Die Ukrainer bauten der Wehrmacht Triumphbögen aus Ästen und Zweigen, denn der - im Gegensatz zur Shoah - vergessene Holodomor machte Hitler zum Befreier. Aber jetzt, wo ein begabter jüdischer Komiker Präsident ist, der ukrainische Botschafter in Berlin völkische Reden gegen die Russen führt und ukrainische (im Gegensatz zu den in Deutschland als solche verleumdeten Impfgegnern echte) Nazis freier Lauf bei der nationalen Verteidigungsanstrengung gewährt wird, darf der deutsche Bundespräsident nicht nach Kiew. So können Zeiten sich ändern. Ernst Jünger sagte schon in den 90ern, nach dieser Niederlage im Kalten Krieg würden die Russen sicherlich bereits emsig an der Wiedererlangung ihrer Macht arbeiten. Und als ich 1990 hörte, es werde nuklear abgerüstet, war mein erster Gedanke, das bedeute früher oder später die Rückkehr konventioneller Kriege in Europa; in Jugoslawien kam er dann, für mich überraschend, sehr schnell.
Verheugen hat recht! Und er hat Charakter. In dieser hysterischen Stimmung an der Wahrheit festzuhalten, ist ein Wagnis.
Der ehemalige Außenminister unter Boris Jelzin Andrej Kosyrewfordert ein hartes Vorgehen des Westens gegen Putin. „Wenn er sich jetzt durchsetzt, könnte er später Länder wie Polen angreifen“, sagt Andrej Kosyrew – und erklärt, warum der Kalte Krieg für Putins Machtzirkel nie vorbei war.
WELT: Haben Sie mit einem Krieg gerechnet? Mit dieser Brutalität gegen die Zivilbevölkerung, mit Attacken wie in Butscha?
Andrej Kosyrew: Nein. Ich wusste, dass die Leute, die jetzt in Moskau sitzen, sehr aggressiv und repressiv sind, aber diese Skrupellosigkeit hat mich doch überrascht. Das ist einfach zu viel, sogar für sie. Ich wollte nicht glauben, dass Russland zu so etwas fähig sein könnte, habe aber schon vorher gewarnt, dass eine schwache Reaktion als Antwort auf eine Invasion der Ukraine Putin weiter ermutigen werde.
WELT: Und glauben Sie nun auch, dass er zu einer Aggression mit Nuklearwaffen in der Lage ist?
Kosyrew: Ein Angriff mit einer nuklearen Minirakete ist möglich, aber eher unwahrscheinlich. Das Risiko, das so etwas passiert, wäre dann größer, wenn Putin glaubt, der Westen und die Nato hätten vor den Raketen mehr Angst als er selbst. Meiner Ansicht nach sollte die Antwort auf die Aggression jetzt sehr stark sein, was auch bedeutet, dass man der Ukraine die stärksten konventionellen Waffen liefert, die es gibt, um die Russen so davon abzuhalten, den Westen mit einer weiteren Eskalation zu provozieren. Während der 1970er-Jahre hat man keine Atomraketen eingesetzt, weil das Abschreckungsprinzip gar nicht erst infrage gestellt wurde: dass jeder Angriff mit Nuklearwaffen eine sofortige Antwort von der anderen Seite bedeuten würde.
WELT: Seit Beginn der Invasion – wobei die Ukraine eine viel größere Widerstandskraft gezeigt hat, als zu erwarten war – betonen die Analysten immer wieder, dass Putin erst eine Siegesmeldung vorlegen muss, bevor er den Krieg beenden kann.
Kosyrew: Sorgen Sie sich nicht um Putin, sondern lieber um Europa. Er hat die absolute Kontrolle über die Propaganda-Maschinerie in Russland und kann in einer Sekunde eine völlig andere Geschichte erzählen. Das russische Volk, vor allem die Menschen, die sich nur über das Fernsehen informieren, haben keine Ahnung, was tatsächlich in der Ukraine passiert. Deshalb hat er auch keinerlei Probleme mit Erklärungen. Es macht mich richtig krank, wenn ich all diese sogenannten Experten sagen höre, dass man Putin irgendeine Art von Sieg überlassen müsse, damit er sein Gesicht wahren kann. In Europa gibt es viel zu viele Menschen, die jedem vermeintlich positiven Signal aus Moskau Glauben schenken wollen. Das hat man ja bereits 2014 erlebt. Die Sanktionen (wegen der Annexion der Krim, Anm.d.Red.) waren sehr dürftig, und sowohl (Frankreichs Präsident) Macron als auch andere Staatschefs haben die Isolationspolitik schon bald wieder aufgegeben. Wenn er jetzt, mit diesem barbarischen Krieg, wieder durchkommt und die Sanktionen schnell aufgehoben würden, dann wäre die nächste Station ein Nato-Land, eines der baltischen Länder oder vielleicht Polen. Jetzt sollte man sich eher Gedanken darüber machen, ob der Westen seine Lektion gelernt hat.
WELT: Hat sich Europa in den letzten Jahren Putin gegenüber zu nachgiebig gezeigt?
Kosyrew: Es geht noch nicht einmal um Nachgiebigkeit, sondern um eine Beschwichtigungspolitik, wie man sie schon Hitler gegenüber an den Tag legte, als dieser Polen und die Tschechoslowakei überfiel. Winston Churchill sagte damals schließlich: „Nein, es reicht, Schluss mit dem Appeasement. Wir befinden uns im Krieg.“ Und heute ist das westliche Europa, inklusive Spanien im Krieg mit einem aggressiven Russland. Es ist kein heißer Krieg, wie das, was in der Ukraine passiert, weil man den russischen Truppen nicht direkt gegenübersteht, aber auch sie werden von Russland attackiert oder bedroht.
WELT: Wollen Sie damit sagen, man müsse akzeptieren, dass man sich in einem Krieg mit Russland befindet, wenn auch in einer anderen Art von Krieg?
Kosyrew: Ein Kalter Krieg ist kein heißer Krieg, aber doch auch ein Krieg.
WELT: Würden Sie also sagen, dass dies ein neuer Kalter Krieg ist – oder wurde der eigentliche Kalte Krieg gar nicht beendet?
Kosyrew: In den Köpfen der Menschen, die Russland jetzt regieren, hat er nie geendet. Das sind Leute aus dem KGB. Leute, für die die demokratische Revolution der 1990er-Jahre keinen Sieg für das russische Volk bedeutet hat – obwohl es wirklich einer war – sondern eine Niederlage gegen den Westen. Und deshalb führen sie gegen diesen Westen nach wie vor Krieg. Es ist ein Kalter Krieg, der aber – wie man an der Ukraine sieht – auch für andere Nato-Länder sehr schnell zu einem wirklichen Krieg führen kann.
WELT: Sie selbst waren ja während dieser Revolution eine der Hauptpersonen als erster post-sowjetischer Außenminister. Welche Fehler wurden bei diesem Übergangsprozess begangen?
Kosyrew: Es war sehr schwierig damals. Wir haben alle Fehler gemacht. Meine Regierung, ich selbst, die Amerikaner und die Europäer... Es ist eine komplizierte Geschichte, bei der es nicht nur ein Thema gab. Die sogenannte Nato-Expansion ist eine falsche Bezeichnung, denn es hat sie nie gegeben. Es handelte sich nur um eine Reihe von neuen Demokratien, die von der sowjetischen Herrschaft befreit worden waren – wie die Republik Tschechien, Polen, Ungarn und sogar Rumänien – die dann bei der Nato anfragten und Bündnis-Mitglieder werden wollten.
WELT: Haben Sie heute vielleicht auch eher gemischte Gefühle gegenüber Ihrem damaligen Präsidenten, Boris Jelzin?
Kosyrew: Er war damals sehr wichtig. Anfang der 1990er-Jahre habe ich ihn bewundert, weil er gegen den sowjetischen Kommunismus war und den Beginn der Demokratie mutig verteidigte. Danach jedoch war er vielleicht nicht die geeignete Führungspersönlichkeit, denn es war noch nicht an der Zeit, das alte System zu bekämpfen – was er sehr gut gemacht hat – sondern eher der Moment, ein neues Russland aufzubauen. Daran ist er gescheitert, genau wie wir alle. Dann begann er, sich immer mehr zurückzuziehen, weil er den neuen Aufgaben nicht gewachsen war. Vergessen Sie nicht, dass er es war, der Putin zu seinem Nachfolger ernannte. Es wurde im Fernsehen übertragen, als er sagte: „Sie werden mein Nachfolger sein, Herr Putin. Beschützen Sie Russland, Sie sind verantwortlich für Russland“. Putin ist also nicht aus dem Nichts aufgetaucht, er wurde von Jelzin ausgewählt.
WELT: Warum ist das jetzt passiert? Warum hat Putin diesen Krieg begonnen?
Kosyrew: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, sie haben sich verkalkuliert. Erstens dachten sie, die Ukraine sei schwach. Zweitens glaubten sie, sie sei demoralisiert. Möglicherweise hielten sie auch US-Präsident Joe Biden für schwach. Und wahrscheinlich glaubte Putin auch, dass ihm die Zeit davonliefe und er die Kontrolle über die Öl- und Gaslieferungen verlieren könnte, denn Europa hat ja bereits vor dem Angriff an möglichen zusätzlichen Energiequellen gearbeitet.
WELT: Es gab viel Kritik an Joe Biden, weil dieser erklärt hatte, Putin dürfe nicht länger im Amt bleiben.
Kosyrew: Das war eine emotionale Bemerkung, und ich glaube nicht, dass er sich dafür entschuldigen muss. Niemand spricht von einem Regimewechsel, denn darüber hat nur das russische Volk zu entscheiden, und das hat Biden ja selbst mehrmals betont. Doch was er sagte, denkt wahrscheinlich die ganze Welt. Dieser Kerl ruiniert nicht nur die Ukraine, die unser Bruderland ist, sondern auch Russland, und zwar in wirtschaftlicher wie moralischer Hinsicht. Er ist dabei, eine neue, in sich geschlossene und autoritäre Gesellschaft zu erschaffen. Starken Worten muss man allerdings auch starke Taten folgen lassen. Ich halte es für einen Fehler, dass die Nato-Mitglieder dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj keine Militärflugzeuge zur Verfügung stellen, weil sie eine Eskalation fürchten. Das ist lächerlich. Warum fürchtet sich Putin nicht vor der Nato? Warum ist es die Nato, die Angst hat? Angst ist ein schlechtes Gefühl, kontraproduktiv für rationales Denken. Wer Angst hat, der verhält sich wie ein Tier, und Angst ist nicht gut für politische Entscheidungen
Die EU wollte unbedingt abrüsten und gleichzeitig Warschauer Pakt
Staaten aufnehmen. Das geht aber nur, wenn man sich an Russland bindet.
Also entweder die Vereinigten Staaten von Europa paktieren mit Russland
(bzw. eine deutsch-russische Achse schafft die Vereinigten Staaten von
Eurasien) oder die EU wird zu den Vereinigten Staaten von Europa und
rüstet auf, statt sich auf den großen Sohn hinter dem Atlantik zu
verlassen. Da die EU nicht Fisch und nicht Vogel ist und Multitasking
beherrscht wie Anne Spiegel, wurde letzteres versäumt, und jetzt ist es zu spät dafür.
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