Ich
beginne mit einer Beschreibung der weitverbreiteten Meinung über die
Ursachen des Ukraine-Konflikts.
Die konventionelle Weisheit
Im Westen herrscht die feste Überzeugung vor, dass Putin allein für
die Ukraine-Krise und sicherlich auch für den anhaltenden Krieg
verantwortlich ist.
Ihm werden imperiale Ambitionen nachgesagt. Er wolle die Ukraine und
auch andere Länder erobern, um ein Grossrussland zu schaffen, das eine
gewisse Ähnlichkeit mit der ehemaligen Sowjetunion aufweise.
Mit anderen Worten: Die Ukraine ist Putins erstes Ziel, aber nicht sein letztes.
Oder wie es ein Wissenschaftler ausdrückte: Putin verfolge «ein
finsteres, langgehegtes Ziel: die Ukraine von der Weltkarte zu tilgen».
In Anbetracht von Putins angeblichen Zielen macht es durchaus Sinn,
dass Finnland und Schweden der Nato beitreten und das Bündnis seine
Streitkräfte in Osteuropa aufstockt. Schliesslich muss das imperiale
Russland in Schach gehalten werden.
Diese Behauptung wird zwar in den Mainstream-Medien und von praktisch
allen westlichen Staats- und Regierungschefs immer wieder geäussert,
aber es gibt keine Beweise dafür.
Die
Belege, die die Verfechter dieser Mehrheitsmeinung vorlegen, haben
wenig oder gar keinen Bezug zu Putins Motiven für den Einmarsch in die
Ukraine.
Einige betonen zum Beispiel, dass er gesagt habe, die Ukraine sei ein «künstlicher Staat» oder kein «echter Staat».
Solche undurchsichtigen Äusserungen sagen jedoch nichts über die Gründe für seinen Kriegseintritt aus.
Dasselbe gilt für Putins Aussage, er betrachte Russen und Ukrainer als «ein Volk» mit einer gemeinsamen Geschichte.
Andere weisen darauf hin, dass er den Zusammenbruch der Sowjetunion
als «die grösste geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts»
bezeichnete.
Natürlich sagte Putin auch: «Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie zurückhaben will, hat kein Hirn.»
Andere wiederum verweisen auf eine Rede, in der er erklärte: «Die
moderne Ukraine wurde vollständig von Russland geschaffen, genauer
gesagt vom bolschewistischen, kommunistischen Russland.»
Aber wie er in derselben Rede mit Bezug auf die heutige
Unabhängigkeit der Ukraine weiter sagte: «Natürlich können wir die
Ereignisse der Vergangenheit nicht ändern, aber wir müssen sie zumindest
offen und ehrlich zugeben.»
Um zu belegen, dass Putin die gesamte Ukraine erobern und Russland
einverleiben wollte, muss man erstens nachweisen, dass er dies für ein
wünschenswertes Ziel hielt, zweitens, dass er es für realisierbar hielt,
und drittens, dass er die Absicht hatte, dieses Ziel zu verfolgen.
Es gibt keine Beweise dafür, dass Putin am 24. Februar, als er seine
Truppen in die Ukraine schickte, die Absicht hatte, die Ukraine als
unabhängigen Staat abzuschaffen und sie zu einem Teil Russlands zu
machen.
Tatsächlich
gibt es deutliche Hinweise darauf, dass Putin die Ukraine als
unabhängiges Land anerkannte: In seinem Artikel vom 12. Juli 2021 über
die russisch-ukrainischen Beziehungen, der von Befürwortern der
konventionellen Weisheit oft als Beweis für seine imperialen Ambitionen
angeführt wird, sagt er dem ukrainischen Volk: «Ihr wollt einen eigenen
Staat gründen: Ihr seid willkommen!»
Zur Frage, wie Russland die Ukraine behandeln sollte, schreibt er:
«Es gibt nur eine Antwort: mit Respekt.» Er schliesst seinen langen
Artikel mit den folgenden Worten ab: «Und was die Ukraine sein wird –
das müssen ihre Bürger entscheiden.»
Es ist schwer, diese Aussagen mit der Behauptung in Einklang zu
bringen, Putin wolle die Ukraine in ein grösseres Russland eingliedern.
In demselben Artikel vom 12. Juli 2021 und erneut in einer wichtigen
Rede am 21. Februar dieses Jahres betonte Putin, dass Russland «die neue
geopolitische Realität, die nach der Auflösung der UdSSR entstanden
ist», akzeptiere.
Am 24. Februar wiederholte er diesen Punkt ein drittes Mal, als er
ankündigte, Russland werde in die Ukraine einmarschieren. Insbesondere
erklärte er: «Wir haben nicht vor, ukrainisches Territorium zu besetzen»
und machte deutlich, dass er die ukrainische Souveränität respektiere, aber nur bis zu
einem gewissen Punkt: «Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich
nicht entwickeln und nicht existieren, wenn es sich einer ständigen
Bedrohung durch das Territorium der heutigen Ukraine ausgesetzt sieht.»
Im Grunde genommen war Putin nicht daran interessiert, die Ukraine zu
einem Teil Russlands zu machen; er wollte sicherstellen, dass sie nicht
zu einem Sprungbrett für eine westliche Aggression gegen Russland
wurde, ein Thema, auf das ich in Kürze näher eingehen werde.
Man
könnte argumentieren, dass Putin über seine Motive gelogen hat, dass er
versucht hat, seine imperialen Ambitionen zu verschleiern.
Wie sich herausstellt, habe ich ein Buch über Lügen in der
internationalen Politik geschrieben – «Why Leaders Lie: The Truth About
Lying in International Politics» – und für mich ist klar, dass Putin
nicht gelogen hat.
Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse ist, dass Staatsoberhäupter sich
nicht oft gegenseitig anlügen, sondern eher ihre eigene Öffentlichkeit
belügen.
Was Putin anbelangt, so hat er, was auch immer man von ihm halten mag, nicht dieAngewohnheit, andere Staatslenker zu belügen. Obwohl einige
behaupten, dass er häufig lügt und man ihm nicht trauen kann, gibt es
kaum Beweise dafür, dass er ausländische Zuhörer belügt.
Darüber hinaus hat er in den letzten zwei Jahren bei zahlreichen
Gelegenheiten öffentlich dargelegt, wie er über die Ukraine denkt, und
er hat immer wieder betont, dass sein Hauptanliegen die Beziehungen der
Ukraine zum Westen und insbesondere zur Nato sind.
Er hat nicht ein einziges Mal angedeutet, dass er die Ukraine zu
einem Teil Russlands machen wolle. Sollte dieses Verhalten Teil einer
gigantischen Täuschungs-Kampagne sein, so wäre dies ohne Beispiel in der
Geschichte.
Putins klar umrissene Ziele
Der vielleicht beste Indikator dafür, dass Putin nicht darauf aus
ist, die Ukraine zu erobern und zu absorbieren, ist die militärische
Strategie, die Moskau von Beginn des Feldzugs an verfolgt hat: Das
russische Militär hat nicht versucht, die gesamte Ukraine zu erobern.
Das hätte eine klassische Blitzkrieg-Strategie erfordert, die darauf
abzielt, die gesamte Ukraine mit gepanzerten Streitkräften, unterstützt
durch taktische Luftstreitkräfte, schnell zu überrennen.
Diese
Strategie war jedoch nicht durchführbar, da die russische
Invasionsarmee nur 190.000 Soldaten umfasste, eine viel zu kleine Truppe
dafür, die Ukraine zu erobern und zu besetzen, die nicht nur das
grösste Land zwischen dem Atlantischen Ozean und Russland ist, sondern
auch eine Bevölkerung von über 40 Millionen hat.
Es überrascht nicht, dass die Russen eine Strategie der begrenzten
Ziele verfolgten, die sich darauf konzentrierte, Kiew entweder
einzunehmen oder zu bedrohen und einen grossen Teil des Gebiets in der
Ost- und Südukraine zu erobern.
Kurz gesagt, Russland war nicht in der Lage, die gesamte Ukraine zu
unterwerfen, geschweige denn andere Länder in Osteuropa zu erobern.
Ramzy Mardini, ein Autor und Forscher an der Universität Chicago,
führt einen weiteren aufschlussreichen Indikator an, der für die
Begrenztheit von Putins Zielen spricht: Es gibt nämlich keine Anzeichen
dafür, dass Russland eine Marionetten-Regierung für die Ukraine
vorbereitete, prorussische Führer in Kiew kultivierte oder politische
Massnahmen verfolgte, die es ermöglichen würden, das gesamte Land zu
besetzen und es schliesslich in Russland zu integrieren.
Um dieses Argument noch einen Schritt weiterzuführen: Putin und
andere russische Führer wissen sicherlich aus dem Kalten Krieg, dass die
Besetzung von Ländern im Zeitalter des Nationalismus unweigerlich ein
Rezept für endlose Schwierigkeiten ist.
Die Erfahrungen der Sowjetunion in Afghanistan sind ein eklatantes
Beispiel für dieses Phänomen, aber noch wichtiger für das vorliegende
Thema sind die Beziehungen Moskaus zu seinen Verbündeten in Osteuropa:
Die Sowjetunion unterhielt in dieser Region eine enorme militärische
Präsenz und mischte sich in die Politik fast aller dortigen Länder ein.
Diese Verbündeten waren Moskau jedoch häufig ein Dorn im Auge. Die
Sowjetunion schlug 1953 einen grossen Aufstand in Ostdeutschland nieder
und marschierte dann 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei
ein, um diese Länder unter Kontrolle zu halten.
In
Polen kam es 1956, 1970 und erneut 1980–1981 zu schweren Unruhen.
Obwohl die polnischen Behörden mit diesen Ereignissen fertig wurden,
dienten sie als Erinnerung daran, dass ein Eingreifen notwendig sein
könnte.
Albanien, Rumänien und Jugoslawien bereiteten Moskau regelmässig
Schwierigkeiten, aber die sowjetische Führung neigte dazu, ihr
Fehlverhalten zu tolerieren, da sie aufgrund ihrer Lage weniger wichtig
für die Abschreckung der Nato waren.
Was ist mit der heutigen Ukraine?
Aus Putins Aufsatz vom 12. Juli 2021 geht eindeutig hervor, dass er
zu diesem Zeitpunkt wusste, dass der ukrainische Nationalismus eine
starke Kraft ist und dass der seit 2014 andauernde Bürgerkrieg im
Donbass die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine stark belastet
hat.
Er wusste sicherlich, dass Russlands Invasionstruppen von den
Ukrainern nicht mit offenen Armen empfangen werden würden und dass es
für Russland eine Herkulesaufgabe wäre, die Ukraine zu unterwerfen, wenn
es über die notwendigen Kräfte zur Eroberung des gesamten Landes
verfügen würde, was nicht der Fall war.
Schliesslich sei darauf hingewiesen, dass kaum jemand das Argument
vorgebracht hat, Putin habe imperiale Ambitionen, seit er im Jahr 2000
die Macht übernommen hat – bis zum Ausbruch der Ukraine-Krise am 22.
Februar 2014.
Tatsächlich war der russische Staatschef ein geladener Gast auf dem
Nato-Gipfel im April 2008 in Bukarest, auf dem das Bündnis ankündigte,
dass die Ukraine und Georgien schliesslich Mitglieder werden würden.
Putins
Widerstand gegen diese Ankündigung hatte kaum Auswirkungen auf
Washington, da Russland als zu schwach eingeschätzt wurde, um eine
weitere Nato-Erweiterung zu verhindern, genauso wie es zu schwach
gewesen war, die Erweiterungswellen von 1999 und 2004 zu stoppen.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die
Nato-Erweiterung vor Februar 2014 nicht darauf abzielte, Russland
einzudämmen. Angesichts des traurigen Zustands der russischen
Militärmacht war Moskau nicht in der Lage, eine revanchistische Politik
in Osteuropa zu verfolgen.
Der ehemalige US-Botschafter in Moskau, Michael McFaul, stellt
bezeichnenderweise fest, dass Putins Inbesitznahme der Krim vor dem
Ausbruch der Krise im Jahr 2014 nicht geplant war; es handelte sich um
einen impulsiven Schritt als Reaktion auf den Putsch, durch den der
prorussische Führer der Ukraine gestürzt worden war.
Kurzum, die Nato-Erweiterung war nicht dazu gedacht, eine russische
Bedrohung einzudämmen, sondern war Teil einer umfassenderen Politik, die
darauf abzielte, die liberale internationale Ordnung in Osteuropa zu
verbreiten und den gesamten Kontinent wie Westeuropa aussehen zu lassen.
Erst als im Februar 2014 die Ukraine-Krise ausbrach, begannen die
Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten plötzlich, Putin als
gefährlichen Führer mit imperialen Ambitionen und Russland als
ernsthafte militärische Bedrohung zu bezeichnen, die es einzudämmen
gelte.
Was war die Ursache für diesen Wandel?
Diese neue Rhetorik sollte vor allem einem Zweck dienen: den Westen
in die Lage zu versetzen, Putin für den Ausbruch der Unruhen in der
Ukraine verantwortlich zu machen.
Und
jetzt, da sich die Krise zu einem ausgewachsenen Krieg ausgeweitet hat,
muss unbedingt sichergestellt werden, dass er allein für diese
katastrophale Wendung der Ereignisse verantwortlich gemacht wird.
Dieses Spiel mit der Schuld erklärt, warum Putin hier im Westen
inzwischen weithin als Imperialist dargestellt wird, obwohl es kaum
Beweise gibt, die diese Sichtweise stützen.
Die Wurzel der Krise ist das unter amerikanischer Führung stehende
Bestreben, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an den Grenzen
Russlands zu machen.
Diese Strategie besteht aus drei Säulen: die Integration der Ukraine
in die EU, die Umwandlung der Ukraine in eine prowestliche liberale
Demokratie und vor allem die Aufnahme der Ukraine in die Nato.
Warnung des US-Botschafters
Die Strategie wurde auf dem Nato-Jahresgipfel in Bukarest im April
2008 in die Wege geleitet, als das Bündnis ankündigte, dass die Ukraine
und Georgien «Mitglieder werden».
Die russische Führung reagierte sofort mit Empörung und machte
deutlich, dass sie diese Entscheidung als existenzielle Bedrohung ansah
und nicht die Absicht hatte, eines der beiden Länder der Nato beitreten
zu lass en.
Laut einem angesehenen russischen Journalisten geriet Putin «in Rage»
und warnte: «Wenn die Ukraine der Nato beitritt, wird sie dies ohne die
Krim und die östlichen Regionen tun. Sie wird einfach
auseinanderfallen.»
William Burns, der heute die CIA leitet, aber zum Zeitpunkt des
Bukarester Gipfels US-Botschafter in Moskau war, verfasste ein Memo an
die damalige Aussenministerin Condoleezza Rice, das die russische
Denkweise in dieser Angelegenheit kurz und bündig beschreibt.
In seinen Worten: «Der Beitritt der Ukraine zur Nato ist für die
russische Elite (nicht nur für Putin) die röteste aller roten Linien. In
den mehr als zweieinhalb Jahren, in denen ich Gespräche mit den
wichtigsten russischen Akteuren geführt habe, von Scharfmachern in den
dunklen Nischen des Kremls bis hin zu Putins schärfsten liberalen
Kritikern, habe ich noch niemanden gefunden, der die Aufnahme der
Ukraine in die Nato als etwas anderes betrachtet als einen direkten
Angriff auf die russischen Interessen.»
Die Nato, so sagte er, «würde als ein strategischer Fehdehandschuh
angesehen werden. Das Russland von heute wird darauf reagieren. Die
russisch-ukrainischen Beziehungen würden tiefgekühlt … Das würde einen
fruchtbaren Boden für russische Einmischungen auf der Krim und in der
Ostukraine schaffen».
Burns war natürlich nicht der einzige politische Entscheidungsträger,
der erkannte, dass die Aufnahme der Ukraine in die Nato mit Gefahren
verbunden war.
Auf dem Bukarester Gipfel sprachen sich sowohl die deutsche
Bundeskanzlerin Angela Merkel als auch der französische Präsident
Nicolas Sarkozy gegen eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine aus, weil sie
wussten, dass dies Russland alarmieren und verärgern würde.
Merkel erklärte kürzlich ihre Ablehnung: «Ich war mir sehr sicher,
[…] dass Putin das nicht einfach so geschehen lassen wird. Aus seiner
Sicht wäre das eine Kriegserklärung.»
Die Bush-Regierung kümmerte sich jedoch wenig um Moskaus «hellste
aller roten Linien» und setzte die französischen und deutschen Staats-
und Regierungschefs unter Druck, einer öffentlichen Erklärung
zuzustimmen, in der festgehalten wurde, dass die Ukraine und Georgien
schliesslich dem Bündnis beitreten würden.
Es überrascht nicht, dass die unter amerikanischer Führung
unternommenen Anstrengungen zur Integration Georgiens in die Nato im
August 2008 – vier Monate nach dem Bukarester Gipfel – zu einem Krieg
zwischen Georgien und Russland führten.
Dennoch setzten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten ihre
Pläne fort, die Ukraine zu einer westlichen Bastion an den Grenzen
Russlands zu machen. Diese Bemühungen lösten schliesslich im Februar
2014 eine schwere Krise aus, nachdem ein von den USA unterstützter
Aufstand den prorussischen Präsidenten der Ukraine, Wiktor Janukowitsch,
zur Flucht veranlasst hatte.
Er wurde durch den proamerikanischen Premierminister Arsenij Jazenjuk
ersetzt. Als Reaktion darauf beschlagnahmte Russland die Krim von der
Ukraine und trug dazu bei, einen Bürgerkrieg zwischen prorussischen
Separatisten und der ukrainischen Regierung in der ostukrainischen
Region Donbass anzuheizen.
Man hört oft das Argument, dass die Vereinigten Staaten und ihre
Verbündeten in den acht Jahren zwischen dem Ausbruch der Krise im
Februar 2014 und dem Beginn des Krieges im Februar 2022 der Aufnahme der
Ukraine in die Nato kaum Beachtung geschenkt hätten.
Das Thema sei praktisch vom Tisch, und daher könne die
Nato-Erweiterung keine wichtige Ursache für die Eskalation der Krise im
Jahr 2021 und den anschliessenden Ausbruch des Krieges Anfang dieses
Jahres gewesen sein.
Diese Argumentation ist falsch.
Die westliche Reaktion auf die Ereignisse von 2014 bestand vielmehr
darin, die bestehende Strategie nachzudoppeln und die Ukraine noch enger
an die Nato zu binden.
Die Allianz begann 2014 mit der Ausbildung des ukrainischen Militärs
und stellte in den folgenden acht Jahren durchschnittlich 10.000
ausgebildete Soldaten pro Jahr zur Verfügung. Im Dezember 2017 beschloss
die Trump-Administration, Kiew mit «Verteidigungswaffen» auszustatten.
Andere Nato-Länder schlossen sich bald an und lieferten noch mehr Waffen
an die Ukraine.
Das ukrainische Militär begann auch, an gemeinsamen Militärübungen mit Nato-Kräften teilzunehmen.
Militärparaden vor Russlands Augen
Im Juli 2021 veranstalteten Kiew und Washington gemeinsam die
Operation Sea Breeze, eine Marineübung im Schwarzen Meer, an der
Seestreitkräfte aus 31 Ländern teilnahmen und die direkt gegen Russland
gerichtet war.
Zwei Monate später, im September 2021, führte die ukrainische Armee
die Übung Rapid Trident 21 durch, die von der US-Armee als «jährliche
Übung zur Verbesserung der Interoperabilität zwischen verbündeten
Nationen und Partnerstaaten bezeichnet wird, um zu zeigen, dass die
Einheiten bereit sind, auf jede Krise zu reagieren».
Die Bemühungen der Nato, das ukrainische Militär zu bewaffnen und
auszubilden, erklären zu einem guten Teil, warum es sich im laufenden
Krieg so gut gegen die russischen Streitkräfte behaupten konnte.
Eine Schlagzeile im Wall Street Journal lautete: «Das Geheimnis des militärischen Erfolgs der Ukraine: Jahrelange Nato-Ausbildung».
Zusätzlich zu den laufenden Bemühungen der Nato, das ukrainische Militär
zu einer schlagkräftigeren Streitmacht zu machen, änderte sich 2021
auch die Politik im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft der Ukraine in
der Nato und ihrer Integration in den Westen.
Sowohl in Kiew als auch in Washington herrschte neue Begeisterung für
die Verfolgung dieser Ziele: Präsident Selenskyj, der nie viel
Enthusiasmus für einen Nato-Beitritt der Ukraine gezeigt hatte und im
März 2019 auf einer Plattform gewählt wurde, die zur Zusammenarbeit mit
Russland bei der Beilegung der anhaltenden Krise aufrief, änderte Anfang
2021 seinen Kurs und begrüsste nicht nur die Nato-Erweiterung, sondern
verfolgte auch eine harte Linie gegenüber Moskau. Er unternahm eine
Reihe von Schritten – darunter die Schliessung prorussischer
Fernsehsender und die Anklage eines engen Freundes Putins wegen
Hochverrats –, die Moskau mit Sicherheit verärgern würden.
Präsident Biden, der im Januar 2021 ins Weisse Haus einzog, hatte
sich seit langem für die Aufnahme der Ukraine in die Nato eingesetzt und
war auch gegenüber Russland ein Superfalke.
Es überrascht nicht, dass die Nato am 14. Juni 2021 auf ihrem
jährlichen Gipfel in Brüssel das folgende Communiqué veröffentlichte:
«Wir bekräftigen den auf dem Gipfeltreffen in Bukarest 2008 gefassten
Beschluss, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses wird, wobei der
Aktionsplan zur Mitgliedschaft (MAP) ein integraler Bestandteil des
Prozesses ist; wir bekräftigen alle Elemente dieses Beschlusses sowie
späterer Beschlüsse, einschliesslich der Tatsache, dass jeder Partner
nach seinen eigenen Verdiensten beurteilt werden wird. Wir unterstützen
nachdrücklich das Recht der Ukraine, ihre Zukunft und ihren
aussenpolitischen Kurs ohne Einmischung von aussen selbst zu bestimmen.»
Am 1. September 2021 besuchte Selenskyj das Weisse Haus, wo Biden
klarstellte, dass die Vereinigten Staaten «fest entschlossen» seien,
«die euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine zu unterstützen».
Am 10. November 2021 unterzeichneten Aussenminister Antony Blinken
und sein ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba ein wichtiges Dokument,
die «Charta der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der
Ukraine».
Das Ziel beider Parteien, so heisst es in dem Dokument, ist es, «das
Engagement für die Durchführung tiefgreifender und umfassender Reformen
in der Ukraine zu unterstreichen, die für eine vollständige Integration
in die europäischen und euro-atlantischen Institutionen erforderlich
sind».
Dieses Dokument stützt sich nicht nur auf die von den Präsidenten
Selenskyj und Biden gemachten Zusagen zur Stärkung der strategischen
Partnerschaft zwischen der Ukraine und den USA, sondern bekräftigt auch
das Engagement der USA für die Bukarester Gipfelerklärung von 2008.
Kurzum, es besteht kaum ein Zweifel daran, dass sich die Ukraine seit Anfang 2021 rasch auf einen Nato-Beitritt zubewegt.
Dennoch argumentieren einige Befürworter dieser Politik, dass Moskau
nicht besorgt sein sollte, da die Nato ein Verteidigungs-Bündnis sei und
keine Bedrohung für Russland darstelle. Aber das ist nicht die Meinung
Putins und anderer russischer Politiker über die Nato, und es kommt
darauf an, was sie denken.
Es steht ausser Frage, dass der Beitritt der Ukraine zur Nato für Moskau die «röteste aller roten Linien» blieb.
Um dieser wachsenden Bedrohung zu begegnen, stationierte Putin
zwischen Februar 2021 und Februar 2022 immer mehr russische Truppen an
der Grenze der Ukraine.
Sein Ziel war es, Biden und Selenskyj zu zwingen, ihren Kurs zu
ändern und ihre Bemühungen um eine Integration der Ukraine in den Westen
zu stoppen.
Moskaus Ultimatum und Monroe-Doktrin
Am 17. Dezember 2021 richtete Moskau getrennte Schreiben an die
Regierung Biden und die Nato und forderte eine schriftliche Garantie,
dass: 1) die Ukraine nicht der Nato beitritt, 2) keine Offensivwaffen in
der Nähe der russischen Grenzen stationiert werden und 3) die seit 1997
nach Osteuropa verlegten Nato-Truppen und -Ausrüstungen wieder nach
Westeuropa verlegt werden.
Putin gab in dieser Zeit zahlreiche öffentliche Erklärungen ab, die
keinen Zweifel daran liessen, dass er die Nato-Erweiterung in der
Ukraine als existenzielle Bedrohung ansah.
In einer Rede vor dem Vorstand des Verteidigungsministeriums am 21.
Dezember 2021 erklärte er: «Was sie in der Ukraine tun oder zu tun
versuchen oder planen, findet nicht Tausende von Kilometern von unserer
Landesgrenze entfernt statt. Es geschieht direkt vor unserer Haustür.
Sie müssen verstehen, dass wir uns einfach nirgendwo mehr hin
zurückziehen können. Glauben sie wirklich, dass wir diese Bedrohungen
nicht wahrnehmen? Oder glauben sie, dass wir tatenlos zusehen werden,
wie Bedrohungen für Russland entstehen?»
Zwei Monate später, auf einer Pressekonferenz am 22. Februar 2022,
nur wenige Tage vor Kriegsbeginn, sagte Putin: «Wir sind kategorisch
dagegen, dass die Ukraine der Nato beitritt, weil dies eine Bedrohung
für uns darstellt, und wir haben Argumente, die dies unterstützen. Ich
habe in diesem Saal wiederholt darüber gesprochen.»
Dann machte er deutlich, dass er anerkenne, dass die Ukraine de facto
Mitglied der Nato werde. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten,
sagte er, «pumpen die derzeitigen Kiewer Behörden weiterhin mit modernen
Waffentypen voll». Er fuhr fort, dass Moskau, wenn dies nicht gestoppt
werde, «mit einem bis an die Zähne bewaffneten ‹Anti-Russland› dastehen
würde. Das ist völlig inakzeptabel.»
Putins Logik dürfte für die Amerikaner, die seit langem der
Monroe-Doktrin verpflichtet sind, die besagt, dass keine entfernte
Grossmacht ihre militärischen Kräfte in der westlichen Hemisphäre
stationieren darf, vollkommen einleuchtend sein.
Ich möchte anmerken, dass es in allen öffentlichen Äusserungen Putins
in den Monaten vor dem Krieg nicht den geringsten Hinweis darauf gibt,
dass er die Eroberung der Ukraine und ihre Eingliederung in Russland in
Erwägung zog, geschweige denn weitere Länder in Osteuropa angreifen
wollte.
Auch andere führende russische Politiker – darunter der
Verteidigungsminister, der Aussenminister, der stellvertretende
Aussenminister und der russische Botschafter in Washington – betonten
die zentrale Bedeutung der Nato-Erweiterung als Auslöser der
Ukraine-Krise.
Aussenminister Sergei Lawrow brachte es auf einer Pressekonferenz am
14. Januar 2022 auf den Punkt, als er sagte: «Der Schlüssel zu allem ist
die Garantie, dass die Nato nicht nach Osten expandiert.»
Dennoch scheiterten die Bemühungen Lawrows und Putins, die
Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten dazu zu bringen, ihre
Bemühungen aufzugeben, die Ukraine zu einem westlichen Bollwerk an der
Grenze Russlands zu machen, völlig.
Aussenminister Antony Blinken reagierte auf die russischen
Forderungen von Mitte Dezember mit der schlichten Aussage: «Es gibt
keine Veränderung. Es wird keine Änderung geben.» Daraufhin startete
Putin eine Invasion in der Ukraine, um die Bedrohung zu beseitigen, die
er in der Nato sah.
Wo stehen wir jetzt, und wo gehen wir hin?
Der Krieg in der Ukraine wütet nun seit fast vier Monaten. Ich möchte
nun einige Überlegungen zu den bisherigen Ereignissen anstellen und
aufzeigen, wohin sich der Krieg entwickeln könnte.
Ich werde drei spezifische Themen ansprechen: 1) die Folgen des
Krieges für die Ukraine, 2) die Aussichten auf eine Eskalation –
einschliesslich einer nuklearen Eskalation – und 3) die Aussichten auf
eine Beendigung des Krieges in absehbarer Zukunft.
Dieser Krieg ist für die Ukraine eine Katastrophe ohnegleichen.
Wie ich bereits erwähnte, machte Putin 2008 deutlich, dass Russland
die Ukraine zerstören würde, um sie am Beitritt zur Nato zu hindern.
Dieses Versprechen löst er jetzt ein.
Die russischen Streitkräfte haben 20 Prozent des ukrainischen
Territoriums erobert und viele ukrainische Städte und Ortschaften
zerstört oder schwer beschädigt.
Mehr als 6,5 Millionen Ukrainer sind aus dem Land geflohen, und mehr als 8 Millionen wurden innerhalb des Landes vertrieben.
Viele Tausende von Ukrainern – darunter auch unschuldige Zivilisten –
sind tot oder schwer verwundet, und die ukrainische Wirtschaft liegt in
Trümmern.
Die Weltbank schätzt, dass die ukrainische Wirtschaft im Laufe des Jahres 2022 um fast 50 Prozent schrumpfen wird.
Gemäss Schätzungen wurden der Ukraine Schäden in Höhe von rund 100
Milliarden Dollar zugefügt, und der Wiederaufbau des Landes wird fast
eine Billion Dollar erfordern.
In der Zwischenzeit benötigt Kiew jeden Monat etwa 5 Milliarden
Dollar an Hilfsgeldern, nur um die Regierung am Laufen zu halten.
Ausserdem besteht wenig Hoffnung, dass die Ukraine in absehbarer Zeit
ihre Häfen am Asowschen und Schwarzen Meer wieder nutzen kann.
Vor dem Krieg wurden rund 70 Prozent aller ukrainischen Exporte und
Importe – und 98 Prozent der Getreideexporte – über diese Häfen
abgewickelt. Dies ist die Ausgangssituation nach weniger als vier
Monaten Kampfhandlungen.
Es ist geradezu beängstigend, sich vorzustellen, wie die Ukraine
aussehen wird, wenn sich dieser Krieg noch ein paar Jahre hinzieht.
Kein Ende in Sicht
Wie stehen also die Aussichten für die Aushandlung eines
Friedensabkommens und die Beendigung des Krieges in den nächsten
Monaten?
Leider muss ich sagen, dass ich keine Möglichkeit sehe, diesen Krieg
in absehbarer Zeit zu beenden, eine Ansicht, die von prominenten
politischen Entscheidungsträgern wie General Mark Milley, dem
Vorsitzenden des JCS, und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg geteilt
wird.
Der Hauptgrund für meinen Pessimismus ist, dass sowohl Russland als
auch die Vereinigten Staaten fest entschlossen sind, den Krieg zu
gewinnen, und es unmöglich ist, eine Vereinbarung zu treffen, bei der
beide Seiten gewinnen.
Genauer gesagt liegt der Schlüssel zu einer Einigung aus russischer
Sicht darin, die Ukraine zu einem neutralen Staat zu machen und damit
die Aussicht auf eine Eingliederung Kiews in den Westen zu beenden.
Dieses Ergebnis ist jedoch für die Regierung Biden und einen grossen
Teil des amerikanischen aussenpolitischen Establishments inakzeptabel,
da es einen Sieg für Russland bedeuten würde.
Die ukrainische Führung hat natürlich eine Vertretung, und man könnte
hoffen, dass sie auf eine Neutralisierung drängen wird, um ihrem Land
weiteren Schaden zu ersparen.
Tatsächlich erwähnte Selenskyj diese Möglichkeit in den ersten Tagen des Krieges kurz, hat sie aber nie ernsthaft verfolgt.
Die Chancen, dass Kiew auf eine Neutralisierung drängt, sind jedoch
gering, da die Ultranationalisten in der Ukraine, die über erhebliche
politische Macht verfügen, keinerlei Interesse daran haben, den
Forderungen Russlands nachzugeben, insbesondere nicht denen, die die
politische Ausrichtung der Ukraine gegenüber der Aussenwelt
vorschreiben.
Die Regierung Biden und die Länder an der Ostflanke der Nato – wie
Polen und die baltischen Staaten – werden die Ultranationalisten der
Ukraine in dieser Frage wahrscheinlich unterstützen.
Erschwerend kommt hinzu, dass Russland seit Beginn des Krieges grosse
Teile des ukrainischen Territoriums erobert hat und wie es mit der Krim
weitergehen soll. Es ist schwer vorstellbar, dass Moskau das
ukrainische Territorium, das es jetzt besetzt hält, freiwillig aufgibt,
geschweige denn vollständig, da Putins territoriale Ziele heute
wahrscheinlich nicht die gleichen sind wie vor dem Krieg.
Gleichzeitig ist es ebenso schwer vorstellbar, dass ein ukrainischer
Staatschef einem Abkommen zustimmt, das Russland erlaubt, ukrainisches
Territorium zu behalten, ausser vielleicht die Krim.
Ich hoffe, dass ich falsch liege, aber deshalb sehe ich kein Ende dieses ruinösen Krieges in Sicht.
Lassen Sie mich nun auf die Frage der Eskalation eingehen. Unter den
Wissenschaftlern im Bereich der internationalen Beziehungen ist weithin
anerkannt, dass bei langwierigen Kriegen eine starke Tendenz zur
Eskalation besteht.
Mit der Zeit können andere Länder in den Kampf hineingezogen werden, und das Ausmass der Gewalt wird wahrscheinlich zunehmen.
Die Gefahr, dass dies im Ukraine-Krieg geschieht, ist real.
Es besteht die Gefahr, dass die Vereinigten Staaten und ihre
Nato-Verbündeten in die Kämpfe hineingezogen werden, was sie bis jetzt
vermeiden konnten, obwohl sie bereits einen Stellvertreterkrieg gegen
Russland führen.
Es besteht auch die Möglichkeit, dass in der Ukraine Atomwaffen
eingesetzt werden und dies sogar zu einem nuklearen Schlagabtausch
zwischen Russland und den Vereinigten Staaten führen könnte.
Der Grund dafür, dass es zu diesen Ergebnissen kommen könnte, liegt
darin, dass für beide Seiten so viel auf dem Spiel steht, dass sich
keine Seite eine Niederlage leisten kann.
Wie ich bereits betont habe, sind Putin und seine Getreuen der
Ansicht, dass der Beitritt der Ukraine zum Westen eine existenzielle
Bedrohung für Russland darstellt, die beseitigt werden muss.
In der Praxis bedeutet das, dass Russland seinen Krieg in der Ukraine gewinnen muss. Eine Niederlage ist inakzeptabel.
Die Regierung Biden hingegen hat betont, dass ihr Ziel nicht nur darin
besteht, Russland in der Ukraine entscheidend zu besiegen, sondern auch,
der russischen Wirtschaft mit Sanktionen massiven Schaden zuzufügen.
Verteidigungsminister Lloyd Austin hat betont, dass das Ziel des
Westens darin besteht, Russland so weit zu schwächen, dass es nicht mehr
in die Ukraine einmarschieren kann.
Die Biden-Administration hat es sich zum Ziel gesetzt, Russland aus
dem Kreis der Grossmächte zu verdrängen. Gleichzeitig hat Präsident
Biden selbst Russlands Krieg in der Ukraine als «Völkermord» bezeichnet
und Putin als «Kriegsverbrecher» beschuldigt, dem nach dem Krieg ein
«Kriegsverbrecherprozess» gemacht werden sollte.
Eine solche Rhetorik ist kaum dafür geeignet, über ein Ende des
Krieges zu verhandeln. Denn wie soll man mit einem völkermordenden Staat
verhandeln?
Die amerikanische Politik hat zwei wichtige Konsequenzen: Zunächst
einmal verstärkt sie die existenzielle Bedrohung, der Moskau in diesem
Krieg ausgesetzt ist, und macht es wichtiger denn je, dass sie sich in
der Ukraine durchsetzt.
Gleichzeitig bedeutet dies, dass die Vereinigten Staaten fest
entschlossen sind, dafür zu sorgen, dass Russland den Krieg verliert.
Die Regierung Biden hat inzwischen so viel in den Ukraine-Krieg
investiert – sowohl materiell als auch rhetorisch –, dass ein russischer
Sieg eine verheerende Niederlage für Washington bedeuten würde.
Es ist klar, dass nicht beide Seiten gewinnen können.
Ausserdem besteht die ernsthafte Möglichkeit, dass eine Seite
anfängt, schwer zu verlieren. Wenn die amerikanische Politik Erfolg hat
und die Russen auf dem Schlachtfeld gegen die Ukrainer verlieren, könnte
Putin zu Atomwaffen greifen, um die Situation zu retten.
Die Direktorin des US-Geheimdienstes, Avril Haines, erklärte im Mai
vor dem Streitkräfte-Ausschuss des Senats, dass dies eine der beiden
Situationen sei, die Putin zum Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine
veranlassen könnte.
Diejenigen unter Ihnen, die dies für unwahrscheinlich halten, sollten
sich daran erinnern, dass die Nato während des Kalten Krieges unter
ähnlichen Umständen den Einsatz von Atomwaffen plante.
Sollte Russland in der Ukraine Atomwaffen einsetzen, ist es
unmöglich, zu sagen, wie die Regierung Biden reagieren würde, aber sie
stünde sicherlich unter grossem Druck, Vergeltung zu üben, was die
Möglichkeit eines Atomkriegs zwischen den Grossmächten erhöhen würde.
Hier ist ein perverses Paradoxon im Spiel: Je erfolgreicher die USA und
ihre Verbündeten bei der Durchsetzung ihrer Ziele sind, desto
wahrscheinlicher ist es, dass es zu einem Atomkrieg kommt.
Drehen wir den Spiess um und fragen uns, was passiert, wenn die
Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten auf eine Niederlage
zusteuern, was effektiv bedeutet, dass die Russen das ukrainische
Militär in die Schranken weisen und die Regierung in Kiew ein
Friedensabkommen aushandelt, um so viel wie möglich vom Land zu retten.
In diesem Fall wäre der Druck auf die Vereinigten Staaten und ihre
Verbündeten gross, sich noch stärker in die Kämpfe einzumischen. Es ist
nicht wahrscheinlich, aber durchaus möglich, dass amerikanische oder
vielleicht polnische Truppen in die Kämpfe hineingezogen werden, was
bedeuten würde, dass sich die Nato buchstäblich im Krieg mit Russland
befindet.
Dies ist nach Avril Haines das andere Szenario, bei dem die Russen zu
Atomwaffen greifen könnten. Es ist schwierig, genau zu sagen, wie sich
die Ereignisse entwickeln werden, wenn dieses Szenario eintritt, aber es
steht ausser Frage, dass es ein ernsthaftes Potenzial für eine
Eskalation, einschliesslich einer nuklearen Eskalation, geben wird.
Die blosse Möglichkeit eines solchen Ergebnisses sollte Ihnen einen Schauer über den Rücken jagen.
Dieser Krieg wird wahrscheinlich noch andere katastrophale Folgen
haben, auf die ich aus Zeitgründen nicht näher eingehen kann. Es gibt
zum Beispiel Grund zu der Annahme, dass der Krieg zu einer weltweiten
Nahrungsmittelkrise führen wird, in der viele Millionen Menschen sterben
werden.
Der Präsident der Weltbank, David Malpass, argumentiert, dass wir bei
einer Fortsetzung des Krieges in der Ukraine mit einer globalen
Nahrungsmittelkrise konfrontiert sein werden, die eine «menschliche
Katastrophe» darstellt.
Darüber hinaus sind die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen
so stark vergiftet, dass es viele Jahre dauern wird, sie zu reparieren.
In der Zwischenzeit wird diese tiefgreifende Feindseligkeit die
Instabilität auf der ganzen Welt, vor allem aber in Europa, anheizen.
Einige werden sagen, dass es einen Silberstreif am Horizont gibt: Die
Beziehungen zwischen den westlichen Ländern haben sich durch den
Ukraine-Krieg deutlich verbessert. Das stimmt zwar im Moment, aber unter
der Oberfläche gibt es tiefe Risse, die sich mit der Zeit zwangsläufig
wieder auftun werden.
So werden sich beispielsweise die Beziehungen zwischen den Ländern
Ost- und Westeuropas mit zunehmender Dauer des Krieges wahrscheinlich
verschlechtern, da ihre Interessen und Perspektiven in Bezug auf den
Konflikt nicht die gleichen sind.
Schliesslich schadet der Konflikt der Weltwirtschaft schon jetzt in
erheblichem Masse, und diese Situation wird sich mit der Zeit
wahrscheinlich noch verschlimmern.
Jamie Dimon, der CEO von JP Morgan Chase, sagt, wir sollten uns auf
einen wirtschaftlichen «Hurrikan» einstellen. Wenn er recht hat, werden
sich diese wirtschaftlichen Erschütterungen auf die Politik aller
westlichen Länder auswirken, die liberale Demokratie untergraben und
ihre Gegner auf der linken und rechten Seite stärken.
Die wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Krieges werden nicht nur den Westen, sondern Länder auf der ganzen Welt betreffen.
Wie die Uno in einem erst letzte Woche veröffentlichten Bericht
feststellte: «Die Auswirkungen des Konflikts reichen weit über seine
Grenzen hinaus. Der Krieg hat in all seinen Dimensionen eine globale
Lebenskostenkrise verschärft, wie es sie seit mindestens einer
Generation nicht mehr gegeben hat, und gefährdet Leben, Lebensgrundlagen
und unser Streben nach einer besseren Welt bis 2030.»
Washington hat die Ukraine auf die Schlachtbank geführt
Kurz gesagt, der anhaltende Konflikt in der Ukraine ist eine
kolossale Katastrophe, die, wie ich zu Beginn meines Vortrags
feststellte, Menschen auf der ganzen Welt veranlassen wird, nach den
Ursachen zu suchen. Diejenigen, die an Fakten und Logik glauben, werden
schnell feststellen, dass die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten
die Hauptverantwortung für dieses Zugunglück tragen.
Die Entscheidung vom April 2008, die Ukraine und Georgien in die Nato
aufzunehmen, war dazu bestimmt, zu einem Konflikt mit Russland zu
führen.
Die Bush-Regierung war der Hauptverantwortliche für diese
verhängnisvolle Entscheidung, aber die Regierungen Obama, Trump und
Biden haben diese Politik auf Schritt und Tritt bekräftigt, und Amerikas
Verbündete sind dem Beispiel Washingtons pflichtbewusst gefolgt.
Obwohl die russische Führung unmissverständlich klarstellte, dass die
Aufnahme der Ukraine in die Nato eine Überschreitung der «klarsten
aller roten Linien» bedeuten würde, weigerten sich die Vereinigten
Staaten, auf die tiefsten Sicherheitsbedenken Russlands einzugehen, und
setzten sich stattdessen unerbittlich dafür ein, die Ukraine zu einem
westlichen Bollwerk an Russlands Grenze zu machen.
Die tragische Wahrheit ist, dass es heute wahrscheinlich keinen Krieg
in der Ukraine gäbe und die Krim immer noch Teil der Ukraine wäre, wenn
der Westen nicht die Nato-Erweiterung in der Ukraine vorangetrieben
hätte.
Im Grunde genommen hat Washington die zentrale Rolle dabei gespielt,
die Ukraine auf den Weg der Zerstörung zu führen. Die Geschichte wird
die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten für ihre bemerkenswert
törichte Politik gegenüber der Ukraine hart bestrafen.
Ich danke Ihnen.
John J. Mearsheimer lehrt Politikwissenschaft als
R.-Wendell-Harrison-Distinguished-Service-Professor an der Universität
von Chicago. Zu seinen zahlreichen Büchern gehören «The Great Delusion:
Liberale Träume und internationale Realitäten» und «Die Tragödie der
Großmachtpolitik». WW
Was bedeutet all dies für Deutschland? Das Deutschland neutral werden muss. Wer war es, Scholz? Derjenige, der sagte, diesmal stehe Deutschland auf der richtigen Seite?? Deutschland steht nicht auf der richtigen Seite. Wenn beide Seiten falsch sind, muss Deutschland neutral sein.