Lieber Herr Wendt,
ich habe gerade Ihren Essay über „Das Höhere Wesen“ gelesen, das uns sagt, was zu tun ist.
Es ist sehr wohltuend, Ihrem analytischen roten Faden zu folgen. Ich
bin seit fast 50 Jahren in der „Wissenschaft” der Naturwissenschaften
unterwegs und bin entsetzt, wie seit einigen Jahren, extrem im letzten
Jahr, die „Wissenschaft” als Begriff missbraucht wird, aber sich auch
allzugern missbrauchen lässt. Es findet sich kaum noch ein Journalist,
der selber einen wissenschaftlichen Erfahrungshorizont hat oder auch nur
gelernt hätte, wissenschaftliche Denkmethoden anzuwenden.
Eine
Anmerkung möchte ich noch gerne zu dem Begriff des „Befundes” machen,
den Sie diskutieren. Ein Wissenschaftler weiß, unter welchen
Bedingungen und Restriktionen sein „Befund” zustande gekommen ist.
Allein schon durch einschränkende Vorgaben (Ein-/Ausschlusskriterien)
lässt sich ein Ergebnis in eine gewünschte Richtung lenken, weil
ausgeschlossene Entitäten keinen Eingang in mein Modell finden. Diese
Grenzen müssen aber angegeben werden, da sie ja eine Verengung des
Ergebnisses bedeuten. Ebenso weiß jeder Wissenschaftler um die
statistische Unsicherheit seines Ergebnisses, die ja nur aus einer in
der Regel kleinen Stichprobe des Gesamtkollektivs besteht.
Der
Wissenschaftler kann damit umgehen, da er die Unsicherheit seines
Messwertes abschätzen und angeben kann. Der „Wissenschaftsjournalist“
muss einen für den Leser verständlichen Begriff, eine konkrete Zahl, ein
Datum abgeben (so er denn das Problem der Messunsicherheit überhaupt
begreift, was ich mal wohlwollend unterstelle, mir bei den allermeisten
aber unsicher bin). Und ab hier wird die Diskussion schon extrem
vereinfachend und damit falsch geführt (der schwachen MINT-Fähigkeit sei
es geklagt (ich erspare mir den naheliegenden Seitenhieb, für
Wissenschaftlerinnen den leichteren Weg des Genderismus zu gehen)).
So
wird überhaupt nicht ausreichend thematisiert, dass die politische
Größe „Inzidenzzahl“ dank eines wissenschaftlich unzulässigen, aber
politisch geschützten PCR-Tests eine willkürliche Festlegung ist, die
auch noch nach Belieben durch simple Veränderung der Testhäufigkeit
beeinflusst werden kann.
Das universelle Prinzip, dass sich jede wissenschaftliche Aussage einer Überprüfung stellen muss, wird beiseite gewischt.
Wahrscheinlich
ist im Rückblick das Verhalten der schweigenden Mehrheit der
Wissenschaftler – Sie haben korrekterweise kurz auf die ökonomische
Abhängigkeit hingewiesen – das größte Versagen in der sogenannten
Corona-Krise. Ich möchte das Versagen der Medienschaffenden als
Transporteur und Treibriemen der ungeprüften „Wahrheiten“ aber nur kurz
dahinter ansiedeln.
In einem Meer von intellektuellem Unrat ist es wohltuend, geistvolle Texte zu lesen. Bitte weitermachen!
Herzliche Grüße Ihr V. C.
Am 16. Februar 2021 schickte die Reaktion der Zeit
eine Twitterbotschaft in die Welt, um einen Text ihres Mitarbeiters
Johannes Schneider über Corona und Wissenschaft zu bewerben:
„Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler wie @beyond_ideology, @c_drosten und BrinkmannLab
beharren zu Recht darauf, dass Forschungsergebnisse nicht diskutierbar
sind, schreibt @joausdo.“
Für
ein Blatt, in dem einmal der großartige Dieter E. Zimmer über
Wissenschaftsthemen schrieb, markiert das eine neue Schwundstufe.
Niemand muss zu der Frage der Diskutierbarkeit von Wissenschaftsaussagen
unbedingt Karl Popper bemühen, um auf das Wesentliche hinzuweisen,
Poppers Falsifikationstheorie fasst den entscheidenden Punkt allerdings
am griffigsten zusammen: Eine wissenschaftliche Theorie ist, was sich
grundsätzlich widerlegen lässt. Übersteht eine Theorie
Widerlegungsversuche, kann sie vorläufig gelten. Letztgültig ist in der
Wissenschaft demnach nichts, höchstens unwiderlegt. Ein
empirisch-wissenschaftliches System, so Popper, „muss an der Erfahrung
scheitern können“.
Der Satz: „die Lichtgeschwindigkeit kann nicht
übertroffen werden“ steht einer Widerlegung offen. Der Satz „Gott ist
groß“ nicht (schon deshalb, weil es sich bei „groß“ nicht um einen
sinnvoll definierbaren Begriff handelt). Aussagen, die sich ihrer Natur
nach nicht widerlegen und damit diskutieren lassen, aber trotzdem eine
Gültigkeit beanspruchen, wollen letztgültig sein. Jeder Versuch, gegen
sie etwas vorzubringen, ist nach ihrer Eigenlogik unsinnig. Diese
Letztgültigkeit gehört in die religiöse Sphäre, in der etwas entweder
geglaubt oder nicht geglaubt, aber nicht mehr diskutiert werden kann.
Die in Schneiders Text zitierte Wissenschaftlerin Maja Göpel fragte die Zeit
per Twitter, ob dort denn niemand merken würde, dass die Botschaft der
Redaktion den Corona- und Klimaforschern, die der Autor in seinem
Beitrag verteidigen will, in einem Satz die Wissenschaftlichkeit
abspricht, ohne es überhaupt zu merken.
Die Zeit
entschuldigte sich umgehend, löschte ihren Tweet und schrieb, der Satz
sei natürlich falsch und im Übrigen durch Schneiders Text auch nicht
gedeckt. Nur: Genau das stimmt nicht. Auch, wenn dort der Satz von den
nicht diskutierbaren, weil letztgültigen Forschungsergebnissen von
Wissenschaftlern wie Göpel, Christian Drosten, Melanie Brinkmann und
anderen nicht exakt so vorkommt wie in dem Tweet, zieht sich das
grundsätzliche Missverständnis von Wissenschaft durch den gesamten Zeit-Text,
der unter der Zeile steht: „Wissenschaftler werden in der Pandemie um
ihre Expertise gebeten. Gefallen der Öffentlichkeit ihre Antworten
nicht, reagieren sie genervt. Völlig zu Recht.“ Das Miss-
beziehungsweise Unverständnis durchdringt nicht nur Schneiders Beitrag,
sondern, ganz nebenbei, auch andere Artikel im Wissenschaftsteil der Zeit und anderswo.
Schneider
schildert zu Beginn ein Gespräch zwischen Göpel (einer Ökonomin,
Unterstützerin von Fridays for Future und Vertreterin der
Klima-Alarmismus) und dem ARD-Journalisten Jörg Thadeusz, in dem Göpel
Thadeusz die merkwürdige Frage stellt: „Haben Sie den Eindruck, uns
Wissenschaftlern macht das Spaß?” (Nämlich, ständig apokalyptische
Klimaszenarien für die jeweils nächsten Jahrzehnte zu bemühen, und
daraus politische Forderungen abzuleiten).
„In dem Gespräch zwischen Thadeusz und Göpel ging es um Ausmaß und Folgen des Klimawandels“, referiert Schneider in seinem Zeit-Artikel,
„es ging um die Notwendigkeit gesellschaftlicher und individueller
Einschränkungen, damit die Welt einer Katastrophe entgeht, die viel
größere Einschränkungen bedeuten würde. Wenn denn überhaupt ein
Überleben unter halbwegs vergleichbaren zivilisatorischen Bedingungen
möglich sein sollte.“
Und weiter:
„Letztlich belegte die Frage
der Expertin an den Nichtexperten aber eine Irritation, die es auch in
der Corona-Pandemie gibt und im Gespräch über Rassismus:
Wissenschaftlerinnen treten an die Öffentlichkeit und werden Teil eines
Aushandlungsprozesses um mögliche Lösungen eines Problems.“
Schneider
schafft es, gleich zwei Fehlschlüsse miteinander zu verbinden. Erstens
gibt es auf einem politisch debattierten Gebiet wie der „Notwendigkeit
gesellschaftlicher und individueller Einschränkungen“ wegen eines Virus,
der Temperaturentwicklung oder etwas anderem keine „Experten und
Nichtexperten“, die einander in einem Hierarchieverhältnis
gegenüberstünden. In der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte streiten
verschiedene Teilnehmer mit Interessen und Argumenten, die besser oder
schlechter begründet sind, zunehmend auch Meinungsinhaber, die ganz ohne
Argumente auskommen wollen.
Geht es um Einschränkung
individueller Rechte, existieren zum Glück auch noch Gesetze und
Verfassungsrechte. Aber in dem Punkt etwa, ob in Deutschland weiter
Eigenheime gebaut werden sollten oder nicht, um dieses konkrete Thema
einmal herauszugreifen, gibt es keinen Experten, der dem Rest der
Gesellschaft sagen könnte, wo es langgeht. Die Entscheidung fällt
politisch, jeder darf mitreden, sogar Anton Hofreiter. Für den Einwand,
dass Eigenheimbauten in Deutschland wahrscheinlich keinen messbaren
Einfluss auf die Globaltemperatur des Jahres 2100 ausüben, muss sich
niemand auf einen Expertenstatus berufen.
Zweitens gibt es kein Kollektiv namens Wissenschaftlerinnen (Schneider
meint die Wissenschaftler, wie er geistreich schreibt, mit), das mit
einer festen Erkenntnis an die Öffentlichkeit tritt, um mit ihr dieses
oder jenes auszuhandeln. Die Strohpuppe mit dem Etikett die Wissenschaft
ziehen nicht nur Schneider und andere Journalisten in Corona- und
Klimafragen immer wieder auf die Bühne, sondern auch Politiker, etwa
Angela Merkel, die sich Ende 2020 mit der Formel: „die Wissenschaft sagt
uns“ auf ein kurzes Papier der Leopoldina zum Lockdown berief. In ihrem
Tonfall schwingt die gleiche Forderung wie bei der Zeit,
bestimmte Aussagen bestimmter Wissenschaftler müssten von der gesamten
Gesellschaft gefälligst als höhere Wahrheit akzeptiert werden.
Gerade das Leopoldina-Papier Merkels erwies sich als nicht nur
außerordentlich dünn im Umfang (viereinhalb Seiten Text) und in seiner
Substanz (im Wesentlichen das Lob eines harten Lockdowns in Irland, der
das Virus austrocknen sollte). Seine apodiktisch vorgetragene Empfehlung
zerfiel auch schnell in der Praxis. Nach der Aufhebung des Lockdowns in
Irland schossen die Infektionszahlen noch über das deutsche Niveau, die
Maßnahme verursachte also gravierende Kollateralschäden, verfehlte aber
das selbstgesetzte Ziel deutlich.
Grade im Streit um den richtigen Umgang mit Covid zeigt sich, dass ein Kollektiv mit der Bezeichnung die Wissenschaft
nicht existiert. Sie tritt nicht als griechischer Tragödienchor mit
Einheitstext vor die Öffentlichkeit, um ihr etwas mitzuteilen.
Stattdessen sprechen sehr viele Wissenschaftler mit sehr
unterschiedlichen Ansichten. Es gibt in dem Streit um Corona und die
sinnvollen Gegenmaßnahmen die von Schneider wohlwollend zitierte
Virologin Melanie Brinkmann, die in ihren Talkshowauftritten immer
wieder einen langen harten Lockdown fordert, vor allem mit dem Blick auf
Mutationen.
Brinkmann
zählt zu den prominentesten Verfechtern der No-Covid-Strategie, die
darin besteht, mit möglichst rigiden Einschränkungen das Virus aus der
Gesellschaft zu vertreiben. Der Epidemiologe Arnold Monto beispielsweise
von der Universität Michigan hält die No-Covid-Strategie für falsch:
„Ich
denke, das ist unrealistisch. Wir müssen lernen, das Virus im Alltag zu
beherrschen. Angenommen, Deutschland bringt die Inzidenz tatsächlich
auf null, was ich für unmöglich halte: Wie lange will man dann den
Frankfurter Flughafen geschlossen halten, um zu verhindern, dass das
Virus erneut ins Land gelangt? Von den Grenzen zu den Nachbarländern
einmal abgesehen? […] Der entscheidende Strategiekern zielt deshalb auf
die Alten und die Krankenhäuser. Ich halte es auch praktisch für
ausgeschlossen, eine Inzidenz von null zu erreichen.“
Es gibt Verfechter der Lockdowns, nicht selten in enger Kooperation mit befreundeten Medienmitarbeitern:
Und
auf der anderen Seiten Wissenschaftler wie den Epidemiologen John P. A.
Ioannidis, der zusammen mit Kollegen die Auswirkungen von Lockdowns
verschiedener Härte in 14 europäischen Ländern und den USA untersucht
hatte, und je nach Modellierung zu dem Ergebnis kam, dass die Maßnahmen
sich nur gering bis gar nicht auf auf den Infektionsverlauf auswirkten.
In
der Debatte finden sich Wissenschaftler, die Virenmutationen für eine
sehr große Gefahr halten, andere, die das Risiko für nicht
unkalkulierbar groß halten:
Der
Streit um Deutungen findet also in der Hauptsache nicht zwischen einer
Entität namens Wissenschaft und der sonstigen Gesellschaft statt,
sondern wie eh und je vor allem in der Wissenschaft selbst. Auch auf dem
Gebiet Covid-19 werden Thesen die Falsifikation überleben – oder auch
nicht. Ordentlicher Wissenschaftsjournalismus bräuchte also nichts
anderes zu tun, als den Meinungsstreit abzubilden, herauszufinden, was
auf dem Thesenfriedhof landet, und welche Theorie sich als robust
erweist. Vor allem bei Prognosen ist es nach einiger Zeit durchaus
möglich, halbwegs objektiv zu überprüfen, ob sie eingetreten sind oder
nicht.
Bei Schneider spielt die Dialektik von These und
Widerlegungsversuch offenbar gar keine Rolle, sondern etwas anderes: das
Eigentliche und Richtige, und die Abweichung davon. Das macht er in
seinem kleinen Exkurs zur Klimadebatte deutlich, der großen Schwester
des Corona-Wissenschaftsstreits.
In seinem Zeit-Text heißt es:
„Die
Wissenschaftlerin wird dann zum Beispiel mit abweichenden
Forschungsbefunden konfrontiert (der berüchtigte eine Klimaforscher
unter hundert, der die Existenz des Klimawandels bestreitet) und muss
immer wieder erklären, warum sie diese nicht für valide hält; oder ihre
Rückschlüsse aus allgemein anerkannten Befunden werden in Zweifel
gezogen, denn es gibt selbstverständlich auch immer andere Rückschlüsse,
wozu die Expertin aber nur wiederholen kann, warum sie eben zu ihren
gekommen ist. Oder sie bekommt gönnerhaft erklärt, dass die Menschen
etwas aber nicht mitmachen werden. Woraufhin sie dann, mutmaßlich
erschöpft bis patzig, erklärt, dass die Menschen dann aber noch ganz
andere Dinge werden mitmachen müssen.“
An dieser Stelle schleift
Schneider eine zweite Strohpuppe hinter sich her, um sie auf offener
Bühne anzuzünden. Welcher berüchtigte Klimaforscher unter hundert oder
einer Million erklärt eigentlich, es hätte vom Präkambrium bis heute ein
immerwährend gleiches Klima gegeben? Weit und breit niemand. Folglich
nennt Schneider auch keinen. Die Debatte über die Klimaentwicklung
verläuft ähnlich kontrovers wie die über Covid-19. Aber genau so, wie
sich die Covid-Debatte nicht darum dreht, was ein Virus und eine
Lungenerkrankung ist, streitet in der Klimakontroverse niemand über die
Tatsache, dass das Erdklima sich wandelt, solange es existiert.
Heftige
Auseinandersetzungen gibt es unter anderem um den menschlichen Anteil
an diesem Wandel. Über die Wirkungen und Nebenwirkungen von
Gegenmaßnahmen. Und um die Frage, wie zuverlässig Computermodelle die
Klimazukunft vorhersagen. Hier liegen die Ansichten ähnlich weit
auseinander wie beim Nutzen der Lockdowns:
Die amerikanische
Klimaforscherin Judith Curry etwa betont immer wieder die Unsicherheit
der Computersimulationen, während etwa der Ozeanograph Stefan Rahmstorf
vom Potsdam-Institut darauf besteht, mit Hilfe von Modellen
„Kipppunkte“ des Klimas exakt vorhersagen zu können. Vor mehr als zehn
Jahren stritten die Klimaforscher Michael Mann und Hans von Storch über
den wissenschaftlichen Wert von Manns Hockeyschläger-Kurve, die einen
immer stärkeren Temperaturanstieg vorhersagte (allerdings auf einem Mix
aus Messmethoden und einer angreifbaren Modellierung beruhte). Die Zeit,
das als kleiner Einschub, widmete Mann 2012 ein einfühlsames Porträt
(„Die Klimakrieger“), in dem zwei Autoren Angriffe von Politikern und
Lobbyisten auf ihn nachzeichneten,
die es tatsächlich gab, in dem sie aber die wissenschaftliche
kontroverse um seine Kurve einfach wegließen. Außerdem verrieten sie,
ohne es zu merken, dass sie Manns Arbeiten nie richtig gelesen hatten:
In ihrem Text schrieben sie mehrfach, der Klimatologe hätte Baumrinden
benutzt, um Temperaturen vergangener Zeiten zu rekonstruieren. Richtig
wäre gewesen: Baumringe. Für ihren Artikel erhielten beide den
Reporterpreis.
Es gibt in zentralen Fragen unter Wissenschaftlern
nicht den ganz überwiegenden Konsens und die marginale Abweichung,
sondern eine ausgeprägte Vielstimmigkeit, ob unter Klimaforschern oder
Medizinern. Außerdem setzen sich in der Wissenschaft Thesen nicht per
Abstimmung durch. In der Wissenschaftsgeschichte finden sich viele
Forscher, die ihre Theorien als krasse und heftig abgelehnte Außenseiter
ihres Fachs entwickelten. Alfred Wegeners These der
Kontinentalverschiebung wurde zu seinen Lebzeiten verlacht, Ignaz
Semmelweis, Pionier der evidenzbasierten Medizin, starb als fast
einhellig von Ärzten abgelehnter Sonderling in der Psychiatrie. Der
Biochemiker Günter Blobel vertrat mit seiner Theorie vom Eiweißtransfer
zu den Körperzellen lange eine Außenseiterposition, bis seine
experimentellen Beweise schließlich anerkannt wurden. Im Jahr 1999 bekam
er den Nobelpreis für Medizin.
Bei Wissenschaftsjournalisten, die
sich vor allem an Mehrheiten halten und für ausgewählte Theorien die
Diskussion einschränken möchten, hätte es ein Wegener und ein Semmelweis
heute keinen Deut leichter als im 19. Jahrhundert.
Ein blinder Fleck wird zum blinden Feld
Die
Wissenschafts-Berichterstattung in der Covid- und der Klimadebatte
ähneln einander auffallend – und zwar in schlechter Weise. Erstens
bilden etliche Journalisten – nicht nur Schneider in der Zeit –
nicht die Vielfalt der Stimmen ab und wägen die Argumente, sondern
schneiden sich immer wieder das Bild von der überwältigenden
Wissenschaftlermehrheit und den Außenseitern zurecht. Außerdem übersehen
sie auch noch, dass Einzelne richtig und viele falsch liegen können.
Und wie in der Klimadebatte zahlen sie aufmerksamkeitsökonomische
Prämien für diejenigen, die sich möglichst dramatisch und apokalyptisch
äußern – am besten noch verbunden mit gesellschaftlichen Forderungen,
die der Journalist sowieso schon gut findet.
Ein blinder Fleck
weitet sich schnell zum blinden Feld, wenn Wissenschaftler nicht um die
Kontinental- oder der althochdeutschen Lautverschiebung streiten,
sondern über Themen mit ideologischem Unterbau. Also auf den Gebieten
Covid-19, Klima, Rassismus, die Schneider nennt. Die Aktivisten von „ZeroCovid“
etwa verbinden die Bekämpfung eines Virus mit großräumigen
gesellschaftlichen Steuerungs- und Umbaufantasien. Interessanterweise
ähneln sie bis in Details großen Transformationsplänen, die der
Klimaerwärmung Einhalt gebieten sollen. Kaum etwas wirkt in einer
säkularisierten Gesellschaft so gut wie die Berufung auf „die
Wissenschaft“, die passende Stichworte für politische Entwürfe liefert.
Der
nächste Schritt besteht in der Rückkopplung: der politischen Forderung,
die dafür passenden wissenschaftlichen Thesen der Debatte zu entziehen,
zumindest die Debatte deutlich einzuschränken. Die Öffentlichkeit und
seine Kollegen, belehrt Schneider, dürften natürlich noch ein bisschen
mitdiskutieren, sie müssten allerdings darauf achten, sich „mit den
eigenen politischen Aussagen und journalistischen Nachfragen im
wissenschaftlichen Referenzrahmen zu bewegen.“
Das ist aus
zweierlei Gründen Unfug: Erstens, weil sich eine Maja Göpel, eine
Melanie Brinkmann oder ein Stefan Rahmstorf mit ihren weitreichenden
Forderungen für die Gesellschaft selbst nicht mehr im
„wissenschaftlichen Referenzrahmen“ bewegen, sondern im allgemein
politischen. Und zweitens, weil der Referenzrahmen auch innerhalb des
wissenschaftlichen Betriebs fast immer viel größer ist, als ihn Leute
wie Schneider ziehen möchten. In der Covid-Lockdown-Debatte liegt ein
riesiges Feld zwischen Ioannides und Brinkmann, in der Klimaprognostik
eine gewaltige Strecke zwischen Rahmstorf und Curry. In dem Streit um
Rassismus und Gesellschaft gibt es nicht nur die lauten
Identitätspolitiker an den US-Universitäten, sondern beispielsweise auch
den (heftig angegriffenen) Ökonomen Thomas Sowell.
Mit anderen Worten: Das Debattenfeld ist in Wirklichkeit so weit, dass
der Begriff „Rahmen“ wenig Sinn ergibt – es sei denn, jemand möchte in
Wirklichkeit einen Korridor seiner Wahl darin abstecken.
„Wissenschaftliche
Befunde sind keine Meinungen“, schreibt Schneider. Ja, tatsächlich,
wissenschaftliche Befunde sind keine Meinungen. Beide unterscheiden sich
kategorial. Zum Bereich der Meinungen gehören auch viele nicht
widerlegbare und deshalb nicht sinnvoll diskutierbare Aussagen, etwa der
oben erwähnte Satz „Gott ist groß“. Wissenschaftliche Befunde zeichnen
sich eben dadurch aus, dass sie diskutierbar und widerlegbar sind, und
oft genug auch widerlegt werden. Aussagen von Wissenschaftlern sind in
der Geschichte fast nie durch eine Aushandlung mit der restlichen
Gesellschaft beiseite geräumt worden, sondern praktisch durchweg durch
andere Wissenschaftler. Alle soliden Bestandteile der
Wissenschaftsgebäude haben das Feuer der Widerlegungsversuche hinter
sich. Kein Wissenschaftler, der seine Tassen im Schrank hat, wird seine
Befunde deshalb zu undiskutierbaren Aussagen erklären.
Schneider
folgert aus dem richtigen Satz „wissenschaftliche Befunde sind keine
Meinungen“ aber das genaue Gegenteil: wissenschaftliche Befunde sollen
seiner Meinung nach besonders geschützt werden. Wovor eigentlich? Die
von ihm genannten und favorisierten Wissenschaftler, meint Schneider,
reagierten „völlig zu Recht genervt“ auf Widerspruch. Übrigens auch, was
er interessanterweise nicht erwähnt, auf Wissenschaftskollegen mit
gegenteiligen Ansichten.
Es sollten deshalb, so der Zeit-Autor,
bestimmte Urteile nicht in Frage gestellt und Widerlegungsversuchen von
vorn herein Grenzen gezogen werden. „Das gebietet die intellektuelle
Lauterkeit: nicht daran zu zweifeln, dass zum Beispiel klimatische
Veränderungen stattfinden, die erhebliche gesellschaftliche Probleme mit
sich bringen werden“, schreibt Schneider. Nun handelt es sich um einen
schwammigen, sehr allgemein formulierten Satz. Was sind beispielsweise
„erhebliche gesellschaftliche Probleme“? Weiter oben hieß es bei ihm
schon etwas deutlicher: Eine „Katastrophe“, bei der das Überleben der
Menschheit „unter halbwegs vergleichbaren zivilisatorischen Bedingungen“
in Frage steht.
Aber egal, wie jemand diese Probleme definiert: Wem schadet eigentlich der Zweifel, den der Zeit-Autor
unterdrückt sehen möchte? Wissenschaftler wie Maja Göpel und
Hans-Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
argumentieren, nur ein radikaler gesellschaftlicher Umbau mit weniger
Konsum und mehr Lenkung und Kontrolle könnte eine globale
Klimakatastrophe noch aufhalten. Es gibt andere, etwa Hans von Storch
und Judith Curry, die grundsätzlich meinen, dass sich die Menschheit
auch an eine um seit 1860 um 1,5 Grad erhöhte Durchschnittstemperatur
anpassen kann.
Die kommenden gesellschaftlichen Probleme durch
eine Klimaerwärmung sehen sie jedenfalls nicht als so gravierend an,
dass sie eine ganz neue Gesellschaftsordnung mit tiefen Eingriffen in
individuelle Rechte für nötig halten. Auch der Umbau einer Gesellschaft
kann in eine Katastrophe münden. Warum soll also „die intellektuelle
Lauterkeit“ den Zweifel an einer bestimmten politischen Wortmeldung
verbieten? „Gesellschaftliche Probleme“ – da befinden wir uns nicht mehr
im Labor oder Hörsaal, sondern auf offenem Feld.
In ihrem toten
Winkel fällt Kommentatoren wie Schneider merkwürdigerweise nie auf, dass
sie ja selbst zweifeln: beispielsweise an der Sicht aller
Wissenschaftler, die keine Klimaapokalypse zeichnen. Denn heimlich
halten sie diese Apokalypse schon für bewiesen, auch wenn augenblicklich
noch der Beweis fehlt. Ihr Schutz vor Zweifel und ihre Warnung vor zu
grundlegenden Nachfragen bezieht sich nie auf alle Wissenschaftler (an
dieser Stelle verschwindet die Strohpuppe namens die Wissenschaft plötzlich wieder von der Bühne), sondern immer nur auf ausgewählte.
Bei
Schneider besitzt die Virologin Melanie Brinkmann das Vorrecht, genervt
auf Zweifel und Nachfragen zu reagieren, aber kein Hendrik Streeck oder
John Ioannidis. So, wie die Zeit seinerzeit, siehe oben, den
Angriffen auf Michael Mann einen langen und einseitigen Artikel widmete –
während ganz ähnliche Attacken auf Judith Curry, die sich wegen
feindseliger Reaktionen auf ihre Veröffentlichungen 2017 aus dem Universitätsbetrieb zurückzog, in den wenigsten Medien behandelt wurden.
Eine Pointe liegt darin, dass Curry trotzdem nie verlangte, nicht oder nur noch in einem bestimmten Referenzrahmen befragt und attackiert zu werden.
Für die von ihm aufgezählten Wissenschaftlerinnen fordert Schneider eine Art safe space,
die man sich als kritikreduzierte Zone mit Warnschild und Aufpassern
vorzustellen hat: „Die Frage ist daher nicht, wie genervte Expertinnen
‚besser’ kommunizieren könnten, damit sie nicht als arrogant, verstockt
oder gar autoritär missverstanden werden. Die Frage ist vielmehr, wie
sich dafür sorgen ließe, dass sie gar nicht erst genervt sein müssten.“
Dafür
gibt es nur ein Mittel: sich gar nicht erst in die Öffentlichkeit
begeben. Wer das tut, egal ob als Wissenschaftler, Autor oder Politiker,
macht sich zum Gegenstand der Kritik. So lautet die Spielregel,
zumindest in einer offenen Gesellschaft, in der eben nicht einige
gleicher sein können als andere. Wissenschaftler riskieren es
zusätzlich, dass ein Kollege seine Theorie vom Sockel stößt. Manchmal
erledigt schon die Zeit diese Arbeit, beispielsweise, wenn es um
Prognosen geht.
Wissenschaft mit Weihrauchduft
Schneiders Text in der Zeit
ist ein Symptom, genau so wie der Redaktions-Tweet von der
Nichtdiskutierbarkeit bestimmter Forschungsergebnisse. Zurzeit arbeitet
eine breite Allianz von Journalisten über Aktivisten bis zu Politikern
wie Merkel daran, ein hybrides Monstrum zu schaffen: Es soll im
wissenschaftlichen Duktus sprechen, aber die Unantastbarkeit eines
religiösen Führers besitzen. Und passenderweise politische Programme
verkünden, die andere ihm schon einmal vorsorglich auf den Sprechzettel
notiert haben. Auf seiner Stirn trägt der Homunkulus einen Zettel mit
der Aufschrift: Die Wissenschaft. Wer immer behauptet, die Wissenschaft sage dieses und jenes, und dazu Weihrauch aufsteigen lässt, der betrügt.
Ihre
besondere Stellung besitzen Wissenschaftler in der Gesellschaft gerade
deshalb, weil der Wissenschaftsbetrieb im Normalfall alles durch das
Säurebad der Kritik schickt. Und weil er normalerweise ihren inneren
Regeln folgt, statt politische Aufträge auszuführen. In der letzten Zeit
tauchte in Texten besorgter Medienschaffender und einiger
Wissenschaftler der Begriff „Wissenschaftsfeinde“ auf; gemeint ist: Der
Leugner, der Populist, selbstredend bis eben noch auch der nach Schwefel
riechende Donald Trump. Keiner aus dieser Trias könnte den
Wissenschaftsbetrieb ernsthaft antasten. Das schaffen nur einige im
Inneren – und toxische Wissenschaftsfreunde wie Schneider von außen. Die
einen, in dem sie Auftragsarbeiten verrichten wie jene Wissenschaftler,
die nach Vorgaben des Bundesinnenministeriums 2020 ein Panik-Papier zu
Covid-19 verfassten und mit einer Million Toten in Deutschland drohten.
Es gibt auch andere, die ihre Reputation als Wissenschaftler gegen ein
Linsengericht von Fördergeldern tauschen (was sich bekanntlich nicht
rückgängig machen lässt).
Die anderen, wohlmeinende Begleiter in der Zeit
und anderswo, wollen zum vorgeblichen Schutz von Wissenschaftlern
gerade das abwracken, was Wissenschaft ausmacht. Wissenschaft und
Religion lässt sich nicht aus einer Hand haben. Bekanntlich versuchten
die Herrscher des Ostblocks das Hybridwesen Wissenschaftlicher Sozialismus
zu züchten. Ihm ging es wie vielen Kreuzungsversuchen: Es pflanzte sich
nicht fort, und siechte dahin. Trotzdem bemüht sich Greta Thunberg, das
gleiche etwas anders noch einmal zu probieren: mit dem Ruf: join unite behind the science, kombiniert mit dem Prophetendonner how dare you?
Ehrlicherweise hätte die Zeit-Redaktion
den Tweet vom Nichtdiskutierbaren stehen lassen sollen. Denn er fasst
zusammen, was zurzeit viele gern hätten. Bei Albert Einstein lässt sich
nachlesen, wie man es nennt, wenn jemand immer wieder das gleiche tut,
und jedes Mal andere Ergebnisse erwartet. Wendt