Polen steht an der Spitze einer europäischen Konterrevolution
Nicht nur Visegrád-Staaten stellen das Primat des EU-Gerichtshofs in Frage. Das Ziel der „immer engeren Union“ stößt zunehmend auf Widerstand.
Was geht in den Köpfen von Politikern und Journalisten vor, die sich anmaßen, den Polen, den Ungarn und den Slowenen Lektionen in Sachen Demokratie und Rechtsstaat zu erteilen? Sollten nicht gerade Österreicher und Deutsche verbal abrüsten, statt Öl ins Feuer zu gießen? Die Betroffenheitsgesten und Schuldbekundungen der Nachkommen ob der Verbrechen, die ihre Groß- und Urgroßeltern in diesen Ländern begangen haben, verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn man ihnen droht und ihre Regierungen erpresst.
In dem aktuellen Konflikt mit Polen geht es um die Frage des Vorrangs des EU-Rechts vor dem nationalen Recht, einschließlich des Verfassungsrechts. Dieser Vorrang ist nicht in den EU-Verträgen festgelegt, sondern folgt aus der Rechtsprechung des EuGHs („case law“). Allerdings gibt es eine Erklärung der Regierungskonferenz, die dem Lissabon-Vertrag beigefügt wurde. Darin heißt es, „dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.“ Dieser Vorrang gilt für jene Bereiche, die der Union von den Mitgliedsstaaten überlassen wurden.
So weit, so klar. Polen hat den Lissabon-Vertrag ratifiziert und hat daher den Vorrang des EuGHs vor dem eigenen Verfassungsgerichtshof zu respektieren. Eigentlich sollte das auch für Deutschland gelten, dessen Bundesverfassungsgericht das Anleihekaufprogramm der EZB in Teilen für verfassungswidrig erklärte, das der EuGH genehmigt hatte. Polen beruft sich allerdings vergeblich auf das deutsche Beispiel, denn in der EU gibt es Mitgliedsländer erster, zweiter und dritter Klasse.
Das europäische Recht war von Anfang an politisches Recht, weil es sich eine immer weiter gehende Integration zum Ziel setzt. In Artikel 1 definierte sich der Lissabon-Vertrag mit gutem Grund als „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“. Die EU, sagte Romano Prodi einmal, sei wie ein Fahrrad, das umfällt, wenn man nicht ständig in die Pedale tritt.
Brisant an dem Konflikt ist, dass nicht nur Polen dem EuGH das Recht abspricht, als letzte Instanz die rechtsstaatliche Qualität der Mitgliedsländer zu beurteilen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht plädiert für einen „konstitutionellen Pluralismus“, der in einem permanenten Dialog Konsens herzustellen versucht, statt einfach das Primat des EuGHs zu akzeptieren. Michel Barnier, einst Brüssels super-europäischer Brexit-Chefunterhändler, ruft Frankreich dazu auf, sich nicht länger den Urteilen des EuGHs zu unterwerfen, sondern sich die „rechtliche Souveränität“ zurückzuholen. Sind jetzt auch schon Barnier und die deutschen Verfassungsrichter gefährliche Brandstifter wie die Ministerpräsidenten Polens, Ungarns und Sloweniens?
Es liegt auf der Hand, dass das polnische Verfassungsgericht das Modell der europäischen Integration in Frage stellt, in dem Richter den gewählten Politikern den Weg in eine „immer engeren Union“ vorschreiben. Die EU bekommt es mit einer veritablen demokratischen Konterrevolution zu tun, die das alte, nur scheinbar gelöste Problem der nationalen Souveränität in einem Staatenbund zur Diskussion stellt. Diese Konterrevolution geht von den Visegrád-Staaten aus, gewinnt aber auch in anderen Mitgliedsländern an Unterstützung.
Auf den EuGH trifft zu, was für alle Gerichte gilt, die sich politische Funktionen anmaßen: Er verliert an Legitimität. Die Erosion seiner Autorität wird anhalten, weil sich ihm weder Deutschland noch Polen bedingungslos unterordnen werden. Es wird sich zeigen, ob die EU an der „immer engeren Union“ festhält, oder den Mitgliedsländern nachgibt, die Teile der abgetretenen Souveränität zurückfordern. Karl-Peter Schwarz in "Die Presse"
Und Posener fügt hinzu
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