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Montag, 18. Oktober 2021

Nur wer keine Angst um seine Karriere mehr haben muss, traut sich in D noch, die Wahrheit zu sagen

Menschen, die das offen aussprechen, was nicht nur sie selbst, sondern insgeheim auch ein anzunehmender Großteil der Zeitgenossen denken, haben heutzutage Seltenheitswert – und wenn jemand wirklich noch halbwegs authentisch auftritt, Schweigespiralen durchbricht und Tacheles redet, ganz so wie ihm der Schnabel gewachsen ist, ohne Rücksicht auf totalitäre Sprachregelungen und Denkverbote zu nehmen: dann wird dies als nachgerade revolutionär empfunden. 

Leisten können es sich die wenigsten; im Prinzip nur noch Exil-Deutsche, wirtschaftlich unabhängige Persönlichkeiten, die vor niemandem mehr katzbuckeln und aus ihrem Herzen darum keine Mördergrube machen müssen, durchgeknallte „Schmerzfreie“ jenseits von Gut und Böse – oder solche, die ein Alter erreicht haben, in dem sie auf den Backlash linker Jabberwockies sowie Shitstorms des Zeitgeistes getrost pfeifen können.

In die letztere Kategorie fällt die agile, schrullige und doch immer wieder sehens- und hörenswerte Krawallschachtel Elke Heidenreich, einst Moderatorin, begnadete Kabarettistin und Literaturkritikerin. Mit ihren 78 Jahren muss sie niemandem mehr etwas beweisen, muss sich nicht mehr verbiegen und keine Kreide mehr fressen, um sich öffentlich-rechtliche Gewogenheiten nicht zu verscherzen oder sich einen braunen Hals beim woken Mainstream zu holen. Ihr  Auftritt bei „Markus Lanz“ geriet denn auch zur wohltuenden Wutrede: Ob Diversitäts- und Quotenwahn („Hauptsache Migrationshintergrund, Hauptsache Quote – das ist eben der falsche Weg„),  Jugendverblödung („Generation Sprachlos„, „unfähig mit Worten umzugehen„) oder Bildungsferne am Beispiel der grünen Nachwuchsrassistin Sarah-Lee Heinrich („die kann gar nicht sprechen“, „muss erst mal lernen, richtig zu formulieren„) – Heidenreich nahm kein Blatt vor den Mund.  

Beim Thema Gender-Hysterie lief sie dann zur Höchstform auf: „Herrje, jeder will unbedingt in jedem Satz mit genannt und beachtet sein. Eine einbeinige chinesische Taubstumme mit Migrationshintergrund – ich weiß es nicht, also was kommt noch alles –, die gerade zum Protestantismus konvertiert ist, fühlt sich dann nicht angesprochen, wenn ich irgendwie über Protestanten rede. Ich werde noch verrückt. Also ich möchte, dass wir wieder zu einer Art Normalität zurückkehren.

Auch die Union, im Studio vertreten durch den Berliner CDU-Mann Kai Wegner, bekam ihr Fett weg. Über die „Nachwuchs-„Hoffnung Philip Amthor urteilte Heidenreich: „Der ist jetzt schon älter als ich, und ich bin 80„. Vor allem auf Markus Söder schoss sie sich ein: „Dieser ruchlose Mensch, der so intrigant jetzt gerade gehandelt hat, wie kann eine Partei daran immer noch festhalten? Wie will sie wieder Fuß fassen, wenn solche Leute immer noch das Sagen haben und wenn da nicht mal Einhalt geboten wird?„. Da horchten nicht nur Lanz und seine Mitdiskutanten auf und wanden sich sichtlich verlegen ob soviel ungefilterten Klartextes. Mit ihrer ungeschnörkelten, erfrischenden Rede wirkte Heidenreich wie einem Raumschiff oder einer Zeitkapsel entstiegen.

So etwas ist heute niemand mehr gewohnt – schon gar nicht im ÖRR. Hingegen wäre noch vor 15 oder 20 Jahren das, was Heidenreich hier vertrat und frei Schnauze rausließ, keine Meldung wert gewesen – und weder stilistisch noch von der Vehemenz her irgendwie aus dem Diskursrahmen gefallen. Bei Biolek, „Talk im Turm“ oder sogar „Hans Meiser“ waren echte Kontroversen noch das das Normalste der Welt, und die Skandalschwelle lag um Stockwerke höher als heute – aber damals war die Meinungsfreiheit auch noch auf achtspurigen Pisten unterwegs und verkümmerte nicht in schmalen, strengbewachten Korridoren. 

Um diesen fatalen Wandel zu erkennen genügt es schon, sich den linken Shitstorm der Zensoren und Sittenwächter im Netz nach dieser Lanz-Sendung zu Gemüte zu führen. Vor allem die striefe linksradikale „Merkeljugend“, Avantgarde einer in den letzten 16 Jahren herangereiften neuen Intoleranz, gaben sich hier die Ehre. Tragisch ist, dass mit Heidenreichs Generation die letzten Vertreter der in der alten Bundesrepublik selbstverständlichen Freiheit und feuilletonistischen Ungezwungenheit abtreten werden. Was ihnen folgt, ist ein Reich der Finsternis, der neopuritanischen geistigen Verarmung und intellektuellen Selbstkasteiung. Wer hätte das gedacht, dass die Generation 70plus in Deutschland einmal fortschrittlicher und erfrischender sein würde als die Jüngeren.   Daniel Matissek

 

 

 

 

 

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