Stationen

Montag, 11. April 2022

Neobismarckismus comme il faut

Wer sich vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges auf Bismarck und seine Rußland-Politik beruft, tut das vernünftigerweise in dem Wissen, daß dem „Eisernen Kanzler“ Naivität, Gutgläubigkeit und politische Romantik fernlagen. Bismarck und seine Realpolitik sind Thema des 1940 erschienenen Buches „Deutschland zwischen Rußland und England“ des Historikers Wilhelm Schüssler (1888–1965). Der Untertitel lautet: „Studien zur Außenpolitik des Bismarckischen Reiches 1879–1914“.
Der Autor läßt keinen Zweifel daran, daß Bismarck in Rußland einen anstrengenden, ja gefährlichen Nachbarn gesehen hat. Sein Bestreben sei es stets gewesen, das Reich „vor russischen Unberechenbarkeiten“ zu sichern. Wie prinzipienfest und gleichzeitig elastisch er vorging, hat der Historiker Hans-Christof Kraus kürzlich in dieser Zeitung aufgelistet („Gegen Rußland eisern bleiben“, JF 9/22).
Der Revanchismus Frankreichs in der Elsaß-Lothringen-Frage stellte eine unaufhebbare Konstante und eine ständige Verlockung für Rußland dar, das Reich in die Ost-West-Schraubzwinge zu nehmen. Der Rückversicherungsvertrag von 1887, in dem Rußland und Deutschland sich für den Fall eines unprovozierten Angriffs durch Dritte gegenseitig Neutralität zusicherten, milderte den Druck, der vom „Albtraum der Koalitionen“ ausging. Um ihn weiter zu verringern, begann Bismarck 1888 ein Bündnis mit England zu sondieren, das im östlichen Mittelmeer und im Orient im Konflikt mit Rußland lag.
Der Rückversicherungsvertrag, der zwar geheim, aber in London bekannt war, sandte wiederum die Botschaft aus, daß das deutsche Angebot nicht aus Schwäche, sondern aus der Position relativer Stärke erfolgte. Nach Abwägung der Chancen und Risiken wies Premierminister Lord Salisbury das Angebot zurück. Nicht prinzipiell, sondern für den Moment und unter Hinweis auf Widerstände im Parlament. In der Zukunft könnten jedoch Umstände eintreten, die London nahelegten, auf das Angebot zurückzukommen.
Das war, so Schüssler, auch Bismarcks Kalkulation gewesen, weshalb die ablehnende Reaktion ihn weder überraschte noch deprimierte. Er rechnete damit, daß sich die Konflikte zwischen England und Rußland zuspitzen würden.

Bismarcks Nachfolger faßte 1890 den fatalen Entschluß, das Abkommen gegen den Wunsch Rußlands nicht zu erneuern in der Erwartung, England würde das als Vertrauensbeweis goutieren und sich nun zum Bündnis bereitfinden. Schüssler: „Es war eben die furchtbare Tragik, daß die Männer des neuen Kurses die inneren Zusammenhänge des Bismarckischen Kurses nicht kannten (…) Bismarck wußte: es gab kein besseres Mittel, um England an Deutschland heranzubringen, als deutsch-russische Vertragsbeziehungen.
Es kam, was kommen mußte; Rußland verbündete sich mit Frankreich, und als 1898 neuerliche deutsch-englische Sondierungen begannen, verhandelte die deutsche Seite aus der Position der Schwäche, denn England hatte die Partnerwahl, Deutschland nicht. Die Briten konstatierten, daß das Reich sich in gefährdeter Lage befand und ein Bündnis mit ihm sich als Verlustgeschäft erweisen würde.
Premierminister Salisbury resümierte: England stünde in der Pflicht, die Grenzen Deutschlands und Österreichs gegen Rußland zu verteidigen. Deutschland hingegen könne nur bieten, England gegen einen – äußerst unwahrscheinlichen – Angriff Frankreichs zu unterstützen. Schüssler faßte zusammen, England habe das von Deutschland gewünschte Bündnis abgelehnt, „weil es dies Bündnis nicht nötig hatte“. Der Satzteil ist im Original gesperrt gedruckt.

Sechzig Jahre später wiederholte der britische Historiker Niall Ferguson in seinem Buch „Der falsche Krieg“ Schüsslers Ausführungen fast wörtlich: Der Grund für das Scheitern des deutsch-englischen „Bündnisprojekts lag nicht in der Stärke, sondern in der Schwäche Deutschlands“.
England hätte seine Beziehungen zu Rußland und Frankreich kompromittiert, ohne einen Mehrwert daraus zu ziehen, denn „trotz seines Gepolters war Deutschland schwach“. Tatsächlich saß es mit Österreich-Ungarn allein zwischen den Stühlen. Niemand kann sagen, ob die Geschichte günstiger verlaufen wäre, hätte die deutsche Führung an Bismarcks Kurs festgehalten. Aber schlimmer als es 1914/18 kam, konnte es nicht kommen.
Was Schüsslers Publikation anrührend macht, ist sein Erscheinungsjahr. Denn 1940 zeichnete sich als unabwendbares Schicksal ab, was Bismarcks größte Furcht gewesen war. Deutschland konnte zwar Frankreich besiegen, doch England unter der Führung Churchills erwies sich als unversöhnlicher Todfeind. Und hinter England standen die USA.

Nur scheinbar hielt der Hitler-Stalin-Pakt Deutschland im Osten den Rücken frei, denn Stalin konnte seine Partner wechseln, Hitler nicht. Der Leser, der die Zeitläufe aufmerksam verfolgte, mußte dem Buch ein politisches Todesurteil über Deutschland entnehmen. Laut Schüssler war Bismarcks „eigenstes Macht- und Ehrgefühl (…) vollständig mit dem seines Staates verschmolzen“. Ein schwacher Abglanz davon lag noch auf Kanzler Olaf Scholz, als er sich auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit US-Präsident Joe Biden Anfang Februar im Weißen Haus dem Drängen der Journalisten, sich zu Nord Stream 2 zu äußern, standhaft verweigerte.
Doch Biden ließ alle diplomatische Höflichkeit fallen und stellte in demütigender Weise klar, bei wem die Entscheidungsgewalt liegt. Im Fall einer russischen Invasion der Ukraine, erklärte er, „wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.“ Auf die Frage, wie er das bei einem Projekt unter deutscher Kontrolle bewerkstelligen wolle, sagte Biden: „Ich verspreche Ihnen, daß wir es schaffen werden.“ Scholz blieb nur übrig, seine öffentliche Herabstufung zum Verwalter deutscher Ohnmacht schweigend zu quittieren.

Die Szene hat einen langen Vorlauf. „In zwei Kriegen besiegt, mit dem Stigma der nationalsozialistischen Vergangenheit belastet, unter Gebietsverlusten und der Teilung Deutschlands leidend, stellte die Bundesrepublik eine wirtschaftliche Einheit dar, die nach einer politischen Aufgabe suchte.“ So erlebte Henry Kissinger vor 50 Jahren die Bonner Republik.
Das wiedervereinte, in die formale Souveränität entlassene Deutschland sieht seine wichtigste Aufgabe darin, die Internationalisierung seines national generierten Sozialstaates voranzutreiben. Seine politische Unfähigkeit richtet jetzt auch die Wirtschaft zugrunde. Die ökonomischen Kollateralschäden, die der Westen mit den Rußland-Sanktionen auslöst, betreffen meistenteils Deutschland. Seine Energiepolitik wird zwischen Washington, Brüssel, Warschau und Kiew entschieden, assistiert von grünen Ideologen in Berlin. Und offenbar haben die Polen, als sie den Amerikanern anboten, russische MiG-29-Maschinen über die US-Luftwaffenbasis in Rammstein an die Ukraine zu liefern und mit dieser riskanten Aktion deutsches Territorium zu touchieren, es nicht für nötig gehalten, Berlin vorab zu informieren. Wie auch Frankreich es nicht für nötig hielt, den Deutschen das Ende ihres Mali-Einsatzes mitzuteilen, in den es sie hineingezogen hatte. Soviel zum Respekt, den die Bundesrepublik bei ihren Partnern genießt.
Eine Wiederholung von Tauroggen und Rapallo sei undenkbar, hat Martin Louis Schmidt geschrieben, und zum sprichwörtlichen Bild von den fünf Kugeln, mit denen Bismarck gleichzeitig jonglierte, angemerkt, daß die russische Kugel heute leichter wiege als die amerikanische, chinesische, europäische oder indoasiatische („Ins Stammbuch geschrieben“, JF 14/22).

Das ist richtig, und es kommt noch schlimmer. Rußland, das „Obervolta mit Atomraketen“ (Helmut Schmidt), aber auch mit gewaltigen natürlichen Ressourcen und Ausdehnungen, wird künftig zum Spielfeld und Reservoir der technisch versierten und effizient organisierten Chinesen werden. Daneben liegt ein zerklüftetes Europa mit einem postpolitischen „Hippie-Staat“ (Anthony Glees) in der Mitte, das in seine Rolle als Provinz und Glacis der USA zurückkehrt.
Der Traum von Europa als eigenständigem „Global Player“ ist am Ende. Die EU wird zur Filiale der amerikanisch dominierten Nato. Putin hat den Weg zur neuen globalen Bipolarität mit seinem Entschluß zum Angriff geebnet. Der russische Bär, der seine Pranke auf die Ukraine niedersausen ließ, hat die angrenzenden Länder in Panik versetzt. Niemand kann es den Osteuropäern verdenken, wenn sie in den USA die einzig mögliche, unverzichtbare Schutzmacht erblicken. Das Tor für eine europäische Ostpolitik ist geschlossen.

Was Bismarck getan hätte, läßt sich selbstredend nur spekulieren. Mit Sicherheit hätte er Deutschland nicht mehr die Kraft zum eigenständigen Akteur, zum „ehrlichen Makler“, zugetraut. Aber er hätte vorgebaut und ab 1990 die Führung bei der Schaffung eines europäischen Staatenbundes übernommen, der stark genug ist, seine Sicherheitsinteressen gegenüber Rußland zu gewährleisten, ohne sich mit den geopolitischen Ambitionen der USA gemein zu machen.
Er hätte versucht, aus der Mitte des Kontinents die unterschiedlichen Interessen der Staaten zusammenzuführen, immer in dem Bewußtsein, daß Führung nicht heißt, die Interessen des eigenen Landes zu negieren. Vielmehr hätte er sich intensiv um dessen geistig-moralische Konsolidierung bemüht. Und gewiß hätte er von keinem Dritten sich die Rußland-Politik diktieren und Europas Zugriff auf russische Ressourcen verwehren lassen.
Doch in der Realität wollte Deutschland Europa nicht gestalten, sondern in ihm verschwinden. Deshalb ist der Euro statt zum Instrument der Führung zum Mittel seiner Geiselnahme geworden. Der damalige EZB-Präsident Mario Draghi sagte im Jahr 2012: „Im Rahmen unseres Mandats ist die EZB bereit, alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glauben Sie mir, es wird genug sein.“ Nichts anderes sagte sinngemäß zehn Jahre später Joe Biden.
Die Erinnerung an Bismarck ist Trauerarbeit, denn sie gemahnt daran, daß der Begriff „deutsche Außenpolitik“ heute nur noch einen Irrealis, einen irrealen Wunsch, bezeichnet. Der Ukraine-Krieg wird die Unmöglichkeit besiegeln. Wie immer er ausgeht, gehören wir auf jeden Fall zu den Verlierern, und das gleich doppelt: als Europäer in der Welt und als Deutsche in Europa.   Hinz

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