Gehorchen solche epochalen Umwälzungen geschichtlich-gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten? Und kann man die sie begleitenden Katastrophen und Tragödien verhindern, wenn man diese Gesetze kennt?
Die italienische Historikerin Benedetta Craveri hat mit ihrem Buch „The last Libertines“ ein faszinierendes und reiches Porträt der Endzeit der französischen Monarchie geschaffen. Anhand von sieben Zeitzeugen lässt sie eine untergegangene Welt nochmals lebendig werden. Die sieben Protagonisten sind Angehörige der aristokratischen Oberschicht, meist schon als Kinder soldatisch ausgebildet, später in diplomatischen Diensten tätig, bekannt oder verwandt mit den Adelshäusern in ganz Europa, reich, privilegiert, weltläufig und – laut Craveri – charakterisiert durch „erlesene Höflichkeit, elegante Manieren, unerschütterliche Freundlichkeit und Treue zu ihrer aristokratischen Kultur.“
Letztere wurde durch strikte Codes geregelt. Als vulgär und ehrlos galt es – vor allem in Anwesenheit von Untertanen –, die Kontrolle über seine Emotionen und Impulse zu verlieren. Als Madame du Barry, nach Madame du Pompadour die letzte offizielle Mätresse von Ludwig XV., von den jakobinischen Blutrichtern aufs Schafott geführt wurde, habe sie geschrien und gebettelt und getobt. Als Tochter aus einfachem Volk habe sie eben keinen Sinn für aristokratischen Stolz gehabt, gibt Craveri die kühle Reaktion von adligen Zeitgenossen wieder. Ehrenvoll und stilgerecht verhielt sich hingegen der Herzog von Lauzun, einer von Caveris Protagonisten. Er soll seinem Henker freundlich einen Drink angeboten und gemeint haben: „Ihr braucht gewiss Kraft für Euer Gewerbe.“
Strenge und raffinierte Regeln galten auch in der libidinösen Sphäre. Heiraten dienten nüchternen dynastischen und geschäftlichen Interessen. Liebe und Leidenschaft wurden von Männern wie Frauen in vielfältigen außerehelichen Affären und Liaisons ausgelebt. Zeitgenössische Tagebücher, intime Memoiren, romantische Korrespondenzen, Briefromane, Gedichte zeugen von einem aristokratischen Kanon, der die Macht der Erotik, das sinnliche Abenteuer, „die Süße des Lebens“ (Talleyrand) feierte und die Verführung zu einer subtilen Kunstform entwickelte.
Bemerkenswert ist, dass Craveris Libertins wie viele ihrer Standesgenossen mit den Ideen der Aufklärung sympathisierten und die amerikanische Revolution unterstützten. Sie wussten um die desaströse Ökonomie des Feudalstaates und um die Notwendigkeit politischer und moralischer Reformen. Und sie applaudierten, als das Stück „Die Hochzeit des Figaro“ von Beaumarchais, eine subversive Verhöhnung der Adelsherrschaft, aufgeführt wurde. Doch keiner von ihnen konnte sich vorstellen, dass nur acht Jahre später König Louis XVI. unter dem Gejohle des Plebs öffentlich geköpft, tausende von Aristokraten erschlagen, gejagt, ausgeplündert und ihre Kultur für immer von der Welt verschwinden würde.
Es ging ihnen ähnlich wie in der jüngeren Geschichte den Völkern der Sowjetunion oder des Iran. Beide Länder implodierten so unerwartet wie plötzlich. Und ebenso verblüffend verlief deren weitere Entwicklung. Das riesige, für die kommunistische Ewigkeit gebaute Sowjet-Imperium zerfiel relativ unblutig in eine Vielzahl neuer Staaten, darunter viele Demokratien. Der Sturz der persischen Monarchie hingegen wurde zum Geburtshelfer für einen archaischen, totalitären Islam, der die Welt seit Jahrzehnten mit frommem Terror überzieht.
Die Geschichte folgt keinem Gesetz, keinem höheren Ziel, keinem Sinn. Sie verläuft chaotisch, gleicht einer Geisterbahn, ist nicht vorhersehbar. Zwar erinnert beispielsweise die Situation in den USA in vielem an die Zustände im revolutionären Frankreich. Die stärkste Volkswirtschaft der Welt lebt auf Pump; durch das soziale Gewebe geht ein tiefer Riss; eine starke neojakobinische Bewegung versucht, ermutigt von einer dekadenten kulturellen, intellektuellen, politischen und technologischen Elite, die nationale Geschichte neu zu schreiben und alle Spuren der angeblich zutiefst rassistisch verderbten Verfasstheit des Landes respektive des weißen heterosexuellen Mannes auszumerzen; das Vertrauen in die demokratischen Institutionen ist auf bedenklich tiefem Niveau etc.
Doch Historie wiederholt sich nicht. Unzählige, nicht berechenbare Faktoren, vorab die Unberechenbarkeit des menschlichen Subjekts selbst, schaffen laufend neue unbekannte Ursachen, die ihren Gang bestimmen. Die gute Nachricht: „Niemand ist mächtig genug, die menschliche Geschichte unter Kontrolle zu bringen.“ Die schlechte: „Der Preis der Abwesenheit von Kontrolle ist die permanente Möglichkeit von hässlichen Überraschungen.“ (Theodore Dalrymple) Eugen Sorg
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.
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