Stationen

Donnerstag, 24. Mai 2012

Verachtet mir die Meister nicht



Schön, dass Broder Sarrazin verteidigt. Nur ist das alles nicht so deutsch, wie es ihm vorkommt. Dass man von einem Extrem ins andere kippt, geschieht überall. Die Toskana und besonders Florenz war einmal fascistissima und ist jetzt mit Umbrien die letzte Hochburg der Kommunisten in den Quartiersverwaltungen, dem Gesundheitswesen und dem Bermudadreieck zwischen Gemeindeverwaltungen, Versicherungswesen und Kooperativen. Typisch deutsch ist an Deutschland etwas ganz anderes: schon Shakespeare sagte, wir seien nicht so sehr ein Volk des Entweder-Oder wie andere Völker, sondern neigten immer zum Sowohl-als-auch, weshalb wir noch heute halb evangelisch und halb katholisch sind seit dem 30-jährigen Krieg und nach dem 2.WK zwei Länder waren, ein kapitalistisches und ein kommunistisches. Es liegt wahrscheinlich an der zentralen Lage mit 9 angrenzenden Ländern auf dieser europäischen Großhalbinsel, dass wir es am liebsten immer allen recht machen würden und die Quadratur des Kreises unser eigentliches Ideal ist. Da haben es die Engländer mit ihrem Balancing of Powers und Occam´s Razor einfacher.

Dass Sarrazin einen immer noch offen liegenden, nicht verheilten Nerv ins Zentrum der Aufmerksamkeit geholt hat, ist richtig, und es ist gut, dass er es getan hat. Aber dass es sich da um einen "sehr deutschen Nerv" handelt, ist ein Blickwinkel, den ich ablehne, weil durch ihn eine verständliche, auf einem enormen, tragischen Schuldgefühl fußende optische Täuschung quasi in ein neurologisches, dem deutschen Wesen innewohnendes Syndrom umgedeutet wird, was der Klarheit nicht dienlich ist.

Sarrazin hat recht mit seiner Ansicht, dass die Bereitwilligkeit des deutschen Volkes, auf die DM zu verzichten und nicht einmal ein Dankeschön von den anderen Europäern dafür zu erwarten, nur mit einem deutschen Bedürfnis nach Buße zu erklären ist. Die deutschen Politiker jedoch, die den Euro anstrebten und ermöglicht haben, waren nicht von diesem Bedürfnis angetrieben; zumindest nicht ausschließlich und nicht primär. Es gab und gibt sehr gute Argumente gegen den Euro. Es gab und gibt aber auch sehr gute dafür. Und letztere hatten für die entscheidenden Experten und Politiker der letzten Generation mehr Gewicht.

Wenn man an einem sogearteten Scheideweg angekommen ist, dann kann man es nicht allen recht machen, und egal wie man sich entscheidet, bringt jede Entscheidung auch Nebenwirkungen hervor, die man zwar selber lieber vermiede, jedoch für das kleinere der zu wählenden Übel hält.

Broder hat nicht unrecht, aber ich würde nicht so weit gehen, denjenigen, die Sarrazins Thesen nicht einmal anhören wollen, eine totalitäre Haltung vorzuwerfen. Das ist übertrieben, und es führt uns nicht weiter, denjenigen, die Sarrazin unberechtigterweise zum Totalitaristen machen wollen, ihrerseits Totalitarismus vorzuwerfen. Sie sind nur genervt. Und mit dem Gedanken konfrontiert, sich in einer Grundüberzeugung eventuell geirrt zu haben, ist jeder Mensch erst mal entsetzt; das ist ganz normal. Es ist allerdings bestürzend, dass ein intelligenter Mann, der der im Intellektuellenmilieu vorherrschenden Meinung mit klugen Argumenten widerspricht, auf soviel irrationale Verschlossenheit stößt. Bestürzend ist auch der von moralischer Eitelkeit durchdrungene Linkskonformismus, der dabei besonders deutlich sichtbar wird. Ich begegnete diesem moralistischen Linkskonformismus vor über 30 Jahren in der Toskana, und dachte damals nach wenigen Jahren, er könne mit der Zeit nur zu einem deutlichen Rechtsruck in Italien führen, was dann auch geschah. Dass auch in Deutschland einmal ein ähnlicher Linkskonformismus vorherrschen könnte - bei weitem nicht so extrem wie in Italien, aber ängstlicher, sehnsüchtiger und hysterischer - hätte ich damals nicht für möglich gehalten. An diesem deutschen Linkskonformismus ist eigentlich sonst nichts deutsch. Er ist verständlicherweise emphatischer und empfindlicher als andernorts, weil seine raison d´etre die Verwindung einer besonderen Tragödie ist und selbst die Verwindung noch traumatische Aspekte hat. Ihn nährt wie überall auf der Welt ein Gefühl moralischer Überlegenheit (leider nicht selten auch moralischer Eitelkeit). Nicht aus Bosheit, sondern weil man in unserer Epoche aus Liebe zu Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vergessen hat, dass es auch für das Gegenteil davon - Ordnung, Unterschied und Distanz - gute, auch moralisch gute, Gründe geben kann.



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