In der deutschen Presse steht von allen
Wissenschaften die Bescheidwissenschaft am höchsten. Auch und gerade
gegenüber dem Ausland. Was dem perfiden
Albion, den bildungsfernen USA und dem verstockten Polen guttut, weiß
niemand so gut wie ein Journalist aus Berlin. In diesem Punkt gibt es
ausnahmsweise seit über einhundert Jahren keinen Traditionsbruch. Einen
mustergültigen Text über Polen, der im Prinzip hundert ähnliche
Kommentare anderswo zusammenfasst, veröffentlichte Gabor Steingart,
Chefdenker von Pioneer, am 27. Oktober in seinem „Morning
Briefing“, das er um 5:47 Uhr herausschickte und damit eine historische Marke haarscharf streifte.
Die Überschrift seines Polen-Textes
zeigt schon, wo es lang geht: „Mehr Härte wagen“. Wie man weiß, handelt
es sich um ein altes deutsches Problem – die Skrupel, ob Härte gegen den
Polen wirklich gewagt werden darf. Unsere ewige Zurückhaltung gegenüber
dem östlichen Nachbarn. Dafür, beruhigt Steingart, Pardon dürfe nun
nicht mehr gegeben werden:
„Unser schwieriger Nachbar Polen will nicht so, wie wir wollen.“
Dann, wenn er wollte wie wir – und nur dann – könnte man nämlich auf Härte verzichten. Was will der schwierige Pole denn?
„Das
europäische Recht – Grundlage eines funktionierenden Binnenmarktes –
soll in Polen nicht gelten. Und wenn doch, dann nur, wenn es passt:
Polen first.“
Steingart ist wie viele seiner Kollegen ein Meister
des Holzschnitts. In der aktuellen Auseinandersetzung behaupten Polens
Richter und Regierungspolitiker nicht, das EU-Recht solle bei ihnen
„nicht gelten“, sondern nur, dass es nicht generell über nationalem
Recht stehen soll. Die gleiche schwierige Ansicht vertrat übrigens auch
schon das Bundesverfassungsgericht unter seinem früheren Präsidenten
Andreas Voßkuhle in seinem Urteil zum Anleihenkauf der EZB, worauf die
EU-Kommission mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland
antwortete. Dass EU-Recht und Rechtsprechung nicht immer und automatisch
über der Verfassung stehen, ergibt sich auch aus Grundgesetzartikel 20.
Und mehr oder weniger aus allen Verfassungen der Mitgliedsländer.
Aber
wer mehr Härte will, kann und muss sogar mehr Vereinfachung wagen.
Polen, so Steingart, werde sowieso nicht aus der EU austreten, weshalb
auch keine übertriebene Rücksicht wie seinerzeit gegen Großbritannien
angezeigt sei.
„Hier die fünf Gründe“, schreibt der Pionier aus
Berlin, „warum die neue Bundesregierung nahezu risikofrei
eine entschlossenere Haltung gegenüber Polen einnehmen kann.“
Risikofrei
eine Haltung einnehmen – das ist überhaupt die Spezialstrecke des
deutschen Kommentariats. Auf diesem Exerzierfeld macht ihm weltweit
niemand etwas vor. Irgendetwas, das ahnt Steingart, war da mit Polen und
der Historie. Daraus begründet er, warum niemand so gut geeignet sei
wie Deutschland, Polen hart und nachdrücklich auf den richtigen Pfad zu
führen:
„Die gemeinsame Geschichte, die vor allem auch eine
Leidensgeschichte ist, verbindet unsere beiden Völker. Polen ist ein
geschundenes, ein verletztes Land, das die Distanz zu Russland und die
Nähe zu Deutschland sucht […] Zwischen Deutschen und Polen existiert
ein
Wärmestrom.“
Wer als geschichtlich unbefangener Leser das
Morning Briefing von 5:47 Uhr studiert, könnte meinen, Deutschland und
Polen seien in der Vergangenheit irgendwie gemeinsam von Russland
überfallen worden. Zwischen Deutschland und Polen gibt es zum Glück
heute viele Beziehungen, und nicht unbedingt der Wärmestrom, aber der
Stromfluss von Polen nach Deutschland dürfte, ganz nebenbei, in Zukunft
noch wichtiger werden als jetzt, jedenfalls dann, wenn 2030 zur
Weltklimarettung das letzte deutsche Kohlekraftwerk vom Netz geht. Da
besteht allerdings eher eine bundesrepublikanische Abhängigkeit von
Polen als umgekehrt. Aber vielleicht stellt sich der frühere Handelsblatt-Chef
das ideale Außenwirtschaftsverhältnis genau so vor: Polen liefert
Kohlestrom nach Berlin, Deutschland Belehrungen nach Warschau.
Es
folgen noch weitere Argumente: das viele Geld, das die Polen von der EU
erhalten (eigentlich von den Steuerbürgern), und das sie nicht mit
entsprechendem Wohlverhalten vergelten. Außerdem: Sollte das östliche
Nachbarland je in einen militärischen Konflikt mit Russland geraten, so
Steingart, dann würde ihm die Bundeswehr nur dann zur Seite stehen, wenn
sich die polnische Regierung künftig an den Wertekanon der
Redaktionsbüros von Berlin Mitte hält.
Vermutlich würde die
polnische Armeeführung im Ernstfall nach Berlin mailen: Bitte helfen Sie
uns nicht, allein ist es schon schwer genug (aber das nur als weitere
Fußnote).
Zum Schluss fasst Steingart zusammen, was jetzt passieren muss:
„Polen
soll nicht unterdrückt, nur demokratisch erzogen werden. US-Pädagogen
raten im Umgang mit Problemkindern übrigens nicht zur Moderation,
sondern zur Strenge. Ihr Konzept: Tough Love.“
Ein Land mit 38
Millionen Einwohnern, die unterschiedlich denken, unterschiedlich
wählen, allerdings eine Geschichte mit vielen Erziehungsversuchen
teilen, kollektiv auf den Status eines Kindes und dazu noch eines
Problemkindes zu stufen – das geht noch ein bisschen weiter als Rudyard
Kipling in „The White Man’s Burden“, in dem es über die Völker außerhalb
heißt:
„Our new caught sullen people/half devil and half child”.
Kipling,
ein brillanter und heute natürlich als kolonialistisch verfemter Autor,
kannte Indien hervorragend, sprach Hindi und stand eigentlich, wie sich
in „Kim“ nachlesen lässt, eher auf der Seite der Indigenen. Alles in
allem gehörte er zu den ambivalenten und interessanten Dichtern.
Steingarts
Bild von den Schwierigpolen lässt sich wesentlich einfacher in einer
Zeile zusammenfassen: ‘Halb Kind, halb Problemkind‘.
Ohne Erzieher aus Brüssel und Berlin ist Polen verloren.
Wäre
Steingart nicht ein so hervorragender Vertreter seines Milieus, das
immer den gleichen Kommißstiefel schreibt, dann würde er zumindest den
Satz Hannah Arendts kennen: „Wer erwachsene Menschen erziehen will, will
sie in Wahrheit bevormunden und daran hindern, politisch zu handeln.“
Aber
Arendt steht bekanntlich für die Vergangenheit, Steingart dagegen für
die intellektuelle Gegenwart an der Spree und wahrscheinlich erst recht
die Zukunft. Wer sich als deutscher Journalist die Last des weisen
Mannes aufbürdet und erwachsene Polen erziehen will, erhält demnächst
irgendeinen kerndeutschen Preis für europäische Verständigung.
Unter
der harten Helmschale steckt nämlich seit eh und je ein weicher Kern,
und nur dann, wenn das Erziehungsobjekt das Liebesangebot zurückweist,
ist wirklich Schluss mit lustig. Wendt
Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.