Stationen

Freitag, 29. April 2022

In den USA wacht jemand auf

 


 

Merkel

Ich hätte ja nie gedacht, dass ich irgendwann noch einmal in meinem Leben etwas Positives über Merkel sagen würde. Aber ich glaube, der einzige Mensch auf dieser Welt, der noch in der Lage wäre, mit Putin in Verhandlungen zu treten, ist Merkel. Es besteht schließlich nicht die Hoffnung, dass die Ukraine die USA um Mitgliedschaft bittet, obwohl es der Ukraine vor allem um die Nato geht und nicht so sehr um die EU (weshalb Putin auch gegen eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine gar nichts einzuwenden hat).


 

 

Gunnar Heinsohn

Gunnar Heinsohn in der WELT:

Putins zweiter Völkermord
Putin begeht in der Ukraine bereits seinen zweiten Völkermord, schreibt Gast-Autor Gunnar Heinsohn
Die Ehrung einer russischen Einsatzgruppe von Butscha durch den Präsidenten zeigt, dass die Tötungen nicht nur vorbereitet wurden, also ein Genozid sind, sondern auch weitergehen sollen. Das Muster ist aus der Geschichte bekannt. Die Ukrainer wissen mithin, was ihnen bei einer Niederlage bevorstehen würde.
Wladimir Putin ist der Erste, der nach einem Völkermord – 1999 bis 2009 in Tschetschenien – jetzt unter dem Vorwand der Unterbindung eines vermeintlichen Völkermordes – an Russen in der Ostukraine – seinen zweiten Völkermord in Angriff nimmt.
Putin hat offensichtlich recherchiert, ob es einen legalen Grund für einen Angriffskrieg gibt. Seine Juristen konnten ihm nur die UN-Völkermordkonvention nennen. Ihre Unterzeichnerstaaten – mit Russland sind es 147 – sind gemäß Artikel 1 verpflichtet, einen Völkermord zu „verhüten“, also nicht nur zu bestrafen. Schon für die Verhinderung eines gewöhnlichen Bürgerkrieges gibt es keine derartige Verpflichtung. Putins Genozid-Vorwurf gegen die Ukraine sowie das strikte Vermeiden der Begriffe „Krieg“ oder „Invasion“ erklären sich aus seiner Suche nach einer Beschönigung seines ungeheuerlichen Vorhabens.
Völkermord benötigt wie jeder Mord Absicht und Planung. Ein spontanes Massaker kann 1000 Menschen töten, ist aber juristisch ein massenhafter Totschlag. Ein vorbereiteter Völkermord kann nach 100 Toten gestoppt werden, und dennoch sind diese Hundert Völkermordopfer. Juristisch ist der Unterschied wichtig.
Völkermord liegt auch dann vor, wenn lediglich ein Teil der betroffenen Gruppe getötet werden
soll. Rafael Lemkin, ein Pole jüdischer Herkunft, hatte als Verfasser der Völkermordkonvention bewusst den Begriff „Teil“ ins Gesetz geschrieben, weil er für zwei Fälle Zeitzeuge war.
Im September 1939 begann die Ermordung der polnischen Bildungsschichten („Intelligenzaktion“) durch Deutsche. Wegen dieser Morde in Polen begann – 22 Monate vor dem Holocaust – Abwehr-Chef Canaris seinen Widerstand gegen die SS, die ihn dafür im April 1945 in Flossenbürg erhängte. 1940 folgte die Ermordung der polnischen Offiziere und Beamten durch Russen in Katyn und anderen Orten. Beide Großtötungen sollten die Kultur vernichten, damit die Restbevölkerung versklavt oder germanisiert bzw. russifiziert werden konnte. Einen der Unterzeichner des Mordbefehls von Katyn, Michail Kalinin, ehrt Russland bis heute als Namensgeber des einst deutschen Königsbergs.
Warum und wie betreibt Putin seit dem zweiten Tschetschenienkrieg Völkermord? Er will dem russischen Imperium das Schicksal der westlichen Reiche ersparen. 1998, ein Jahr bevor er Ministerpräsident wurde, war er Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB und baute eine Spezialabteilung für die Erhaltung des Reiches auf. Deren Agenten sollten in den ehemaligen Sowjetrepubliken Bedingungen für ihre Rückkehr unter Moskaus Macht schaffen.
 
Einst hatten Spanier, Niederländer, Belgier, Franzosen und Briten ebenfalls versucht, ihre Reiche durch Gewalt zu erhalten, haben nach 1945 in den Kolonien aber alle Kriege verloren. Auch sie begingen Massaker und zerstörten Kulturgüter. 1974 waren die Imperien mit dem Verlust der portugiesischen Kolonien erledigt.
Auch in Westeuropa versuchte man, verlorene Reiche zu retten
Frankreich kam bei diesem Untergang einem Bürgerkrieg am nächsten. Präsident Charles de Gaulle überlebte 1961 und 1962 zwei Mordversuche rebellierender Offiziere. Nach Jahren des Blutvergießens entließ er Algerien dennoch in die Unabhängigkeit. Das nordafrikanische Territorium ähnelte damals einer französischen Ukraine: Jeder sechste Bürger war Franzose. Den Verlust der geliebten Heimat beantworteten verjagte Franzosen mit dem Abbrennen von Schulen. Selbst die größte Bibliothek – sie gehörte zur Universität von Algier – ging in Flammen auf.
Warum scheiterten diese Versuche, Reiche zu retten? Die Europäer verstanden nicht, warum sie zuerst 90 Prozent der Erde unterwerfen konnten und weshalb sie jetzt nur noch verloren. Durch die Bestrafung von Geburtenkontrolle hatten sie 450 Jahre lang sechs bis acht Kinder pro Frau und damit mehr Menschen zur Verfügung, als sie beim Erobern und Besiedeln auf anderen Kontinenten verloren. Ab den 1960er-Jahren jedoch hatten sie nur noch zwei Kinder pro Frau, die Unterworfenen hingegen sechs bis acht. Ab 1970 – zuerst in Deutschland – fiel Europa sogar unter zwei Kinder pro Frauenleben.
Die Russen erlebten dasselbe Schicksal und machten im ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) dieselben Fehler. Sie hatten nicht bedacht, dass die Zaren bis 1914 von global 1000 wehrfähigen Männern rund 100 unter ihrem Kommando hatten. Dadurch wurden sie trotz aller Verluste durch Eroberungskriege und trotz der Abwanderung von Siedlern demografisch immer stärker.
Aufgrund derselben Denkfehler wie im Westen folgte in Tschetschenien auch ein vergleichbares militärisches Fiasko. Boris Jelzin verlor viele Soldaten und den Krieg, weil die tschetschenischen Frauen bei drei bis vier Söhnen zwei in der Schlacht verlieren und dennoch das Weiterleben ihrer muslimischen Familien sicherstellen konnten.
Putin kombinierte zwei Methoden
Putin analysierte Jelzins Scheitern und kombinierte ab 1999 zwei Völkermordmethoden. Er tötete weiterhin Anhänger des tschetschenischen Nationalgedankens. Die zum Russentum Überwechselnden belohnte er fürstlich und gewann so besonders fanatische Anhänger.
Zugleich lernte er von der Guerra sucia (Schmutziger Krieg) der argentinischen Junta der Jahre 1974 bis 1983. Die entführte mindestens 9000 Aktivisten der linken Revolte und ermordete sie. Das beendete diese militante Studentenbewegung. Putin ließ rund 5000 tschetschenische junge Männer entführen (bei einer Gesamtbevölkerung von gut einer Million), die noch gar nicht kämpften, aber ihren älteren Brüdern hätten folgen können. Er ließ sie ermorden und ihre Leichen verstecken. Auf die Bevölkerung Österreichs und der Schweiz umgerechnet wären das 40.000 junge Männer, auf Deutschland 400.000 junge Männer. Der Geburtenvorteil der Unabhängigkeitskämpfer wurde so ausgeschaltet.
 
Ein derart durchdachter und exekutierter Völkermord ist im 21. Jahrhundert einmalig, er machte Putin überdies zum ersten europäischen Sieger in den Dekolonisierungskriegen nach 1945. Seine Argumente einer angeblichen Nato-Bedrohung oder der slawischen Brüder spielten keinerlei Rolle. Es ging ganz unverstellt um das gewaltsame Festhalten zaristischer Eroberungen. 1859 wurde das Kaukasusland gewaltsam annektiert. Um dessen erbitterten Widerstand zu brechen, ließ Alexander II. mindestens 100.000 Tschetschenen nach Sibirien deportieren.
Nach dem genozidalen Doppelschlag im Kaukasus wetteiferten fast alle westlichen Politiker von Rang um die Gunst des Diktators im Kreml. Warnungen vor allem baltischer und polnischer Opfer und dadurch Kennern Moskaus wurden als reaktionär hingestellt. Hingegen erreichte das russische Nationalgefühl, nicht nur unbesiegbar, sondern auch unbestrafbar zu sein, einen neuen Höhepunkt.
Wie Russland ist auch die Ukraine eine vergreisende Nation mit einem Durchschnittsalter von weit über 40 Jahren. Beide Länder kämpfen mit den zahlenmäßig kleinsten Wehrjahrgängen ihrer demografisch dokumentierten Geschichte. Für das Verständnis von Putins Völkermord sind nicht blindwütige Tötungen oder Vergewaltigungen durch seine Soldateska entscheidend. Sein Hauptziel sind die gebildeten Schichten. Putin wiederholt die Hitler-Stalin-Völkermordvarianten von 1939 und 1940.
Aus diesem Grund werden ukrainische Bürgermeister und ihre Familien verschleppt und getötet. Auch hier ist nicht die Zahl der Ermordeten das Kriterium für einen Völkermord, sondern die erklärte Absicht, die ukrainische Kultur zu vernichten, um den Rest des Volkes der Russifizierung und Kontrolle zu unterwerfen.
In Butscha wurde systematisch gejagt
Selbst wenn Kiew – was ja nicht nur Moskau, sondern auch Washington erwartete – nach zwei Tagen kapituliert hätte und es bei Einmarsch und Besatzung geblieben wäre, hätte die völkermörderische Operation gegen die ukrainische Elite noch lange nicht aufgehört. Gerade weil dieses Tötungsprogramm auch in Washington bekannt ist, offerierte ja US-Außenminister Antony Blinken Präsident Wolodymyr Selenskyj und anderen gewählten Vertretern der ukrainischen Nation Hilfe für die Rettung ihres Lebens.
Putin plante vor dem 24. Februar 2022 die Tötung von Ukrainern besser als den Krieg, da er mit umgehender Unterwerfung rechnete, aber nicht mit dem Verschwinden des ukrainischen Nationalgedankens. Deshalb wurden viele der in Butscha Ermordeten „systematisch gejagt, weil sie lokale politische Führer, Kriegsveteranen aus dem Donbass und Angehörige der territorialen Verteidigung“ waren, wie der „Kyiv Independent“ schreibt. „Um sie ausfindig zu machen, führten die russischen Streitkräfte Listen mit den Namen und Adressen der Personen mit sich.“
So wie 1939 Volksdeutsche bei der Aufstellung von Listen für zu ermordende polnische Ärzte und Lehrer halfen, so gibt es heute unter den Ukrainern lebende Spitzel, die russische Spezialeinheiten zu den Häusern der Opfer führen. Putins militärische Ehrung einer Einsatzgruppe zeigt, dass die Tötungen nicht nur minutiös vorbereitet wurden, also ein Genozid sind, sondern auch weitergehen sollen. Die Ukrainer wissen mithin, was ihnen bei Niederlage oder Kapitulation bevorsteht. Gunnar Heinsohn in "Die WELT"


 

 

Evaluierung

 

In schlechten Händen

Abendland am Abend

 

Donnerstag, 28. April 2022

Deutsches Roulette


 

„Außenministerin Annalena Baerbock verteidigte die Entscheidung zur Lieferung schwerer Waffen - auch vor dem Hintergrund von Warnungen vor einer drohenden atomaren Eskalation. Welche Schritte Russland in dem Krieg noch gehe, liege allein im Ermessen Putins, sagte die Grünen-Politikerin im Bundestag auf die Frage, welche Rolle die Gefahr eines Atomkrieges bei der Entscheidung gespielt habe. Baerbock ergänzte: «Deswegen können wir auch nichts komplett ausschließen.»“ 
 
Roger Köppel zu dem Satz: „Deswegen können wir auch nichts komplett ausschließen.“ (''Weltwoche Daily Deutschland'', 28.04.2022):
„Meine Damen und Herren, als ich dieses Zitat gelesen habe, ist es mir doch ein bisschen den Rücken heruntergelaufen. Die Gefahr eines Atomkrieges – und dann sagt diese Außenministerin in Deutschland, die in ihrem Leben vermutlich noch nie ein Gewehr in der Hand gehalten hat – ich will ihr nicht zu nahe treten: „Deswegen können wir auch nichts komplett ausschließen.“
Das heißt mental, wenn ich sie richtig verstehe hier, dann akzeptiert die deutsche Außenministerin die Möglichkeit einer Eskalation eines Atomkriegs. Und das ist, meine Damen und Herren, das ist der Gipfel der Verantwortungslosigkeit. So ein Satz ist eine absolute Frechheit. Denn Frau Baerbock – um es en passant zu erwähnen – wird tatsächlich nicht zu denen gehören, die im unmittelbaren Wirkungskreis eines solchen Atomkriegs verglühen, verklumpen, zu Staub zerfallen, sondern sie wird in irgendeinem atombombensicheren Bunker in aller Ruhe diesen Krieg möglicherweise bis zum bitteren Ende überdauern können.“
 
 
Es ist zum wahnsinnig werden. Ich war vor langer Zeit einmal ein Fan von Joschka Fischer. 1977 war ich Abonnent einer Zeitschrift, die damals nur 150 Abonnenten hatte. Fischer, ein paar Jahre älter als ich, schrieb in dieser Zeitschrift. Noch vor 10 Jahren verfolgte ich gespannt, wie einerseits er und andererseits Ökonomen wie Wilhelm Hankel und Hans Werner Sinn die Entwicklung der EU beurteilten und bedauerte, dass sie nie einander gegenüber geführt wurden in den Medien (so hohe Erwartungen hatte ich gegenüber den Medien damals noch). Und ich wunderte mich, dass niemand hervorhob, wie sehr Merkel bereits damals Fischers Ansichten 1:1 in eine politische Agenda umsetzte... Und jetzt ist diese infantile Göre Außenministerin. Und die Medien huldigen ihr, wie sie Greta huldigten.
 


Mittwoch, 27. April 2022

Twitter trauert

 

Endlich mal wieder eine gute Nachricht




Jenseits der Tränen

Lassen Sie uns - da Putin so gerne mit Hitler verglichen wird - an diesem Jom ha-Schoa einen Gedanken haben für die Russen, die als „slawische Untermenschen“ die Gaskammern von Auschwitz „ausprobiert“ haben. 
 
„Die erstmalige Verwendung von Cyanwasserstoffgas als Mordmittel erfolgte im KZ Auschwitz. Da dieses Giftgas damals zur Ungeziefervertilgung in Verwendung und daher in ausreichender Menge vorhanden war, kam Schutzhaftlagerführer Karl Fritzsch in Abwesenheit des Kommandanten Höß auf die Idee, dieses Gas zur Ermordung von Menschen einzusetzen.
Die erste Vergasung fand am 3. September 1941 in den zuvor abgedichteten Arrestzellen des Blocks 11 im KZ Auschwitz statt. Zeugenaussagen zufolge dauerte der Todeskampf der in die Zellen gedrängten rund 600 russischen Kriegsgefangenen eine ganze Nacht; einmal wurde sogar Gas nachgeschüttet.
Ehe Anfang 1942 die ersten großen Judentransporte im KZ Auschwitz eintrafen, fiel vor allem eine große Zahl russischer Kriegsgefangener den Morden mittels Giftgas zum Opfer.“

Nach dem Ukrainekrieg?


 

 

Dienstag, 26. April 2022

1000 Jahre europäische Geschichte

 

desiderantem quod satis est neque
tumultuosum sollicitat mare
nec saevus Arcturi cadentis
impetus aut orientis Haedi,

non verberatae grandine vineae
fundusque mendax, arbore nunc aquas
culpante, nunc torrentia agros
sidera, nunc hiemes iniquas.

 

Europa ist wenig mehr als BieloUSA, Glacis der Splendid Isolation. Innere Immigration hat in Ramsteinland in Zeiten der Nuklearwaffen keine Aussicht auf Erfolg mehr.


Montag, 25. April 2022

Am 2. April waren in Butscha auf den Straßen keine Toten zu sehen


 

Die Russen waren aus Butscha am 30. März abgezogen, der Bürgermeister äußerte am 31. März in einem Interview seine Genugtuung über den Abzug, und mit keinem Wort erwähnte er irgendwelche Tote in dieser überschaubaren Stadt (28.000 Einwohner). In dem fast 8 Minuten langen Film der ukrainischen Polizei vom 2. April sieht man eine Fahrt durch die bekämpften Viertel und die Zerstörungen werden gezeigt, aber auf den Straßen sind keine Tote zu sehen (außer einem toten Russen) und dann plötzlich am 3. April tauchen Bilder von ukrainischen Toten in den Medien des gesamten Westens auf. Wie kommt das?

Neben diesen ukrainischen Toten sind nie Blutlachen zu sehen, dafür aber mehrmals russische Nahrungspakete und weiße Binden an ihren Armen. Aber im Land des Claas Relotius ist all das nicht der Rede wert, es gibt seit dem Tod von Scholl-Latour hier keinen einzigen Journalisten mehr in den großen Medien, der noch etwas taugt; die wenigen ehrlichen Journalisten wie Breitschuster werden gegängelt, und unter den Nationen ist der deutsche Michel immer noch von den Einfaltspinseln der Allergrößte, sowohl gegenüber seinen Feinden (er glaubt ja, sein Land sei laut BBC das beliebteste der Welt) wie gegenüber den Medien des eigenen Landes. 

Thomas Schmid beschreibt wie immer gewissenhaft einen Teilaspekt, nämlich die dürftige demokratische Kultur der Ukraine. Aber wie immer (ich beobachte seine Beiträge bereits seit 1980) lässt er die Hälfte des Wesentlichen weg. Er ist und bleibt nun einmal ein Linker, wenn auch ein demokratischer; er ist das Paradebeispiel des Lückenpressejournalisten bzw. des unterlassungssündigen Tatsachenverdrehers und -vertuschers. Er lügt nie durch Aufstellung unwahrer Behauptungen, aber man kann sich bei ihm darauf verlassen, dass er immer irgendetwas Wesentliches, Ausschlaggebendes unterschlägt.

Immerhin sind die ukrainischen Flüchtlinge vorwiegend echte Flüchtlinge (Kinder, Mütter, Alte) und man muss ihnen nicht beibringen, wie man Waschmaschinen benutzt und dass man nicht auf dem Fußboden kocht. Aber sie kommen aus einem Land, das keinen Deut besser ist als Russland, in dem trotz jüdischem Regierungschef bei der ausnahmsweise mal tatsächlich vorhandenen Deutschfreundlichkeit durchaus nostalgische Nazifreundlichkeit heftig mitschwingt. Und vor allem aus einem Land, in dem "das Volk" (das gegenüber Russland wegen des Holodomors berechtigten Groll hegt; das ist aber was ganz anderes als das Selbstbestimmungspathos von Marina Weisband) bei seiner Rebellion von Franzosen und Amerikanern gekapert wurde, wobei der unsägliche Sohn Bidens... ich habe keine Lust, diesen Satz auch noch zuende zu schreiben; es ist ja inzwischen ans Licht gekommen, was während Bidens Wahlkampf vertuscht wurde. 

Die Ukraine ist ein Land, dem zuzutrauen ist, dass Massaker inszeniert werden, um die Bevölkerungen des Westens zu beeindrucken und die Regierungen so unter Druck zu setzen (womit ich nicht sagen will, dass den Russen keine Massaker zugetraut werden können! Im Gegenteil, die Untersuchungen der UNO ergaben ja, dass ausreichend Gründe für eine Anklage vorliegen. Es ist ein fürchterlicher Bruderzwist, in dem keiner der beiden besser ist als der andere, auch wenn Marina Weisband so tut, als sei sie beim Euromaidan durch Akklamation Präsidentin der Ukraine geworden und habe dann wegen eines von den Russen gesteuerten Staatsstreichs ins Exil nach Deutschland flüchten müssen). Es gibt ein Video mit zwei ukrainischen Angehörigen des Asow-Regiments (erzählt Toni Capuozzo), wo der eine fragt: "Was machen wir mit denen, die keine blaue Armbinde tragen?" (Erkennungszeichen für Ukrainer, die bei den Gefechten mitmachen) "Die erschießen wir", ist die Antwort. Und das ist nur die Kirsche auf der Torte. Denn schon die skrupellose Vermischung von Kombattanten und Nichtkombattanten, die zwangsläufig immer zu Massakern führen muss, läuft der Kriegsethik zuwider. 

Die Untersuchungen der UNO ergaben also, dass ausreichend Gründe für eine Anklage vorliegen. Die liegen für die Ukraine aber höchstwahrscheinlich auch vor. Es ist irrelevant. Unser wahres Problem (mit uns meine ich Europa) ist, dass wenn man Russland den kleinen Finger gewährt, es den ganzen Arm haben wollen wird (die Pazifisten schließen immer von sich auf andere. Aber diese anderen sind anders). Deswegen opfern WIR gerade die Ukraine, indem wir einen lange währenden Stellungskrieg durch Lieferung leichter Waffen gewährleisten, um selber Zeit zu gewinnen, damit wir aufrüsten können.

Ihr wisst, nicht Süße rettet die Frucht: der Kern
Muss sich beweisen. Also errettet euch
Nur Männersinn, dem Pflicht und Opfer
Stillen, beharrlichen Diensts vertraut sind.  

(Wird Habeck dank Merz Kanzler werden? Wird er dann eine zweijährige Wehrpflicht für Mann und Frau wie in Israel einführen? Uniformen für Schwangere gibt es immerhin schon) 

 
 
Der bekannte Kriegsreporter und Ex-Mitdirektor von ''Paris Match'', Régis Le Sommier, auf "CNews''/Punchline (08.04.2022):
„Ich habe acht Tage in der Ukraine verbracht, wohin ich französische Kriegsfreiwillige begleitet habe. Der eine war schon vorher beim Militär, die beiden anderen hatten gemeinsam in Rojava mit den Kurden gegen Daesch gekämpft. Das waren also erfahrene Leute.
Wie war unsere Überraschung, als wir am Ende entdeckten, dass dort in großer Zahl stationierte Amerikaner darüber bestimmen, wer sich der ukrainischen Armee anschließen darf.
Fast wären wir festgenommen worden, wir hatten es mit einem Amerikaner zu tun, der uns erklärte: Hier habe ich das Sagen, nicht die Ukrainer.
Ich rede von der Ausbildung und der Rekrutierung internationaler Freiwilliger für die ukrainische Armee. Der Typ hat sogar seinen Namen genannt, er ist ein Irak-Veteran. Ich habe die Angaben geprüft, dazu kann man meine Reportage im ''Figaro Magazine'' dieser Woche lesen. (…)
Wer hat die Hand im Spiel? Das sind die Amerikaner. Ich hab’s gesehen, mit eigenen Augen gesehen. Das ist nicht offiziell die amerikanische Armee. (…) Ich hatte ein bisschen den Eindruck, dass jenseits des romantischen Aspektes [sich eine andere Wirklichkeit zeigte] –
Ich hatte die Internationalen Brigaden erwartet und fand mich beim Pentagon wieder.“

Hier nochmal an einer anderen Quelle, denn man weiß ja nie, wie lange ein Dokument im Netz noch zur Verfügung steht. Und hier eine Woche später.

Herzlich willkommen in Deutschland!

 

Aus der Ukraine kommen echte Flüchtlinge (also nicht in erster Linie wehrfähige Männer, sondern Mütter, Kinder und Alte). Und sie sind sogar weder kulturfremd, noch undankbar, noch feindselig gegenüber unseren Traditionen.

Wider die Ethik des Nichtverstehertums

 

 

 

Heute ist wieder einmal der 25. April, und es scheint mir angebracht, eine Seite durchzulesen, die ich vor 12 Jahren schrieb und die leider immer noch aktuell ist bzw. plötzlich sogar hochaktuell.

Justus Benders Ethos

Gewöhnung

Sonntag, 24. April 2022

Wiederholungstäter politischer Gewalt

Für Grundrechte und Rechtsstaat

Edward Snowden & Julian Assange

 

Oscar Wilde schreibt in "De Profundis", dass er, als er 1895 zu zwei jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde wegen seiner Homosexualität und ins Gefängnis von Reading gebracht wurde, von der Menschenmenge auf der Straße beleidigt und geschmäht wurde und dass nur sein Freund Robert Ross damals den Hut zog, als er an ihm vorbeikam. Das sai eine Geste der Solidarität gewesen, die "die Wüste blühen ließ wie eine Rose". Wilde erholte sich nie wieder von den Haftbedingungen und starb drei Jahre später. 

Jetzt ist Julian Assange dran. 


Wie geht es Edward Snowden?

Wird man es je begreifen in Deutschland?

 


Sonntag, 17. April 2022

Stand der Dinge


Die EU wollte unbedingt abrüsten und gleichzeitig Warschauer Pakt Staaten aufnehmen. Das geht aber nur, wenn man sich an Russland bindet. 

Also entweder die Vereinigten Staaten von Europa paktierten mit Russland (bzw. eine deutsch-russische Achse schuf die Vereinigten Staaten von Eurasien) oder die EU wurde zu den Vereinigten Staaten von Europa und rüstete auf, statt sich auf den großen Sohn hinter dem Atlantik zu verlassen (bei Reibungen mit dem großen Russland, das wirtschaftlich so klein ist wie Italien). Da die EU nicht Fisch und nicht Vogel ist und Multitasking beherrscht wie Anne Spiegel, wurde letzteres versäumt, und jetzt ist es zu spät dafür.

USA und Russland tun nur, was in ihrem Interesse ist. Das Problem Europas ist, dass Europa nicht getan hat, was in Europas Interesse gewesen wäre. Und dass es dies auch jetzt nicht tut. Wir sind deshalb in der Hand von Kamala Harris. Denn er stolpert ja nur von einem Fettnäpfchen ins nächste.Und wir tun es ihm nach.

 

Europa ertrinkt im Saft der eigenen moralischen Eitelkeit. 

 

 

 

Freund oder Feind – Erich Vad zur Aktualität Carl Schmitts

Der 1985 im Alter von 97 Jahren verstorbene Carl Schmitt hat sich nicht nur mit Staats- und Verfassungsrecht, sondern auch mit grundsätzlichen Fragen der Kriegstheorie, der Geo- und Sicherheitspolitik beschäftigt. Dabei wurde sein Denken nachhaltig von der Erfahrung des „Europäischen Bürgerkriegs“ (Ernst Nolte) geprägt, vor allem durch die spezifisch deutsche Bürgerkriegslage zwischen 1919 und 1923 sowie die Gefahr ihrer Wiederholung in den Jahren 1932 bis 1934. Schmitts Nationalismus und sein Eintreten für einen starken Staat lassen sich aus diesem Zusammenhang ebenso erklären wie seine Entscheidung zu Gunsten der staatlichen Ordnung, die notfalls unter Bruch der Verfassung gewahrt werden sollte, oder seine Entscheidung für eine zeitweise Kollaboration mit dem NS-Regime, das allein in der Lage schien, den vollständigen Zusammenbruch zu verhindern.

Wegen dieser Kollaboration mit dem Nationalsozialismus hat man Schmitt immer wieder beschimpft, als „geistigen Quartiermacher“ (Ernst Niekisch) Hitlers, als „charakterlosen Vertreter eines orientierungslosen Bürgertums“ (René König) oder als „Schreibtischtäter des deutschen Unheils“, so etwa Christian Graf von Krockow, der aber auch zugab, daß Schmitt, „… der bedeutendste Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei. Eine Beurteilung, die noch überboten wurde von dem Religionsphilosophen und Rabbiner Jacob Taubes, der über Schmitt sagte, dieser verkörpere eine „… geistige Potenz, die alles Intellektuellengeschreibsel um Haupteslänge überragt“. Schließlich sei noch Raymond Aron erwähnt, der in seinen Lebenserinnerungen äußerte: „Er gehörte zur großen Schule der Gelehrten, die über ihr Fachgebiet hinaus alle Probleme der Gesellschaft samt der Politik umfassen und somit Philosophen genannt zu werden verdienen, so wie es auch Max Weber auf seine Weise war.“

Diese Wertschätzung Schmitts erklärt sich vor allem aus dessen epochemachender Lehre vom Politischen, das er im Kern bestimmt sah durch die Unterscheidung von Freund und Feind. Dabei meinte Schmitt „Feind“ im Sinne des lateinischen hostis, das heißt den öffentlichen, den Feind des Staates, nicht inimicus im Sinne von privater Gegner; eine Differenzierung, wie es sie auch im Griechischen mit polemios und echthros gibt. Gegen alle Versuche, die fundamentale Scheidung von Freund und Feind zu umgehen, wie sie vor allem in Deutschland nach 1945 üblich wurden, behauptete Schmitt, daß ein Volk nur durch Verleugnung seiner eigenen politischen Identität dahin kommen könne, die Entscheidung zwischen Freund und Feind vermeiden zu wollen. In seinem berühmten, zuerst 1927 erschienenen Essay Der Begriff des Politischen hieß es: „Solange ein Volk in der Sphäre des Politischen existiert, muß es, wenn auch nur für den extremsten Fall – über dessen Vorliegen es aber selbst entscheidet – die Unterscheidung von Freund und Feind selber bestimmen. Darin liegt das Wesen seiner politischen Existenz.“

Wenn man diesen Satz auf unsere Lage bezieht, ergibt sich sofort der denkbar schlechteste Eindruck von der Außen- und Sicherheitspolitik der gegenwärtigen Bundesregierung. Innenpolitische Probleme und Parteiinteressen bei Wahlkämpfen wirken stärker auf das Regierungshandeln als reale Bedrohungen des Landes und langfristige Strategien zur Wahrung nationaler Interessen. Im Glauben an einen herrschaftsfreien Diskurs auch in den Außenbeziehungen nimmt man bei akuten internationalen Krisen selbstgefällige, nur scheinbar überlegene moralische Positionen ein, um dann mittels utopischer Problemlösungsversuche die eigene Handlungsunfähigkeit zu verdecken. Man begnügt sich mit der Rolle des inzwischen als unzuverlässig geltenden Metöken, der gerade noch in der Lage ist, militärische Einrichtungen von Bündnispartnern im eigenen Land zu bewachen, ihnen Überflug- und Landerechte zu gewähren und andere Unterstützungsleistungen gerade so weit zur Verfügung zu stellen, daß eine Kabinetts- und Regierungskrise vermieden wird.

Die Kernfrage war für Schmitt immer die, wie wir als Erben der uralten brüderlichen Feindschaft von Kain und Abel mit dem zentralen Kriterium des Politischen umgehen sollen. In dem Zusammenhang ist ein von ihm handschriftlich kommentiertes Tagungsprogramm der Evangelischen Akademie Berlin aufschlußreich, das sich in seinem Nachlaß erhalten hat. Die Veranstaltung, die zwischen dem 26. und dem 28. November 1965 stattfand, hatte das Thema „Feind – Gegner – Konkurrent“. In der Einführung zum Programm eines „Freundeskreises junger Politologen“ („Freundeskreis“ von dem selbstverständlich nicht geladenen Schmitt rot markiert) wurde die Frage aufgeworfen, ob noch die Berechtigung bestehe, vom Feind zu sprechen, oder ob nicht an seine Stelle „Der Partner politischer und ideologischer Auseinandersetzung“ oder „Der Konkurrent im wirtschaftlichen Wettbewerb“ getreten sei. Schmitt notierte am Rande polemisch: „Der Ermordete wird zum Konfliktpartner des Mörders?“

Er wollte damit zeigen, daß die hier geäußerten Vorstellungen die Existentialität menschlicher Ausnahmelagen nicht treffen konnten. Und mehr als das: Der Programmtext war für Schmitt auch eine indirekte Bestätigung seiner These von der notwendigen Freund-Feind-Unterscheidung, insofern als man fortwährend Begriffe verwendete, die auf elementare Gegensätzlichkeiten hinwiesen, wie zum Beispiel „Ideologie“, „Theologie“, „der Andere“, „Liebe“, „Diakonie“ etc. Daß sich die Veranstalter dessen nicht bewußt waren, machte die Sache nicht besser. Schmitt bezeichnete ihre moralisierenden, auf Verschleierung des polemischen Sachverhalts abzielenden Formulierungen in einer Marginalie als „Entkernung des Pudels durch Verpudelung des Kerns“.

Schmitts Bestimmung des Politischen durch die Unterscheidung von Freund und Feind gilt auch heute noch, trotz aller anderslautenden Beteuerungen. So, wenn die Vereinten Nationen ein Land wie den Irak faktisch aus der Völkergemeinschaft ausschließen und damit eine hostis-Erklärung im Sinne Schmitts abgeben, so, wenn die USA nach den Anschlägen vom September 2001 den internationalen Terrorismus und die ihn unterstützenden politisch unkalkulierbaren Staaten als Feind bestimmten. Eine mit modernsten Waffen operierende Guerilla oder eine weltweit vernetzte, organisierte Kriminalität können, auch wenn sie nicht selbst staatenbildend wirken, durchaus als Feinde im politischen Sinn betrachtet werden. Überhaupt ist die nichtstaatliche und privatisierte Form der Gewalt, also alles, was die low intensity conflicts kennzeichnet, nichts grundsätzlich Neues. Thukydides beschrieb sie bereits im Peloponnesischen Krieg, ähnliches gilt für Clausewitz oder die stark von ihm beeinflußten Theoretiker und Praktiker des revolutionären Krieges wie Friedrich Engels, Wladimir I. Lenin, Mao Tse-Tung, den Vietnamesen Vo Nguyen Giap oder Che Guevara. Die Wandelbarkeit des Krieges war sogar schon einem seiner frühesten Theoretiker, dem Chinesen Sun Tze, bewußt, der vor 2500 Jahren zu der Feststellung kam: „Der Krieg gleicht dem Wasser. Wie Wasser hat er keine feste Form.“

Der Kampf heutiger Terroristen ist allerdings im Gegensatz zu dem, was Schmitt in seiner Theorie des Partisanen ausführte, nicht mehr „tellurisch“ verortbar, sondern global angelegt. Musterbeispiel dafür sind die raumübergreifenden Operationen der al-Qaida in Afghanistan, auf dem Balkan, dem Kaukasus und in den zentralasiatischen Staaten oder die terroristischen Anschläge auf amerikanische Botschaften und Einrichtungen in Afrika oder am Golf. Der Plan für die Terrorangriffe gegen die USA wurde in den Bergen Afghanistans und im europäischen Hinterland erdacht und dann auf einem anderen Kontinent exekutiert. Das Flugzeug, das Transportmittel der Globalisierung par excellence, setzte man als Waffe ein. Planung und Operation der Terroraktion hatten globale Maßstäbe. Weltweit operierende warlords wie Osama Bin Laden könnten bevorzugte Akteure dieser neuen Form des bewaffneten Kampfs werden.

Es spricht vieles dafür, daß die Zukunft des Krieges eher von Terroristen, Guerillas, Banditen und nichtstaatlichen Organisationen bestimmt sein wird, als von klassischen, konventionellen Streitkräften. Dort, wo die Macht immer noch aus Gewehrläufen kommt, führen zunehmend irreguläre Formationen in Privatund Söldnerarmeen Krieg. Religiöser oder politischer Mythos, generalstabsmäßige Planung und üppige Finanzressourcen bilden die Voraussetzungen eines veränderten Kriegsbilds. In seiner erwähnten Theorie des Partisanen nahm Schmitt diesen Aspekt der heutigen Sicherheitslage durchaus zutreffend vorweg, vor allem, wenn er die Bedeutung des Fanatismus als Waffe hervorhob: „Der moderne Partisan erwartet vom Feind weder Recht noch Gnade. Er hat sich von der konventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und sich in den Bereich einer anderen, der wirklichen Feindschaft begeben, die sich durch Terror und Gegenterror bis zur Vernichtung steigert.“

Wie soll man auf diesen Wandel reagieren, oder, – um die kritischen Fragen Schmitts aufzugreifen: Wer hat jetzt das Recht, den Feind zu definieren und gegen ihn mit allen Mitteln – das heißt unter den gegebenen Umständen auch mit Massenvernichtungswaffen – vorzugehen? Wer darf Strafen gegen den definierten Feind verhängen und sie – notfalls präventiv – durchsetzen? Und wie schafft man ein internationales Recht und die Fähigkeit, es notfalls mit Hilfe von Gewalt durchzusetzen? Schließlich: Wie verhindert man die Instrumentalisierung des Völkerrechts für nationale Macht- und Einflußpolitik?

Schmitt war grundsätzlich skeptisch gegenüber allen Versuchen ideologischer und das heißt auch menschenrechtlicher Legitimation des Krieges. Der Krieg, so Schmitt, sei im Kern nur zu begreifen als Versuch „… der seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form“. Und weiter: „Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so ideales Programm, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich dafür töten.“
Die Legitimität des Krieges bei einer vorliegenden „seinsmäßigen Verneinung“ der eigenen Existenzform bekommt durch die modernen Bedrohungsszenarien, angesichts des internationalen Terrorismus einerseits und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen andererseits, eine neue Dimension. Das Wesen des Politischen bleibt aber unberührt. Darüber belehrt auch jeder genaue Blick auf die Verfaßtheit des Menschen, der in dauernder Auseinandersetzung mit anderen Menschen lebt und nur aus Gründen der Selbsterhaltung und der Vernunft bereit ist, den „Krieg aller gegen alle“, den Schmitt wie Thomas Hobbes als natürlichen Zustand des Menschen betrachtete, durch einen staatlich garantierten Friedenszustand zu überwinden.

In Der Begriff des Politischen schrieb Schmitt: „Man könnte alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie, bewußt oder unbewußt, einen ›von Natur bösen‹ oder einen ›von Natur guten‹ Menschen voraussetzen.“ Gerade mit Blick auf den heutigen Menschenrechtsuniversalismus und die gleichzeitige Verfügung über Massenvernichtungswaffen wird die tiefe Problematik jeder Lehre von der natürlichen Güte des Menschen deutlich. Denn der mögliche Einsatz von Massenvernichtungswaffen nötigt zur vorhergehenden Diskriminierung des Feindes, der nicht mehr als Mensch erscheinen darf – denn die Verwendung so furchtbarer Waffen widerspricht der Idee der Menschenrechte –, sondern nur noch als Objekt, das ausgelöscht werden muß, als Unmensch oder Glied eines „Schurkenstaates“.

Schmitt sah diese furchtbare Konsequenz moderner Politik deutlich ab, die so unerbittlich ist, weil sie im Namen hehrster Prinzipien vorgeht: „Die Masse der Menschen müssen sich als Schlaginstrument in Händen grauenhafter Machthaber fühlen“ – schrieb er nach dem Krieg und mit Blick auf seine persönliche Situation. Und hinsichtlich des Geltungsanspruchs universaler Forderungen nach Humanität kam Schmitt zu der bitteren Erkenntnis: „Wenn das Wort ›Menschheit‹ fällt, entsichern die Eliten ihre Bomben und sehen sich die Massen nach bombensicherem Unterstand um“.

Schmitt meinte, daß die Reideologisierung des Krieges im 20. Jahrhundert zwangsläufig den totalen, auch und gerade gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Krieg hervorgebracht habe. Paradoxerweise ermöglichte die moralische Ächtung des Kriegs als Mittel der Politik den „diskriminierenden Feindbegriff“ und damit die Denunziation des Gegners, der nicht mehr als Kontrahent in einem politisch-militärischen Konflikt angesehen wurde, sondern als Verbrecher. Erst der totale Krieg schuf den totalen Feind und die Entwicklung der Waffentechnik seine mögliche totale Vernichtung.

Diese Einsicht Schmitts ist so wenig überholt wie jene andere, die weniger mit Krieg und mehr mit Frieden zu tun hat. Sein Ende der dreißiger Jahre entwickeltes Konzept des „Großraums“ und des Interventionsverbots für „raumfremde Mächte“ war, trotz offiziellem Tabu, nach 1945 und selbst in der Hochphase des Kalten Krieges das ungeschriebene Prinzip der außen- und sicherheitspolitische Konzepte beider Supermächte. Daran hat sich auch in Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion wenig geändert. Nach wie vor können Staaten, denen es ihr politisches, militärisches und wirtschaftliches Potential ermöglicht, eigene Einflußsphären aufbauen und durch angemessene geopolitische und geostrategische Maßnahmen schützen.

Mit seinen Schriften Der Leviathan, Völkerrechtliche Großraumordnung und der „weltgeschichtlichen Betrachtung“ Land und Meer suchte Schmitt angesichts des Auftretens neuer, „raumüberwindender“ Mächte und einer nachhaltigen Infragestellung der traditionellen Staatlichkeit die Faktoren einer neuen Sicherheitspolitik zu bestimmen. Beim Blick auf die historische Entwicklung, insbesondere des Aufstiegs der Seemächte England und Nordamerika, erkannte er die Bedeutung des Großraums und einer entsprechenden Ordnung. Die amerikanische Monroe-Doktrin von 1823, die die westliche Hemisphäre als Interessengebiet der USA bestimmt hatte, gewann für Schmitt Vorbildcharakter im Hinblick auf eine europäische Konzeption.

Daß dieses Projekt eines „europäischen Großraums“ seitdem immer wieder gescheitert ist, sagt wenig gegen seine Notwendigkeit. Europa bildet wie andere geopolitische Räume eine Einheit auf Grund von Weltbild und Lebensbedingungen, Traditionen, Überlieferungen, Gewohnheiten und Religionen.

Es ist nach Schmitt „verortet“ und „geschichtlich konkret“ und es muß deshalb, um auf Dauer zu bestehen, einen adäquaten Machtanspruch erheben und weltanschaulich begründen. Im Bereich des Politischen sind solche Weltanschauungen nichts anderes als „Sinn-Setzungen für Großplanungen“, entworfen von Eliten in einem bestimmten historischen Moment, um sich selbst und den von ihnen zu lenkenden Massen den geistigen Bezugsrahmen politischen Handelns zu schaffen.

Die Aktualität der Überlegungen Schmitts zur Bedeutung solcher „geistiger Zentralgebiete“ ist im Hinblick auf einen „Kampf der Kulturen“ (Samuel Huntington) offensichtlich: In beinahe zweihundert Nationalstaaten der Welt existieren mehrere tausend Kulturen. Sie bilden die Grundlage „geistiger Zentralgebiete“ und schaffen damit auch das Bezugsfeld für Kriege. Was das „Zentralgebiet“ inhaltlich bestimmt, mag sich ändern, an dem Tatbestand selbst ändert sich nichts. So markierte der Grundsatz cuius regio eius religio eben ein religiöses Zentralgebiet, das nach der Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts von Bedeutung war, während das Prinzip cuius regio eius natio nur vor dem Hintergrund der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert zu verstehen ist und die Formel cuius regio eius oeconomia ihre Erklärung findet in der enorm gesteigerten Bedeutung internationaler Wirtschaftsverflechtungen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Entsprechend haben sich die Kriege fortentwickelt von Religions- über Nationalkriege hin zu den modernen Wirtschafts- und Handelskriegen.

Die Kriege mitbestimmenden „geistigen Zentralgebiete“ waren für Schmitt stets Kampfzonen sich ablösender, miteinander konkurrierender und kämpfender Eliten. Sie können niemals nur Sphäre des Geistigen und ein Ort des friedlichen Nachdenkens und Diskurses sein. Das gilt trotz der in jüngster Vergangenheit so stark gewordenen Erwartung, daß der Krieg gebannt sei. Schmitt hat früh die Vergeblichkeit solcher Hoffnungen erkannt und etwas von ihrer furchtbaren Kehrseite geahnt: „Wir wissen, daß heute der schrecklichste Krieg nur im Namen des Friedens, die furchtbarste Unterdrückung nur im Namen der Freiheit und die schrecklichste Unmenschlichkeit nur im Namen der Menschheit vollzogen wird.“

Ein wesentliches Kennzeichen des modernen Kriegs ist gerade seine unkriegerische Terminologie, sein pazifistisches Vokabular, das die Aggression aber nur verdeckt, nicht beseitigt. Die „friedlichen“ Methoden der modernen Kriegsführung sind die vielfältigen Möglichkeiten finanz- und wirtschaftspolitischer Pression, das Sperren von Krediten, das Unterbinden der Handelswege und der Rohstoff- oder Nahrungsmittelzufuhr. Werden militärische Maßnahmen als notwendig erachtet, bezeichnet man sie nicht als Kriege, sondern als Exekution, Sanktion, Strafexpedition, Friedensmission etc. Voraussetzung für diese Art „pazifistischer“ Kriegführung ist immer die technische Überlegenheit des eigenen Apparats. Das moderne Völkerrecht folgt dieser Entwicklung, indem es die Begriffe zur Stabilisierung des politischen Status Quo liefert und die Kontrolle von Störern der internationalen Ordnung juristisch begründet. Es ist das Kennzeichen von Weltmächten, wie sie seit dem Ende des Ersten Weltkriegs auftreten konnten, Rechtsbegriffe mit universalem Anspruch zu definieren und dann souverän zu entscheiden, was Recht und was Unrecht ist. Die aktuelle Irakkrise zeigt auch hier, wie zutreffend die Einschätzung Schmitts war.

Die Zukunft der großen Staaten China, Indien, Rußland, aber auch der Vereinigten Staaten ist ungewiß. Wir können kaum einschätzen, welche Konstellationen sich entwickeln werden. Vielleicht entwerfen die USA für den asiatischen Raum eine ähnliche balance of power-Doktrin wie Großbritannien sie im 19. Jahrhundert gegenüber den europäischen Staaten besaß. Vielleicht gelingt es Washington, die Annäherung Rußlands an die NATO weiter voranzutreiben und es wie Indien in eine Geostrategie für den pazifischen Raum zwecks Eindämmung Chinas einzubinden. Weiter muß die Frage beantwortet werden, ob Europa Teil des atlantischen Großraums bleibt oder sich hier Tendenzen in Richtung auf eine gleichberechtigte Partnerschaft mit Amerika verstärken. Deutschland spielt in diesem Zusammenhang allerdings kaum eine Rolle, da sich seine derzeitige politische Führung bei außenpolitischen Problemen regelmäßig an der Innenpolitik orientiert, Bedrohungen ignoriert oder den Vorgaben anderer anschließt.

Die von Schmitt im Zusammenhang mit seiner Theorie der Staatenwelt analysierten Verteilungs‑, Quarantäne- und Freundschaftslinien, die auch zivilisatorische Konfliktlinien sein können, drohen heute zu Grenzen zwischen unversöhnlichen Gegnern zu werden. Wir wissen nicht erst seit den Terroranschlägen auf das World Trade Center, daß sich die westliche Welt mit anderen Zivilisationen in Konkurrenz befindet. Die wichtigsten Auseinandersetzungen der Zukunft scheinen an den Grenzen aufzutreten, die Kulturkreise voneinander trennen. Hier könnten die Brennpunkte von Kriegen sein, die sich durch Regellosigkeit, Ent-Hegung und Rebarbarisierung auszeichnen. Hier entwickeln sich militärische und politische Herausforderungen globalen Ausmaßes, denen nur auf dem Wege eines neuen internationalen Ordnungssystems und eines erweiterten Verständnisses von Sicherheit begegnet werden kann.

Die gestiegene Wahrscheinlichkeit eines Ernstfalls, die für Deutschland nach den Angriffen vom 11. September 2001 sehr deutlich geworden und die Tragweite der Außen- und Sicherheitspolitik deutlich gemacht zu haben schien, hat tatsächlich vor allem die Handlungsunfähigkeit einer nachbürgerlichen politischen Klasse gezeigt, deren Weltbild sich primär aus reeducation, aus den erstarrten Ritualen der Vergangenheitsbewältigung und Achtundsechziger-Mythologie speist. Diese geistigen Verirrungen bedürfen eines Gegenmittels, und in der politischen Philosophie Carl Schmitts könnte das zur Verfügung stehen.

Wie Hobbes im 17. entfaltete Schmitt im 20. Jahrhundert ein politisches Denken, das von der unnormierten Lage, das vom Ausnahmezustand und der ständigen Möglichkeit inner- und zwischenstaatlicher Anarchie und Gewalt ausging. Ein solcher Ansatz steht im Gegensatz zur idealistischen Utopie einer weltweiten Entfaltung der Menschenrechte, eines friedlichen Ausgleichs der Kulturen und Zivilisationen sowie freizügiger, offener und multikultureller Gesellschaften. Anders als viele hoffen, sind gerade diese Gesellschaftskonzepte potentielle Konfliktherde. Eine Gefahr, der man nicht durch moralische Appelle begegnen kann, sondern nur durch Gefahrensinn, politischen und militärischen Realismus und durch rationale Antworten auf die konkreten Herausforderungen der Lage.   Erich Vad

Unrecht soll per Gesetz zu Recht werden

 

Ein Mann erklärt sich zur Frau und beansprucht einen Frauenquotenplatz und ein Wahnsinniger bleibt Gesundheitsminister.

Corpus Christi

In dem Oscar-nominierten polnischen Spielfilm „Corpus Christi“ aus dem Jahr 2019, einer modernen Variation von Carl Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“, zieht ein auf Bewährung entlassener Strafgefangener ein Priestergewand an und gibt sich als katholischer Geistlicher aus. Ohne Rücksicht auf das Beziehungsgeflecht, das sein erkrankter Vorgänger in Jahren des Gemeindedienstes gewoben hat, predigt der Pseudo-Pater so, wie er es intuitiv für richtig hält.

Damit löst er einen Konflikt aus. Denn viele Gemeindemitglieder hegen einen tiefen Groll gegen die Witwe eines Mannes, der, angeblich alkoholisiert, bei einem Frontalzusammenprall mit einem anderen Wagen ums Leben kam und mehrere Jugendliche – sie saßen in dem anderen Auto – mit in den Tod riß.

Während der falsche Priester sich im Sinne Christi für Vergebung einsetzt und dem mutmaßlichen Unfallverursacher ein ehrendes Andenken samt Grab gewähren will, sperren sich die Eltern der Jugendlichen dagegen. Frustriert stellt der junge Ex-Häftling fest: Die Leute dieser Gemeinde würden Jesus wieder kreuzigen, wenn er jetzt unter ihnen wäre und ihnen sagte, was er von ihnen erwartet.

Die Haltung der Dorfgemeinde könnte man mit einem stark in Mode gekommenen Begriff als populistisch bezeichnen: Man vertritt eine Position, mit der man sich des Beifalls im Volk sicher sein kann. Mit Volk gemeint ist in diesem Fall die primitiv denkende breite Masse. Populismus hat ein Imageproblem: Er gilt als unreflektiert, vereinfachend und letztlich nicht sachdienlich. Er schielt auf den schnellen Erfolg, indem er spontane Gefühle und niedere Instinkte anspricht. In dem polnischen Spielfilm sind dies Wut und Rachedurst.

Jesus von Nazareth war ein blendender Analytiker solch dunkler Triebe und dumpfer Empfindungen. Er durchschaute das Lotterleben einer Zufallsbekanntschaft beim Wasserschöpfen. Er durchschaute die Scheinheiligkeit einer Horde von Zivilhenkern, die eine Ehebrecherin steinigen wollten.

Er durchschaute die aufgesetzte Frömmigkeit der religiösen Meinungsführer seiner Zeit, die er laut dem Lukasevangelium im Gleichnis von dem Phärisäer und dem Zöllner bloßstellte als primitive Eitelkeit: Ein Gesetzestreuer hält im Tempel eine laut vorgetragene Lobeshymne auf sich selbst und sieht dabei herab auf einen Zöllner, im besetzten Jerusalem der Inbegriff der Ehrlosigkeit: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie dieser Zöllner!“

Der zerknirschte Zöllner hingegen richtet im Bewußtsein seiner eigenen Verworfenheit an den Allmächtigen lediglich die schlichten Worte: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Diesen Zöllner öffentlich zum vor Gott Gerechtfertigten zu erklären war das Gegenteil von Populismus: In klarer Frontstellung gegen die Werte und Normen, die die damalige Tempelaristokratie etabliert hatte, behauptete Jesus das Gegenteil von dem, was alle zu hören gewohnt waren. Man nennt das auch Courage.

In der Regel liefen Begegnungen mit Jesus auf eine Zumutung hinaus: die Aufforderung, mit dem bisher geführten Leben rigoros zu brechen, schuldhafte Verstrickungen hinter sich zu lassen, etwas Neues anzufangen. Wie sein Zeitgenosse Johannes der Täufer, den sein ethischer Rigorismus buchstäblich den Kopf kostete, stand Jesus in der Tradition der alttestamentlichen Bußprediger. Weil diese, also Männer wie Amos, Hesekiel oder Jeremia, Israel ein göttliches Strafgericht ankündigten, nennt das Alte Testament sie Propheten. Als Untergangspropheten kennt sie noch heute der Volksmund.

Der Schatten des Galiläers, so zeigt der evangelische Theologe Gerd Theißen (78) in seinem gleichnamigen Buch zur historischen Jesusforschung, ist auch der Schatten der vorchristlichen jüdischen Tradition. Theißen stellt Jesus und Johannes in den Kontext des asketischen Essener-Ordens, der strenge sittliche Standards setzte.

Für die reformorientierten Christen des „Synodalen Wegs“ ist der schroffe Wanderprediger aus Nazareth ein Wesen wie von einem anderen Stern. Sie haben einen lässigen Früh-Hippie vor Augen, einen John Lennon ohne Gitarre mit Maria Magdalena als Ersatz-Yoko- Ono, der als Alternative zu Wein auch Marihuana nicht verschmäht hätte, wäre Rauschgift damals in Galiläa schon zu haben gewesen. Wer in Jesus den hedonistischen „Weinsäufer“ sieht, als den seine Gegner ihn tatsächlich diffamierten, übersieht die vierzigtägige Fastenzeit, die seinem öffentlichen Auftreten vorausging. Und seine Passion.

Im Gleichnis von den bösen Weingärtnern stellt er sich selbst in eine Linie mit den großen jüdischen Propheten. Er übernimmt von ihnen auch die undiplomatische Wortwahl: Das religiöse Establishment stigmatisiert er mit antiker Haßrede als „Schlangenbrut“, prophezeit ihm wegen seiner Heuchelei die Hölle (Mt 23,33). Der Passus über den leidenden Gottesknecht in Jesaja 53 wird von Exegeten sowohl auf den Autor selbst als auch auf Jesus bezogen: Prophet und Gottessohn verschmelzen miteinander zu einem Bild, das mit dem romantisierten Jesus-Bild der „Party und Event“-Christen von heute komplett inkongruent ist.

Das bittere Los des Propheten Jeremia (7. Jh. v. Chr.) gleicht in vielem dem des Nazareners: Ersterer wurde als Opfer einer Willkürjustiz gequält und entging nur durch einen Glücksfall dem Hungertod im Gefängnis. Kein Wunder also, daß seine Zeitgenossen Jesus für den wiedergekehrten Jeremia hielten; er widersprach nicht (vgl. Mt 16,14).

Am deutlichsten wird die Prophetentradition, in der er stand, in dem von allen vier Evangelisten geschilderten Eklat im Tempel: Jesus maßte sich an, die Tische von Geschäftemachern einfach umzustoßen. Ein Affront! Es war mithin nicht nur der später enthauptete Täufer Johannes, der vor den Kopf stieß mit der Forderung nach einem neuen Sich-an-Gott-Orientieren. Jesus stieß ins gleiche Horn. Der kompromißlose Kampf gegen ein verweltlichtes Brauchtum und gegen eine institutionalisierte religiöse Praxis, deren Wächter das 70köpfige Synhedrion und orthodoxe Systemtheologen (Schriftgelehrte) waren, kostete den Störenfried aus Nazareth, ähnlich wie nach ihm Jan Hus und, beinahe, Martin Luther, das Leben.

Wenn nun der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing (61) im Schulterschluß mit den linken Kirchenrevoluzzern des „Synodalen Wegs“ eine Anpassung der kirchlichen Morallehre an die gesellschaftliche Realität fordert, hat das mit Jesus nichts zu tun. Anstelle von Mut regiert plumper Populismus, der den Applaus der Medientempelaristokratie, der pharisäischen Diskurswächter von heute, kaum erwarten kann und genau in die entgegengesetzte Richtung des von dem Gekreuzigten gewiesenen Wegs führt.

Natürlich wäre auch Jesus, wie es der Münchner Kardinal Reinhard Marx am 13. März mit dem Lesen einer „queeren Messe“ demonstrativ unternahm, auf vermeintlich Benachteiligte und Ausgegrenzte zugegangen. Als Vorbild taugt der Umgang des Heilands mit dem unglücklichen Oberzöllner Zachäus, bei dem Jesus sich selbst einlud.

Voraussetzung für die Begegnung war aber Zachäus’ schlechtes Gewissen. Er wußte um seine verfehlte Existenz und litt darunter. Jesus reagierte auf das Leiden des Zachäus fundamental anders, als es liberale Theologen wie der Aachener Bischof Helmut Dieser heute tun, wenn sie etwa Homosexualität wider die Bibel zur „Grundorientierung“ des Menschseins erklären (ARD-Dokumentation „Wie Gott uns schuf“ am 24. Januar 2022).

Für pädagogisch wertvolle Du-bist-gut-wie-du-bist-Gewissensberuhigung, für die populistische Botschaft, daß man fünfe auch mal gerade sein lassen kann, ist Jesus der falsche Bürge. Immer geht es ihm um tiefgreifende Veränderung, um einen Sinneswandel (griech. „metanoia“, von Luther übersetzt mit „Buße“). Wo könnte die Aufforderung Jesu, sich selbst zu verleugnen und sein Kreuz auf sich zu nehmen (Mt 16,24), besser aufgehoben sein als bei den Mühseligen und Beladenen der LGBT-Fraktion, die gedrückt werden vom Joch ihrer verfehlten Existenz?

Konsequent verfolgte Jesus das Projekt eines geistlichen Königreichs, das „nicht von dieser Welt“ ist und dessen Untertanen die von ihm neu mit Sinn gefüllten Gebote der Thora auch dann halten, wenn der gesellschaftliche Trend in eine ganz andere Richtung geht. Die Opposition der Christen gegen die Sittenlosigkeit im morbiden Rom war der Grund dafür, daß viele das Schicksal Jesu teilten. Der Roman „Quo Vadis?“ des polnischen Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz vermittelt einen Eindruck davon. Bätzing & Co. lassen nicht erkennen, daß sie an diesem geistlichen Reich noch mitbauen.

Auch der Zölibat, dessen Abschaffung Bätzing jetzt offensiv fordert und dem Luther bereits vor 500 Jahren die Lizenz entzog, bekommt durch die totale Priorisierung der Arbeit am Reich Gottes seinen Sinn. Der verheiratete Fischer Simon (Petrus) ließ deshalb seine Familie zurück, als er sich entschied, mit Jesus durch die Lande zu ziehen. Die Radikalität, mit der der Nazarener verlangte, seinem Königreichsprojekt alles Vorläufige unterzuordnen, drückt sich aus in seiner steilen These, wer nicht seine engsten Angehörigen „hasse“, tauge nicht für die Jesus-Nachfolge.

Unterschlägt die kirchliche Verkündigung diese radikale Ethik und ersetzt sie den Gedanken der geistlich motivierten Sinneserneuerung durch eine billige Kehr-unter-den-Teppich-Theologie, ist das klerikaler Suizid: Die Kompromißlosigkeit des Galiläers wird verraten an ein modernes Heidentum, das „Sündige hinfort nicht mehr!“, das er so vielen, die bei ihm Hilfe und Heilung fanden, mit auf den Weg gab, unter den Teppich eines im atheistischen Marxismus wurzelnden Beliebigkeitskults gekehrt.

Dieser sucht wie die Sadduzäer, die zu den Widersachern Jesu gehörten, das Heil allein im Irdischen, hält das Osterereignis mit Hans Küng für eine „Gespenstergeschichte“ und verwechselt Religion mit Folklore.

Womöglich hat der falsche Priester Tomasz in dem Film „Corpus Christi“ recht, wenn er behauptet, Jesus würde heute wieder hingerichtet werden. Wenn nicht das Kreuz, so dürfte ihm doch mindestens der Medienpranger drohen. Die meisten würden ihn wohl dem Lager querulantischer „Querdenker“ zurechnen. Sie wären mit seiner gesellschaftlichen Ächtung wegen „polarisierender“ Reden oder „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ einverstanden. Und seine schärfsten Kritiker wären auch heute wieder in den Reihen einer privilegierten Geistlichkeit zu finden, der die Furcht im Nacken sitzt, als scheinheilig entlarvt zu werden.   Dietmar Mehrens

Samstag, 16. April 2022

Wer soll denn das glauben?

 
Grosse, rote Lettern schmücken das Dach: Dworez Sporta, Sportpalast. An der Stirnwand der Arena, auf deren Parkett in normalen Zeiten die Olympiareserve trainiert, hängt eine russische Fahne. Daneben, etwas grösser, ein Werbeplakat der Gazprombank. Wir sind in Taganrog, der letzten grösseren russischen Stadt im Norden des Asowschen Meers, fünfzig Kilometer vor der ukrainischen Grenze.
Vor der Schule treffen Kleinbusse mit Geflüchteten ein, es sind Menschen aus dem umkämpften Mariupol. Ein Dutzend wartet daneben auf die Weiterreise, das bisschen Habe in billige gewebte Karo-Taschen oder Plastikbeutel gestopft. Irgendwann kommt der Bus, der sie zur nächsten Station einer ungewissen Reise bringt. Die Sportschule Nr. 13 ist ein Auffanglager. Von hier aus werden die Geflüchteten über ganz Russland verteilt, in Sanatorien, Ferienlager und Heime. In Taganrog bleiben sie maximal ein, zwei Tage.
Die Sportarena ist übersät mit Feldbetten, je dreissig in sechs Reihen, darauf Steppmatratzen, Kissen, Decken. In einer Ecke spielen Kinder, leise mit blassen Gesichtern. Die Erwachsenen liegen wie hingeworfen, apathisch, die Ellbogen aufgestützt. Ihr Blick geht ins Nirgendwo. Kaum ein Geräusch ist zu hören. Wen immer ich anspreche, die Augen sind leer. Wer redet, erzählt von der Hölle, auf Russisch «Ad». Das Wort verfolgt mich. Die Hölle heisst Krieg.
Artur ist sechzehn, ein kluger, aufgeweckter Teenager mit klarer Beobachtungsgabe. Vor vier Tagen hat er seinen Vater verloren. Der war auf dem Weg in die bereits verlassene Wohnung in der Wolgodonskajastrasse, zwei Kilometer östlich des umkämpften Stahlwerks Asowstal. Vor einer Sprenggranate hat er sich in den Hauseingang gerettet, dort haben ihn die Splitter zerrissen. Sein Sohn ist der Einzige aus der Familie, der ihn später noch gesehen hat. Erkannt hat er ihn nur an der Kleidung. Es gab auch keine Chance, den Vater zu begraben; der Beschuss war so dicht, sie hätten nur ihr Leben riskiert.
 
Von Trauer über den Verlust ist Artur weit entfernt. Gefangen im Kriegsstress, die Augen trocken, spult sein Gedächtnis Beobachtungen ab: der Panzer versteckt in der Durchfahrt zwischen zwei Höfen, die Granate, die ein Verteidiger in einen Kellereingang wirft, der Algorithmus aus Pfeifgeräusch und Bedrohung. Seine Mutter sitzt neben ihm, 41 Jahre alt, mit blonden Locken und einem intelligenten, einst attraktiv gewesenen Gesicht. Es ist aschfahl, vom Krieg gezeichnet. Wie ihren Sohn hat die Trauer sie noch nicht erreicht. Dafür sprudelt es aus ihr hervor. Das Stahlwerk, Asowstal – darunter liegen tiefe Bunker aus sowjetischer Zeit. Viele hundert Zivilisten seien dort untergebracht. Etagen darüber, auf den Dächern und Balkonen der weitläufigen Fabrik, hätten die Verteidiger sich eingerichtet. Dort zögen sie das russische Artilleriefeuer auf sich. Auch sie erzählt vom Pfeifen der Geschosse. Nie wird sie das vergessen. Wie das Hirn sich verselbständigt, sobald es ertönt. Nur Sekundenbruchteile bleiben für die Entscheidung: ein Krater, ein Eingang, flach auf den Boden. Nach dem Tod des Mannes, die Mutter im Krankenhaus, hat sie nur noch an Flucht gedacht.
Doch Fliehen bedeutet erst recht Risiko. Alle hätten sie in ihren Wohnungen ausgeharrt, bei Artilleriebeschuss im Keller. Auf einem der seltenen Besorgungsgänge habe ein Verteidiger sie aufgehalten. In die Richtung gehe sie besser nicht, die Strasse sei vermint. Auf ihren Einwand, sie müsse doch was zu essen kaufen, habe er sie angeherrscht: «Wer hat dir gesagt, dass hier nur Soldaten sterben?» Für viele aus der Westukraine gehörten sie gar nicht dazu, sagt sie und meint die russischsprechenden Ukrainer im Osten.
Ich frage, ob sie sich als Russin fühlt. Nein, warum? Sie will in Frieden leben, das ist alles. Die Minen haben die Verteidiger gelegt, um den Feind am Vorrücken zu hindern. Sie erfüllen noch einen weiteren Zweck, das bestätigen nicht nur Jelena und ihr Sohn. Die Menschen in den Kellern und Wohnungen, auch die in den Bunkern unter dem Asowstal-Werk, dienen den Verteidigern als Schutzschild.
Jelenas achtjähriger Sohn Artjom, bleich und mit tiefblauen Ringen unter den Augen, presst seinen Rücken an den der Mutter und hält sich krampfhaft die Ohren zu. Auf dem Bett daneben sitzen zwei achtjährige Mädchen, die Zwillinge Sascha und Alissa. Ihre Mutter und Jelena sind Schwestern. Alissa spielt gedankenverloren in einer anderen Welt, Sascha lächelt. Ihr Vater ist noch am Leben. Hoffen sie.
Artur erzählt, wie er bald nach dem russischen Angriff gelernt hat, die Flugbahn und die Art der Geschosse zu unterscheiden. Das schrille Pfeifen der Granate verrät Nähe, Richtung und Ursprung. Bei Gewehrkalibern achtet er auf das Mündungsfeuer, den Schussknall und den Aufprall. In der fünften Etage im Haus gegenüber habe er einen Scharfschützen ausgemacht, mit eigenen Augen. Das sei kein Russe gewesen. Auch das erste Artilleriegeschoss, das in den frühen Märztagen ihr Wohnhaus traf, sei definitiv aus einem Geschütz der Verteidiger gekommen.
Die ukrainische Armee beschiesst ihre eigene Zivilbevölkerung? Woher will er das wissen? Der ganze Stadtteil sei in ukrainischer Hand gewesen, antwortet er, die Front noch Kilometer entfernt. Zwei Reihen weiter sitzen Sergei und seine Frau Irina auf ihren Feldbetten und essen Haferkekse. Auch sie haben Zwillinge, Alexander und Nikita, ausserdem eine ermattete Sphynx-Katze, die wie aus Porzellan unter einer Decke liegt. Sergei berichtet von den ersten Kriegstagen. Sie wohnten im dritten Stock eines Plattenbaus am Morskoj Bulvar, unweit des Hafens. Sofort nach dem ersten Beschuss Ende Februar sei die zivile Verwaltung zusammengebrochen. Polizei und Feuerwehr hätten die Stadt verlassen, um den 1. März seien dann die Lebensmittelgeschäfte geplündert worden, bald darauf alle anderen. Am 8. oder 9. März sei eine Patrouille zu ihnen gekommen, sie hätten Wohnung für Wohnung nach ukrainischen Soldaten durchkämmt, dann seien sie wieder verschwunden.
Am nächsten Tag vernimmt er ein unheimliches Motorengeräusch. Im Hof steht ein Panzer, dessen Geschützturm sich langsam in seine Richtung dreht. Ihm bleibt fast das Herz stehen. Dann eine ohrenbetäubende Explosion, die Wände zittern, nach einer halben Minute noch eine. Sergei hat sich gerade noch in einen fensterlosen Korridor gerettet. Als er sich wieder ans Fenster traut, ist kein Panzer mehr da. Stunden später wagt er sich in den Hof. Eine Erdgeschosswohnung im Nachbareingang ist zerstört. Das markante Z, das die russischen Fahrzeuge kennzeichnet, habe er auf dem Panzer nicht gesehen.
Er berichtet auch von einer Menschengruppe, die auf dem Weg zur russischen Front einen Kontrollposten passiert. Die Soldaten hätten es ihnen erlaubt, dann, nach zwanzig Metern, hätten sie geschossen, von hinten. Mindestens fünf seien liegen geblieben. Ein anderer habe eine Salve in eine Menschenschlange abgefeuert, die um Brot anstand. Hat er das wirklich gesehen, mit den eigenen Augen? Er nickt. «Das waren unsere», sagt er, «unsere.» Die Witwe Jelena berichtet von einem 27-jährigen Nachbarn, der beim Wasserholen von Scharfschützen in den Rücken getroffen wurde. «Für die ist Morden ein Spiel», lacht sie. Der Tod ihres Mannes hat sie bitter gemacht.
Strom und Gas, Internet und Mobilfunk gab es schon den ganzen März nicht mehr. Die Menschen kochen auf offenen Feuern, verbrennen Möbel auf dem Balkon. Am schlimmsten ist der Wassermangel; er zwingt sie aus dem Haus. Die 71-jährige Swetlana hat zwei Wochen im Keller zugebracht, mit fünf Litern Wasser für neun Menschen. Von umgerechnet (vor dem Krieg) 82 Euro Rente hat sie im Mariupoler Vorort Sartana gelebt; jetzt liegt sie neben ihrer gehbehinderten Tochter auf einem Feldbett in Taganrog. Sie ist die Einzige, die hasserfüllt von «Faschisten» spricht, wenn sie die ukrainischen Soldaten meint.
Die Rede ist vom Asow-Regiment der Nationalgarde, dem die Verteidigung Mariupols obliegt. Die seien perfekt ausgerüstet, erzählt Swetlana, mit Uniformen und Gadgets wie in einem Science-Fiction-Film. 2014 wurden die «Asowzy», wie sie hier in Taganrog jeder nennt, als Freikorps gegründet und seitdem konsequent hochgerüstet. Die Stadt wurde zum Vorposten ausgebaut. Militär auf den Strassen sei nichts Besonderes gewesen, berichtet auch Sergeis Ehefrau Irina. Vor Jahren habe sie mit einem Nato-Offizier Bekanntschaft gemacht, einem Slowaken. Mariupol war auf einen Krieg gut vorbereitet.
Die Asowzy gelten auch als militärischer Arm einer ukrainischen Blut-und-Boden-Ideologie. Ihr schwarz-gelbes, hakenkreuzähnliches Symbol hat sie weltweit bekannt gemacht. Viele Rechtsextreme aus westlichen Ländern kämpfen in ihren Reihen. Aber worum geht es? Um die Ukraine oder um den Hass? Ein Fluchthelfer aus Rostow erinnert sich an die Familie Butussin, Vater und drei Söhne, die waren schon in den Neunzigern faschistisch angehaucht. Sie sind Russen, dennoch kämpfen sie mit den Asowzy. In einem Video schwadroniert der Senior vom «Kampf gegen die Bolschewiken» und gegen den «Antichristen Putin». Christina, 35, aus Donezk, die im Haus einer Taganroger Freundin untergekommen ist, berichtet von 2014, als sie Soldaten mit dem Schriftzug UKRWEHRMACHT an der Schulter begegnet sei.
Jelena erzählt von ihrer Flucht. Von den grünen Korridoren wusste sie nichts, auch die anderen in der Stadt nicht. Es gibt in Mariupol keine Bekanntmachungen, kein Telefon, kein Internet, keine Lautsprecherwagen. Ab und an lässt sich das Radio der sogenannten Volksrepubliken empfangen. Dafür gab es Gerüchte von Sammelpunkten im Osten, hinter der russischen Front. Doch bis dahin sind es mehrere Kilometer. Erst muss man die Verteidigungslinie überwinden, dann das Niemandsland. Jeder Meter ausserhalb der schützenden Keller heisst Angst vor Artilleriebeschuss, Minen und Scharfschützen. Um sich durchzuschlagen, braucht es Mut und Kraft, vor allem aber Glück ohne Ende.
In Jelenas Fall gab es keinen Zweifel. Sie war fest entschlossen. Mit ihrer Schwester hatte sie vereinbart, die erstbeste Möglichkeit wahrzunehmen. Plötzlich sei die Nachricht gekommen, bei der Kirche warteten Fluchthelfer auf der russischen Seite. Sie habe barfuss im Keller gesessen, sei aufgesprungen und über Splitter und Scherben in die Wohnung hoch. Schuhe, ein Rucksack, dann die Kinder aus dem Keller, und nichts wie weg. Nach sieben oder acht Kilometern hätten Tschetschenen die Gruppe in Empfang genommen und in Sicherheit gebracht.
In westlichen Medien hiess es, Einwohner aus Mariupol seien gegen ihren Willen nach Russland gebracht worden. So hatte Kiew es behauptet, dort war offiziell von «Verschleppten» die Rede. Man habe den Menschen auch ihre ukrainischen Pässe abgenommen. In Taganrog suche ich vergebens nach Verschleppten. Was ich damit meine, fragt man mich zurück. Nicht freiwillig? Sie sind glücklich, der Hölle entkommen zu sein. Sergei greift in die Innentasche seines abgetragenen Anoraks und zieht seinen ukrainischen Pass hervor. Auch die anderen beteuern, dass man ihnen nichts abgenommen hat. Die Rentnerin Swetlana, schwerhörig, aber voll theatralischer Energie, greift nach meinem Handgelenk. Unbedingt muss ich schreiben, wie dankbar sie den Russen ist, wiederholt sie gleich dreimal.
Nach russischen Angaben flüchteten Anfang April täglich mindestens 13 000 Menschen in das Rostower Gebiet. Sie kommen aus den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, vor allem aber aus Mariupol im Südwesten. Seit Ende Februar ist es insgesamt über eine halbe Million. Sie fliehen vor keiner Kriegspartei, sie fliehen vor dem Krieg. Dass Russland ihn über sie gebracht hat, werden sie noch begreifen müssen. Für die Zivilisten in Mariupol gibt es auch keine Freunde, keine Partei, der man zugehört. Wie im Dreissigjährigen Krieg hält die Bevölkerung den Rücken hin. Nach allen Seiten, am Tag und in der Nacht. Russland, Ukraine, Rebellenrepublik – für die Menschen in den Kellern und Wohnungen macht das keinen Unterschied. Sie haben kein Wasser und kaum noch zu essen, und eine enthemmte Soldateska trinkt sich an ihnen den Blutdurst satt."   Fasbender