Gunnar Heinsohn in der WELT:
Putins zweiter Völkermord
Putin begeht in der Ukraine bereits seinen zweiten Völkermord, schreibt Gast-Autor Gunnar Heinsohn
Die Ehrung einer russischen Einsatzgruppe von Butscha durch den Präsidenten zeigt, dass die Tötungen nicht nur vorbereitet wurden, also ein Genozid sind, sondern auch weitergehen sollen. Das Muster ist aus der Geschichte bekannt. Die Ukrainer wissen mithin, was ihnen bei einer Niederlage bevorstehen würde.
Wladimir Putin ist der Erste, der nach einem Völkermord – 1999 bis 2009 in Tschetschenien – jetzt unter dem Vorwand der Unterbindung eines vermeintlichen Völkermordes – an Russen in der Ostukraine – seinen zweiten Völkermord in Angriff nimmt.
Putin hat offensichtlich recherchiert, ob es einen legalen Grund für einen Angriffskrieg gibt. Seine Juristen konnten ihm nur die UN-Völkermordkonvention nennen. Ihre Unterzeichnerstaaten – mit Russland sind es 147 – sind gemäß Artikel 1 verpflichtet, einen Völkermord zu „verhüten“, also nicht nur zu bestrafen. Schon für die Verhinderung eines gewöhnlichen Bürgerkrieges gibt es keine derartige Verpflichtung. Putins Genozid-Vorwurf gegen die Ukraine sowie das strikte Vermeiden der Begriffe „Krieg“ oder „Invasion“ erklären sich aus seiner Suche nach einer Beschönigung seines ungeheuerlichen Vorhabens.
Völkermord benötigt wie jeder Mord Absicht und Planung. Ein spontanes Massaker kann 1000 Menschen töten, ist aber juristisch ein massenhafter Totschlag. Ein vorbereiteter Völkermord kann nach 100 Toten gestoppt werden, und dennoch sind diese Hundert Völkermordopfer. Juristisch ist der Unterschied wichtig.
Völkermord liegt auch dann vor, wenn lediglich ein Teil der betroffenen Gruppe getötet werden
soll. Rafael Lemkin, ein Pole jüdischer Herkunft, hatte als Verfasser der Völkermordkonvention bewusst den Begriff „Teil“ ins Gesetz geschrieben, weil er für zwei Fälle Zeitzeuge war.
Im September 1939 begann die Ermordung der polnischen Bildungsschichten („Intelligenzaktion“) durch Deutsche. Wegen dieser Morde in Polen begann – 22 Monate vor dem Holocaust – Abwehr-Chef Canaris seinen Widerstand gegen die SS, die ihn dafür im April 1945 in Flossenbürg erhängte. 1940 folgte die Ermordung der polnischen Offiziere und Beamten durch Russen in Katyn und anderen Orten. Beide Großtötungen sollten die Kultur vernichten, damit die Restbevölkerung versklavt oder germanisiert bzw. russifiziert werden konnte. Einen der Unterzeichner des Mordbefehls von Katyn, Michail Kalinin, ehrt Russland bis heute als Namensgeber des einst deutschen Königsbergs.
Warum und wie betreibt Putin seit dem zweiten Tschetschenienkrieg Völkermord? Er will dem russischen Imperium das Schicksal der westlichen Reiche ersparen. 1998, ein Jahr bevor er Ministerpräsident wurde, war er Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB und baute eine Spezialabteilung für die Erhaltung des Reiches auf. Deren Agenten sollten in den ehemaligen Sowjetrepubliken Bedingungen für ihre Rückkehr unter Moskaus Macht schaffen.
Einst hatten Spanier, Niederländer, Belgier, Franzosen und Briten ebenfalls versucht, ihre Reiche durch Gewalt zu erhalten, haben nach 1945 in den Kolonien aber alle Kriege verloren. Auch sie begingen Massaker und zerstörten Kulturgüter. 1974 waren die Imperien mit dem Verlust der portugiesischen Kolonien erledigt.
Auch in Westeuropa versuchte man, verlorene Reiche zu retten
Frankreich kam bei diesem Untergang einem Bürgerkrieg am nächsten. Präsident Charles de Gaulle überlebte 1961 und 1962 zwei Mordversuche rebellierender Offiziere. Nach Jahren des Blutvergießens entließ er Algerien dennoch in die Unabhängigkeit. Das nordafrikanische Territorium ähnelte damals einer französischen Ukraine: Jeder sechste Bürger war Franzose. Den Verlust der geliebten Heimat beantworteten verjagte Franzosen mit dem Abbrennen von Schulen. Selbst die größte Bibliothek – sie gehörte zur Universität von Algier – ging in Flammen auf.
Warum scheiterten diese Versuche, Reiche zu retten? Die Europäer verstanden nicht, warum sie zuerst 90 Prozent der Erde unterwerfen konnten und weshalb sie jetzt nur noch verloren. Durch die Bestrafung von Geburtenkontrolle hatten sie 450 Jahre lang sechs bis acht Kinder pro Frau und damit mehr Menschen zur Verfügung, als sie beim Erobern und Besiedeln auf anderen Kontinenten verloren. Ab den 1960er-Jahren jedoch hatten sie nur noch zwei Kinder pro Frau, die Unterworfenen hingegen sechs bis acht. Ab 1970 – zuerst in Deutschland – fiel Europa sogar unter zwei Kinder pro Frauenleben.
Die Russen erlebten dasselbe Schicksal und machten im ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) dieselben Fehler. Sie hatten nicht bedacht, dass die Zaren bis 1914 von global 1000 wehrfähigen Männern rund 100 unter ihrem Kommando hatten. Dadurch wurden sie trotz aller Verluste durch Eroberungskriege und trotz der Abwanderung von Siedlern demografisch immer stärker.
Aufgrund derselben Denkfehler wie im Westen folgte in Tschetschenien auch ein vergleichbares militärisches Fiasko. Boris Jelzin verlor viele Soldaten und den Krieg, weil die tschetschenischen Frauen bei drei bis vier Söhnen zwei in der Schlacht verlieren und dennoch das Weiterleben ihrer muslimischen Familien sicherstellen konnten.
Putin kombinierte zwei Methoden
Putin analysierte Jelzins Scheitern und kombinierte ab 1999 zwei Völkermordmethoden. Er tötete weiterhin Anhänger des tschetschenischen Nationalgedankens. Die zum Russentum Überwechselnden belohnte er fürstlich und gewann so besonders fanatische Anhänger.
Zugleich lernte er von der Guerra sucia (Schmutziger Krieg) der argentinischen Junta der Jahre 1974 bis 1983. Die entführte mindestens 9000 Aktivisten der linken Revolte und ermordete sie. Das beendete diese militante Studentenbewegung. Putin ließ rund 5000 tschetschenische junge Männer entführen (bei einer Gesamtbevölkerung von gut einer Million), die noch gar nicht kämpften, aber ihren älteren Brüdern hätten folgen können. Er ließ sie ermorden und ihre Leichen verstecken. Auf die Bevölkerung Österreichs und der Schweiz umgerechnet wären das 40.000 junge Männer, auf Deutschland 400.000 junge Männer. Der Geburtenvorteil der Unabhängigkeitskämpfer wurde so ausgeschaltet.
Ein derart durchdachter und exekutierter Völkermord ist im 21. Jahrhundert einmalig, er machte Putin überdies zum ersten europäischen Sieger in den Dekolonisierungskriegen nach 1945. Seine Argumente einer angeblichen Nato-Bedrohung oder der slawischen Brüder spielten keinerlei Rolle. Es ging ganz unverstellt um das gewaltsame Festhalten zaristischer Eroberungen. 1859 wurde das Kaukasusland gewaltsam annektiert. Um dessen erbitterten Widerstand zu brechen, ließ Alexander II. mindestens 100.000 Tschetschenen nach Sibirien deportieren.
Nach dem genozidalen Doppelschlag im Kaukasus wetteiferten fast alle westlichen Politiker von Rang um die Gunst des Diktators im Kreml. Warnungen vor allem baltischer und polnischer Opfer und dadurch Kennern Moskaus wurden als reaktionär hingestellt. Hingegen erreichte das russische Nationalgefühl, nicht nur unbesiegbar, sondern auch unbestrafbar zu sein, einen neuen Höhepunkt.
Wie Russland ist auch die Ukraine eine vergreisende Nation mit einem Durchschnittsalter von weit über 40 Jahren. Beide Länder kämpfen mit den zahlenmäßig kleinsten Wehrjahrgängen ihrer demografisch dokumentierten Geschichte. Für das Verständnis von Putins Völkermord sind nicht blindwütige Tötungen oder Vergewaltigungen durch seine Soldateska entscheidend. Sein Hauptziel sind die gebildeten Schichten. Putin wiederholt die Hitler-Stalin-Völkermordvarianten von 1939 und 1940.
Aus diesem Grund werden ukrainische Bürgermeister und ihre Familien verschleppt und getötet. Auch hier ist nicht die Zahl der Ermordeten das Kriterium für einen Völkermord, sondern die erklärte Absicht, die ukrainische Kultur zu vernichten, um den Rest des Volkes der Russifizierung und Kontrolle zu unterwerfen.
In Butscha wurde systematisch gejagt
Selbst wenn Kiew – was ja nicht nur Moskau, sondern auch Washington erwartete – nach zwei Tagen kapituliert hätte und es bei Einmarsch und Besatzung geblieben wäre, hätte die völkermörderische Operation gegen die ukrainische Elite noch lange nicht aufgehört. Gerade weil dieses Tötungsprogramm auch in Washington bekannt ist, offerierte ja US-Außenminister Antony Blinken Präsident Wolodymyr Selenskyj und anderen gewählten Vertretern der ukrainischen Nation Hilfe für die Rettung ihres Lebens.
Putin plante vor dem 24. Februar 2022 die Tötung von Ukrainern besser als den Krieg, da er mit umgehender Unterwerfung rechnete, aber nicht mit dem Verschwinden des ukrainischen Nationalgedankens. Deshalb wurden viele der in Butscha Ermordeten „systematisch gejagt, weil sie lokale politische Führer, Kriegsveteranen aus dem Donbass und Angehörige der territorialen Verteidigung“ waren, wie der „Kyiv Independent“ schreibt. „Um sie ausfindig zu machen, führten die russischen Streitkräfte Listen mit den Namen und Adressen der Personen mit sich.“
So wie 1939 Volksdeutsche bei der Aufstellung von Listen für zu ermordende polnische Ärzte und Lehrer halfen, so gibt es heute unter den Ukrainern lebende Spitzel, die russische Spezialeinheiten zu den Häusern der Opfer führen. Putins militärische Ehrung einer Einsatzgruppe zeigt, dass die Tötungen nicht nur minutiös vorbereitet wurden, also ein Genozid sind, sondern auch weitergehen sollen. Die Ukrainer wissen mithin, was ihnen bei Niederlage oder Kapitulation bevorsteht. Gunnar Heinsohn in "Die WELT"
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