Stationen

Montag, 11. April 2022

Ich las zuletzt – der Teufel mag wissen, warum erst so spät und warum gerade jetzt – Alexander Puschkins Versdrama beziehungsweise Versroman und jedenfalls Hauptwerk „Eugen Onegin“. Wer mit Russen redet, was man momentan nicht tun soll, weshalb ich’s gern tu‘, stößt auf einen merkwürdigen, sämtliche Milieus überschreitenden, vom Geschäftsmann bis zum Oppositionellen, vom Poeten bis zum Militär reichenden, die красавица wie den крестьянин einschließenden Konsens: Puschkin war der Größte. Ob er tatsächlich über die Schule hinaus von vielen Russen gelesen wird, weiß ich nicht, aber Alexander Sergejewitsch spielt für die russische Sprache eine ähnliche Rolle wie Luther und Goethe zusammen fürs Deutsche, er gilt als ihr recht eigentlicher Schöpfer und zugleich Vollender. Und wenn ich hier schon beim Vergleich zu deutschen Autoren bin: „Eugen Onegin“, das ist wie Heinrich Heine und Wilhelm Busch zusammen, nur besser.

Ich weiß nicht (und habe auch keine Ahnung), wie viele Deutsche heute noch Puschkin lesen und wie viele Leser dieses Diariums den „Onegin“ kennen. Nach meiner Vermutung ist Tschaikowskys Oper hierzulande bekannter als das Original, aber sie vermittelt, Briefszene hin, Finale her (und bei aller delikaten, beinahe kammermusikalischen Instrumentierung) von der Vorlage höchstens eine vage Ahnung. Und vom virtuosen, spöttisch-distanzierten, heiter-ironischen Ton der Dichtung wissen Tschaikowskys „Lyrische Szenen in drei Aufzügen” praktisch nichts. Dieser Ton aber ist das Eigentliche.

„Und dennoch sucht sie teilzunehmen
an dem, wovon man ringsum spricht;
doch die gesellschaftlichen Themen
sind von so lähmenden Gewicht,
sind so banal, so platt und flüchtig,
so langweilig und blaß und nichtig,
daß oft ein ganzer Tag vergeht
und man sich nur im Kreise dreht
um nichts und wieder nichts; Gedanken
entspringen nicht in dieser Welt,
die im Gerede sich gefällt;
hier kann auch nie das Herz erkranken,
der Geist nie lächeln; ja sogar
die Dummheit macht sich hier noch rar.“

Heißt es, in der Übertragung von Ulrich Busch, über Tatjana („Tanja”), nachdem sie vom Lande nach Sankt Petersburg übergesiedelt ist. Und der Titelheld, „frisiert nach Schick und Modeneuheit,/ ein Dandy, wie nach Maß bestellt”, wird eingeführt mit den Worten:

„Nein: früh schon waren die Gefühle
in ihm erstarrt; die Große Welt,
die Damen, ihre Liebesspiele
fand er durch Alltagsbrauch entstellt;
ihn langweilten die kurzen Freuden;
auch Freunde suchte er zu meiden,
weil man nicht gern taugaus, tagein
Beefsteaks mit auserlesnem Wein
zum Mittagsmahl genießen möchte,
zumal man sich zum Überdruß
noch geistreich unterhalten muß”.

So steht es geschrieben im Gründungstext der russischen Literatur. „Puschkins größtes Werk ist ‚Eugen Onegin’, ein Roman in vollkommenen Versen”, erklärte Wladimir Nabokov seinen amerikanischen Studenten. „Es handelt sich nicht nur um ein großes Werk eines großen Genies, es ist auch der erste originär russische Roman.” Auf dessen „völlig neuen Stil” ließen sich „die größten Romane des russischen 19. Jahrhunderts zurückführen”.

Dem Zeitgeschmack folgend, der zu Puschkins Tagen die Prosa für das hielt, was heute noch im Wort „prosaisch” nachklingt: zweitklassig und profan, wählte der Dichter die gebundene Form; die sogenannte Onegin-Strophe besteht aus 14 Zeilen in vierfüßigen Jamben, die immer demselben Muster folgen (Ausnahmen sind Tatjanas berühmter Brief an Onegin und Onegins nicht ganz so berühmter Brief an Tatjana); sie beruht auf dem Sonett, speziell der zum Setzen von Pointen ideale Paarreim am Schluss:

„Doch fand er nach der langen Fahrt
sein Onkelchen schon aufgebahrt.”

„… des Ruhmes täglichen Tribut
Verriß, Beschimpfung, Spott und Wut.”

„Er sang von Herbst und Todesstund,
kaum achtzehn Jahr alt, kerngesund.”

„Und dem Gespräch der Ehefraun
war nicht viel Beßres zuzutrauen.”

„Obschon er sechsundzwanzig war
nahm er noch keine Pflichten wahr.”

„Nach seiner Dame ruft ein Herr,
ein Baby echot mit Geplärr.”

„Du machst mich immer still und froh,
meinn lieber guter Freund Bordeaux!”
(Von wegen Wilhelm Busch…)

„Man gab sich fein und gab sich klug,
von allem gab’s genug, genug.”

Onegin ist ein Mensch des Überdrusses, der Langeweile, des ennui. Puschkin nimmt mit seiner Titelfigur Bezug auf Lord Byrons „Childe Harold“, der im Text auch mehrmals erwähnt wird, etwa im Kapitel I, Vers 38:

„Wie Childe Harold, enttäuscht, verbittert,
erschien er in der großen Welt;
kein Klatsch, kein Spiel, nicht mal das Geld,
kein lieber Blick, von Schmerz durchzittert,
nichts rührte ihn, er war so kühl,
daß ihm an allem nichts gefiel.“

„Childe Harold“, 1812–18 veröffentlicht, beschreibt die Reisen eines jungen Mannes, der aus Enttäuschung über sein langweiliges Luxusleben Zerstreuung – oder, wie man heute sagen würde, „Sinn” – in fernen Ländern sucht. Das Werk hat autobiografische Züge, die ersten Teile beruhen auf Byrons Reiseerlebnissen in Portugal, Spanien, dem Osmanischen Reich und Griechenland. In den späteren Canti tritt der Autor selbst auf, so dass die Unterscheidung zwischen ihm und dem Protagonisten immer schwieriger wird. Auch im „Onegin“ spricht der Erzähler immer wieder dazwischen und den Leser direkt an, ein später beispielsweise von Gogol oder Dostojewski gern verwendetes Stilmittel, und er plaudert auch über sich selbst (etwa sein Faible für „Frauenfüßchen”), doch eine Verwechslung mit der Titelfigur schließt er selber aus:

„Wie freut mich, daß ich so verschieden
von meinem Freund Onegin bin.
So kann kein böswilliger Leser,
kein blechener Posaunenbläser
verleumderisch behaupten, ich,
ich selbst sei deutlich, Strich für Strich,
in meinem Helden zu erblicken,
Onegin sei mein Selbstporträt,
ich sei, wie Byron, ein Poet,
dem stets nur Spiegelbilder glücken;
als könnten Dichter ganz allein
nur selber ihre Helden sein.”

Im literaturwissenschaftlichen Slogan heißt es über „Childe Harold“, das Werk führe den literarischen Archetypus des „Byronschen Helden“ ein, einen Antihelden und Außenseiter, der vor allem mit sich selbst und seinen existentiellen Problemen beschäftigt ist. Der Byronismus, ein tiefes Enttäuschtsein vom Leben, spricht aus Benjamin Constants Adolphe und aus Lermontows Petschorin („Ein Held unserer Zeit”), aber bereits Chateaubriands „René”, 1802 erschienen, gehört in die Reihe dieser großen Gelangweilten. Puschkins Onegin ist ein solcher Außenseiter, ein Vorläufer Petschorins, allerdings fehlt sowohl dem Protagonisten selber als auch dem spöttischen Erzähler das romantische Pathos Byrons. Mit Onegin betritt der Prototyp jenes „überflüssigen Menschen“ die Bühne, der in der russischen Literatur später so omnipräsent werden soll, mit Gontscharows Oblomow als Paradebeispiel; Tschechows „Kirschgarten“ ist voll davon, und der Chebutykin in den „Drei Schwestern“ ist mein Lieblingsexemplar.

Wenn ich vorhin Heine und Busch als Vergleiche bemühte, dann vor allem jener ironischen Distanziertheit und halb sarkastischen, halb amüsierten Nonchalance wegen, mit welcher Puschkin sein Personal und überhaupt des Menschen Geschick behandelt. Aber was heißt hier Personal: Es sind im Grunde ja nur vier Figuren – wobei es sich bei Olga und Lenski bereits um Nebendarsteller handelt –, die vor dem Hintergrund der Petersburger Gesellschaft und der Gutsbesitzerwelt von Tatjanas Familie die Handlung aufführen. Und doch beinhaltet der „Onegin” eine „Enzyklopädie des russischen Lebens”, wie ein zeitgenössischer Kritiker enthusiastisch rühmte.

Übrigens begann Puschkin die Niederschrift seines Hauptwerkes 1823 im Alter von 24 Jahren (anno 1830 schloss er es ab). Er gehörte zu jenen weltklugen Frühvollendeten, über deren Menschenkenntnis unsereins nur staunen kann und für die in der Kunstgeschichte unter anderen Namen wie Mozart oder Tschechow stehen. Während er mit der Figur Onegins aber nur einen Windhund porträtierte, schuf Puschkin mit Tatjana eine der rührendsten Gestalten der Weltliteratur.  MK

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