Stationen

Montag, 11. April 2022

 

Leopold von Ranke sagte schon, ein Historiker müsse alt werden, um große Veränderungen gesehen zu haben, wenn er große Veränderung in der Vergangenheit verstehen möchte. Und das, obwohl sich die Dinge zu seiner Zeit viel langsamer änderten als heute. Wir leben in einer Zeit, in der sich die Dinge so rasend schnell ändern, als wenn die Erde sich dreimal am Tag um ihre Achse drehen würde, und zusätzlich ist auch noch unsere Lebenserwartung gestiegen.

Aber ich hätte nicht gedacht, dass in meinem und Imads Alter sich so viel Vergessen und Verlogenheit ausbreiten würden. Es werden nicht nur die Kinderbücher von Ottfried Preußler "korrigiert", selbst Shakespeare und die Texte von Bachs Werken werden umgeschrieben. Und ein afrodeutscher evangelischer Theologe verteidigte diesen Humbug auch noch mit den Worten, die Bibelübersetzungen würden schließlich auch von Zeit zu Zeit den Veränderungen in der Sprache angepasst. Ein anderes Beispiel: Auch bei Deutschen hat sich inzwischen die Überzeugung eingeschlichen, dass die Türken tatsächlich nach dem 2. Weltkreig Deutschland mit aufgebaut hätten. Die Realität wird unaufhaltsam vor unser aller Augen umgelogen, obwohl es viele Fernsehaufnahmen und YouTube gibt. Vielleicht gerade deshalb, denn die Methoden der Manipulation sind durch die gezielte Drosselung der Reichweiten, die durch künstliche Intelligenz reguliert wird, sehr subtil geworden. Die Medien entscheiden, welche Narrative bei den Usern ankommen. 

Es ist phänomenal, wie der Realitätssinn den Bach runter geht. Mein Leben lang habe ich darauf gewartet, dass er endlich einmal zunehmen würde, wenn die Träumereien auf die harte Wirklichkeit stoßen. Aber die Deutschen stecken den Kopf nur noch tiefer in den Sand. Vermutlich aus Erschöpfung. Und weil niemand genug Zeit hat, um zur Ruhe und zum Verstand zu kommen. Ernst Jünger sagte, über einschneidende geschichtliche Ereignisse könne man am darauffolgenden Tag reden, aber danach erst wieder 100 Jahre später. Man kann nur hoffen, dass dieser Satz noch stimmt.

Screenshot vom 12. April 2022


Die christlich abendländische Tradition besteht darin, immer wieder zu dem Schluss zu kommen, nicht christlich (genug) zu sein. Das ist der Motor der abendländischen Selbstkritik und Selbstkorrektur, der immer die Stärke des Westens war (und seit Galilei kam als Spielart autoreferientieller Kritik noch die wissenschaftliche Methode hinzu). Aber durch die Globalisierung wurde die Selbstkritik plötzlich zu einer Schwäche gegenüber hyperpluralistischen Deutungsforderungen, die ohne den Ballast der Selbstkritik und mit dem Motor der Selbstgerechtigkeit an uns herantreten. In dieser Situation sind die Deutschen besonders fragil, weil eine verunglückte Vergangenheitsbewältigung ihnen alle Abwehrkräfte geraubt hat.

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