Heute ist der 25. April, in Italien der Nationalfeiertag, so tief empfunden, wie bei uns einst der 17. Juni, dessen Abschaffung ich ebenso tief bedaure. Bei der Beurteilung solcher geschichtlicher Wegmarken besteht die Schwierigkeit oft darin, dass tief empfundene Gefühle an der Sichtung der Tatsachen zerren und einer gerechten Gesamtschau bei der Sicht der Dinge entgegenwirken können. Überraschenderweise habe ich aber festgestellt, dass man gerade dann am besten vorankommt, wenn man die Stimme des Herzens ernst nimmt, ihr aufmerksam bei sehr unterschiedlichen Umständen und Sachverhalten lauscht und konsequent mit ihr Ernst macht. Wahrhaftigkeit ist am Ende nichts anderes als kompromisslose Aufmerksamkeit gegenüber dieser inneren Stimme des Gewissens.
Der 25. April war der Tag, an dem in Italien der Krieg zu Ende war, und er wird seitdem ausdrücklich als Befreiung vom Nazi-Faschismus gefeiert. Das geschieht immer noch auf so rethorische Weise, dass eine liberale (auf den Liberalismus und die parlamentarische Demokratie westlicher Prägung eingeschworene) einstige Ministerin Berlusconis vor drei Jahren ausgebuht wurde, weil sie mit ihrem Vater an der zeremoniellen, alljährlichen Demonstration teilnehmen wollte; und das, obwohl ihr Vater während des Faschismus als Oppositioneller im Gefängnis saß. Es handelt sich um die jetzige Bürgermeisterin von Mailand.
Man kann diesen ideologischen Ingrimm nur begreifen, wenn man sich veranschaulicht, dass in diesem Land die Kommunistische Partei jahrzehntelang eine ganz gewöhnliche Bürgerpartei war. Diejenigen, wie der derzeitige hochangesehene Präsident der Republik Napolitano, die einst für die KPI im Parlament saßen und heute immer noch in anderen Parteien sitzen, waren trotz ihrer eleganten, von Armani geschneiderten Anzüge nie das, was wir in Deutschland unter einem Salonkommunisten verstehen. Sie waren erst recht keine Schickeriasnobs, sondern ganz normale Repräsentanten einer der großen bürgerlichen (Gramsci lehrte nicht, wie Marx, die bürgerliche Kultur zu bekämpfen, sondern sie sich anzueignen, sie gewissermaßen zu enteignen) Volksparteien, die noch in den 80-er Jahren, als ich hier meine erste Zeit verbrachte, in jeder Gesellschaftsschicht jeder fünfte Wähler wählte, in Regionen wie Umbrien und Toskana sogar jeder dritte. Kurz gesagt: so wie in Deutschland CDU oder SPD gewählt wurde, wurde in der Toskana KPI gewählt, und zwar von Bauern, Bäckern, Winzern und Postboten, und nicht nur von "Studenten", "Intellektuellen", Fabrikarbeitern oder alternativen Spinnern. Und das sitzt so tief, dass auch heute hier in Florenz in den meisten Kreisen noch gegenüber Amerika und dem Liberalismus prinzipiell eine Haltung vorherrscht, wie sie in Deutschland nur bei Gysi, Lafontaine und Wagenknecht zu finden ist.
Entsprechend rhetorisch wird der 25. April hier in der Toskana gefeiert. Mit Delegationen der Resistenza, also der damaligen Volksguerilla, die in den Geschichtsbüchern "Partisanen" genannt wird, die es einerseits auch tatsächlich gegeben hat (und auch teils heldenhafte Teilnehmer hatte) und die von der Bevölkerung in vielen Dörfern des Apennin auch tatsächlich unterstützt wurde (weshalb es unter ausdrücklicher Duldung und Ermutigung Kesselrings zu Massakern durch die SS kam, bei der die Dorfbewohner, also Männer, Frauen, Kinder und Greise, alles, was in einem 1-2 tausend-Einwohnerort so lebt, im Kirchhof zusammengetrieben wurden und mit Maschinengewehren umgemäht wurden, weil niemand im Dorf an den Partisanen Verrat begehen wollte. "Buffalo Soldiers '44 - Das Wunder von St. Anna" von Spike Lee ist ein sehr guter Film darüber. Anlässlich seiner Erstaufführung gab es zum ersten Mal seit Ende des 2. Weltkriegs eine Polemik gegen die Resistenza seitens der Verwandten derer, die damals von der SS umgebracht wurden, eine Polemik, die in dem Vorwurf gipfelte, die Partisanen hätten der Bevölkerung in den Dörfern des Apennin weisgemacht, es bestehe keinerlei Gefahr für sie und es sei ihre Pflicht, sich am Kampf gegen den "fremden Invasor" (gemeint ist Nazideutschland, das gerade eben noch seit 20 Jahren Hauptverbündeter gewesen war und ab dem 8. September 43 verraten und sich selbst überlassen wurde) zu beteiligen: eine klassische Vermischung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, die zwangsläufig zu grausamsten Massakern führt, weil sie dazu führen muss; weshalb diese Vermischung (die Mao Zedong theoretisierte) jeder Kriegsethik zuwiderläuft.
Die Partisanen wurden damals von einer "Nationalen Befreiungsfront" geführt, deren Führer einem Spektrum von Parteien angehörten, die mehrheitlich zwar die Demokratie wollten, wobei aber andererseits nun mal die damals noch sehr moskaufreundliche KPI deutlich das Heft in logistischer Hinsicht in der Hand hatte, und auf Grund dessen geschah etwas, das ebenfalls nicht geleugnet werden darf: es kam auch nach Kriegsende noch durch Teile dieser "Resistenza" zu üblen Übergriffen auf die italienische Zivilbevölkerung in Ortschaften, die sich zuvor durch besondere Verbundenheit mit Mussolini hervorgetan hatten. Diese Tatsache wird auch heute noch von den Veteranenverbänden der Resistenza weggeredet oder kleingeredet. Hinzu kommt etwas, das bis zum heutigen Tage nicht einmal kritisch erwähnt wird. Nämlich die nicht zu übersehende (jedenfalls für mich) Tatsache, dass sich die Resistenza erst 1943 formierte, also erst zu einem Zeitpunkt, als Italien sich vom einstigen Bündnispartner abgewandt hatte (und es galt, rechtzeitig auf den Wagen der angelsächsischen Sieger aufzuspringen). Ihr Widerstand hatte sich also gegenüber Mussolinis Faschismus zuvor nie geregt, obwohl es diesen seit 20 Jahren gab, und er wurde nur durch den Tatbestand wachgerufen, durch den man in Deutschland plötzlich einen ausländischen Belagerer sah. Und dieser Tatbestand war eine Folge der Tatsache, dass Mussolini vom König von Italien seines Amts enthoben wurde (oder Mussolini sich von ihm seines Amts entheben ließ, wie der eine oder andere Historiker augenzwinkernd anklingen lässt) und in einem Staatsgefängnis auf dem Gran Sasso festgehalten wurde, wo er dann auf Hitlers Befehl hin "befreit" wurde, um in Norditalien nochmal einer "Marionettenregierung" vorzustehen. Der erst später zum Kommunismus "übergetretene" Dario Fo kämpfte damals übrigens als junger Bursche auf Seiten dieser faschistischen Repubblica Sociale Italiana. Im Gegensatz zu Günter Grass hat er daraus kein Geheimnis gemacht (Irren ist schließlich menschlich).
Die nur zwei Jahre dauernde "Resistenza" galt also gar nicht in erster Linie dem 20 Jahre dauernden Faschismus, sondern ausländischer Fremdbestimmung. Wahrscheinlich hätte es auch in Polen niemals Solidarność gegeben, wenn dort der Kommunismus nicht als russische Fremdbestimmung empfunden worden wäre. Die Menschen sind anscheinend so. Die Rhetorik, mit der am 25. April der Heroismus der Resistenza gefeiert wird, ist insofern jedenfalls leider immer noch in beträchtlichem Maße verlogene Heuchelei. Da wird es einen nicht wundern, dass ich 1981 einmal, als ich an einem sonnigen Tag bei einem Waldspaziergang plötzlich vor einem Denkmal stand, das die Resistenza auf die übliche Weise verherrlichte, einen unwiderstehlichen Drang verspürte, Wasser zu lassen.
Anscheinend eine pietätslose Geste. Aber nur auf den ersten Blick. Denn sie galt ja nicht den Mitgliedern der Resistenza, die damals mutig aus Liebe für ihr Land ihr Leben wagten und schon gar nicht der armen Bevölkerung in den Gebirgsdörfern des toskanisch-emilianischen Apennin, die damals auf grausamste Weise von der SS drangsaliert wurde. Mein Widerwille gilt ja nur der ideologischen Verklärung und der unwahrhaftigen Verherrlichung, und er richtet sich im selben Maße gegen die verlogene Verharmlosung, mit der die damaligen Praktiken der SS als situationsbedingte Notwendigkeit auch heute noch gerne unter den Teppich gekehrt werden und Kesselring als vorbildlicher Soldat reingewaschen werden soll.
"Der Soldat ist in unserer Zeit dem Verbrecher ähnlich geworden", sagte Ernst Jünger, der das Heer liebte, bitter.
Die Wahrheit ist banal und einfach, und ihr schönes Licht fällt nun mal leider nicht immer auf schöne Dinge. Die Generäle der Alliierten waren auch nicht immer stubenrein, wie man an der Bombardierung Dresdens oder Tokios sehen kann. Wenn man will, kann man deshalb in Kesselrings Haftentlassung sogar so etwas wie eine Art "kollegialer Fairness" sehen, denn die Engländer bezeugten, er habe immer "hart aber fair" gekämpft (was dort wo deutsche und englische Truppen aufeinanderstießen wohl auch stimmte; schließlich sind die Engländer in den Augen eines in Kategorien biogenetischer rassischer Verwandtschaft denkenden Menschen, wie Kesselring einer war, sozusagen Nachkommen der Cousins von Heinrich dem Löwen, von seinen Vasallen und seiner Gefolgschaft).
Der Makel der SS-Massaker bleibt dennoch ein besonderer. Es gibt schließlich von Seiten der Alliierten keine ihnen vergleichbare Repressalien. Das könnte allerdings ganz andere Gründe haben, die in der Natur der Sache liegen, im weitesten Sinne "logistische" Gründe. Denn auch im damaligen symmetrischen Krieg war ja nicht alles symmetrisch. Was könnte man in Deutschland als Widerstand der Bevölkerung gegenüber dem Besetzer nennen? Nichts. Denn vor der Kapitulation gab es ja keinen Besetzer auf deutschem Boden. Es gab nur eine Bevölkerung, die bereitwillig halbe Kinder als Flakhelfer zur Verfügung stellte. Ergo gab es auch keine Massaker in deutschen Dörfern, denn wessen Solidarität mit wem hätten solche Massaker brechen können? Man kann auf diese Weise niemanden zur Desertion veranlassen, im Gegenteil. Während Kesselrings lange Leine durchaus einen Keil zwischen die Partisanen treiben konnte, die die Bevölkerung damals beschwichtigten, es könne ihr nichts passieren. Als Spike Lees Film hier in die Kinos kam, flackerte kurz Unmut über die damaligen Beschwichtigungen auf.
(Die regelwidrigen Übergriffe russischer Soldaten - und vor allem die der französischen Kolonialtruppen - stehen auf einem anderen Blatt. Inwieweit es außerhalb der Konzentrationslager von deutscher Seite auch zu entsprechenden Übergriffen kam, oder nicht zu ihnen kam, ist eine interessante Frage. Auffallend ist, dass nicht nur in den deutschen Medien bisher nie von Vergewaltigungen durch reguläre deutsche Truppen die Rede war. Ebenso auffallend ist auch, dass es für die Geschichten deutscher Deserteure, die bei der russischen Bevölkerung Aufnahme fanden, keine Entsprechung zu geben scheint. Welcher alliierte Deserteur wurde je in der Scheune eines deutschen Bauernhofs versteckt?)
Die Verantwortlichkeit für die Massaker, mit denen die Bevölkerung davon abgebracht werden sollte, die Partisanen zu unterstützen, wurde am Ende auf die SS abgewälzt, weil kein schriftlicher Befehl Kesselrings dafür gefunden werden konnte. Die Aussage der wehrmachtsinternen Zeugen, Kesselring sei über die Praktiken der ihm damals unterstehenden SS nicht nur im Bilde gewesen, sondern er habe sie ab einem gewissen Zeitpunkt ausdrücklich als notwendige Sondermaßnahme gebilligt, reichte den Richtern nicht für eine Verurteilung. Dass in Italien aber gerade besonders ehrliche Persönlichkeiten hierüber auch heute noch empört sind, ist glaube ich verständlich, gerechtfertigt und unvermeidlich. Verständlich ist aber auch der damalige Groll deutscher Soldaten. Mussolini hatte immer laviert und am Ende verstand der deutsche Landser vor allem eins: Italien hatte als Bündnispartner gekniffen. Und einfach zu desertieren war für einen deutschen Soldaten, der sich gezwungen sah, seinem eigenen Gewissen zuwider zu handeln, auch kurz vor dem Ende des Kriegs keine vielversprechende Perspektive. Danach ist man angeblich immer schlauer, aber solange das Ende nicht da ist, ist es eben noch nicht da. Und die einzige Gewissheit, die der Mensch hat, ist immer nur seine Gegenwart.
Angesichts der Tatsache, dass Henning von Treskow zwei mal sein Leben wagte, um Hitler eigenhändig um die Ecke zu bringen, schäme ich mich als Deutscher, der in Italien lebt, für den albernen Streit um des Kaisers Bart, den diejenigen führen, die sich darauf versteifen, es liege kein schriftlicher Befehl Kesselrings vor. Das mag für einen Freispruch ausreichen ("in dubio pro reo"), für eine geschichtliche Rehabilitierung reicht es eben nicht, und die juristische Ebene kommt nun mal leider oft nicht mit der historischen zur Deckung; mit dieser Tatsache muss die Menschheit leben. Übrigens wurde auch für den Massenmord in den Vernichtungslagern trotz deutscher Gründlichkeit bei Buchhaltung und Bewahrung geheimer Dokumente kein ausdrücklicher Führerbefehl in schriftlicher Form gefunden. Es gab ihn höchstwahrscheinlich nicht. Wer keck auf diesen Umstand pocht, um aus Hitler einen Heiligen zu machen, dessen Händen die Kontrolle "des Ganzen" entglitten sei, wälzt dessen Verantwortlichkeit auf die Sektoren der Ausführenden ab, so als handele es sich da um eine Meute, die ihr Tun auf eigene Faust entfesselt habe (und sich dabei auch noch über die Vereidigung auf Hitler hinweggesetzt habe), um Prokonsuln ohne Weisung, für die Hitlers strenger Arm zu kurz war. Gottseidank nimmt diese Stimmen fast niemand ernst. Wer sie aber ernst nimmt, schadet damit dem Ruf von uns Deutschen noch mehr als Goldhagen - der uns den Stempel "willige Vollstrecker" als spezifisch deutsches Prädikat aufdrücken möchte - insofern durch Hitlers Unschuld die Schuld auf direktem Weg dezentralisiert würde und auch noch mit dem Sauerstoff der Eigeninitiative belebt würde.
Dass damals an gewissen Orten tatsächlich ein Klima für willige Vollstreckung herrschte, muss man wohl zur Kenntnis nehmen. Ich versuche daraus eine Lehre über die Spezies Mensch zu ziehen. Es genügt mir nicht, über das damalige Deutschland zu schlussfolgern.
Um es mit den Worten von Eraldo Affinati zu sagen: "scoprire notizie sulla specie cui appartengo".
Man kann geschichtliche Begebenheiten eigentlich nur dann beurteilen, wenn man Menschen begegnet ist, die selber dabei waren, und zu denen man eine verwandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehung hat. Am meisten half mir in dieser Hinsicht die Begegnung mit C. A., dem ehemaligen Butler einer der alten florentinischen Familien. Zwei Jahre jünger als meine eigene Mutter, hatten ihm die Amerikaner eine Schwester erschossen und die Deutschen die eigene Mutter. Ohne eine Spur antideutschen Grolls erzählte mir dieser alte Mann, in stundenlangen Gesprächen subtile Details des damaligen Geschehens mit großer Unbefangenheit und Wahrhaftigkeit. Er sagte immer "Die Schuld stirbt jung, weil sie keiner haben will.", und dieser Mann hatte ein hervorragendes Gedächtnis (er wusste sogar noch, was ein Kilo Brot, ein Liter Wein, ein Liter Milch, eine Monatsmiete kosteten und was wer damals in etwa verdiente; also er konnte einem präzise Anhaltspunkte für Kaufkraftvergleiche geben, statt der unwissenschaftlichen Umrechnungen von Sesterzen in Euro, die von der Historikerbörse so gern veröffentlicht werden). Am interessantesten war seine Erzählung von der Heimreise aus Russland, die er teils zu Fuß, teils per Anhalter bewältigte und dabei überall in Russland herzliche Aufnahme fand. Die Menschen, die ihn aufnahmen, taten dies in der Hoffnung, ihre vom Krieg in die Fremde verschlagenen Söhne würden dort ebenso Aufnahme genießen. C. sagte, nur eins sei manchmal unangenehm gewesen: beim Anstoßen habe ihm manchmal jemand den Boden des eigenen Glases auf den Glasrand gesetzt, was wahrscheinlich eine Geste gewesen sei, durch die Feindseligkeit zum Ausdruck kam; aber sowas sei in dieser Situation natürlich verständlich.
Und Vati, was erzählte er zum Thema Krieg in Italien?
Nun, er erzählte vor allem fast überhaupt nichts, dies festzuhalten ist erst mal das Wichtigste.
http://persciun.blogspot.com/2010/02/das-zugedeckte-pferd.html
Einmal erzählte er mir, das Kloster von Monte Cassino (eins der bedeutendsten Klöster der europäischen Geschichte) sei von den Alliierten bombardiert worden. Ich wusste lange nicht, was ich davon halten sollte und muss zu Vatis Ehre hervorheben, dass seine Behauptung der Wahrheit entsprach. Es stimmt auch, dass die Deutschen diesen Ort aus Rücksicht für seine Bedeutung absichtlich nicht zum Hauptquartier gemacht hatten und sich nur in dessen Nähe ringsum gelagert hatten. In den Räumen des Klosters hatten sie nur wichtige Dokumente gehortet, von denen übrigens kein Mensch weiß, wo sie bei Kriegsende gelandet sind. Das Schändliche an dieser Geschichte ist, dass ich im italienischen Fernsehen in den 80-ern mehrmals hörte, Monte Cassino sei von den Deutschen bombardiert worden. Noch schändlicher ist, dass es noch vor zehn Jahren sogar italienische Schulbücher gab, in denen behauptet wurde, die von Tito umgebrachte italienische Bevölkerung Istriens sei von den Deutschen umgebracht worden. Die Alliierten haben also Monte Cassino tatsächlich bombardiert. Aber nicht, weil ihnen "nichts heilig" war, sondern weil sie irrtümlicherweise glaubten, das deutsche Hauptquartier befände sich im Kloster.
Wenn wir aus R. kommend manchmal von C. über S. zurück nach A. fuhren, kamen wir durch einen Kiefernwald, der von meiner Schwester mit frivol albernd quiekendem Tonfall immer geheimnistuerisch als Partisanengebiet bezeichnet wurde. Vielleicht hatte Vati einst mal eine Geschichte aus Italien erzählt, weil dieser Kiefernwald tatsächlich ein bisschen an italienische Pinienwälder erinnert und sich für schauerliche Erinnerungsfantasien eignete. Jedenfalls hörte ich damals das Wort Partisanen zum ersten Mal. Als ich irgendwann mal fragte, was Partisanen seien, als ich mit Vati und Mutti wieder mal durchs "Partisanengebiet" fuhr, machte Vati sein Schwer-zu-erklären-Gesicht und Mutti sagte "Na, so Räuber".
Insgesamt war es für Vati wahrscheinlich ein Glück, dass er nach Italien abkommandiert wurde. Italien war ein Nebenschauplatz dieses enormen Kriegs. Es muss wohl 1942 gewesen sein, dass er nach seiner Rekonvaleszenz - er war auf dem Russlandfeldzug im Winter 41/42 an Lungenentzündung erkrankt - nach Italien kam, denn er war ja in Terni, etwa 120 Km nördlich Roms, 1942 saßen die Alliierten noch südlich der Linie Gustav fest, die Italien etwa 200 Km südlich von Rom in Norden und Süden aufteilte. 1943 kann Vati sich nicht mehr in Terni aufgehalten haben, weil die Deutschen sich inzwischen bis zur sogenannten Gotenlinie, viel weiter nördlich - den tosco-emilianischen Apennin vom thyrrenischen Meer bis zur Adria durchziehend - zurückgezogen hatten. Natürlich war es ein weiteres Glück, dass sein Antrag, an die Front zu kommen, nicht angenommen wurde, denn ab 1943 verlor Deutschland ständig Terrain. An welchen Orten er sich ab 1943 aber genau aufhielt, hat er mir gegenüber nie erwähnt.
Viel schlimmer war die Zeit vor 1942. Da war Deutschland zwar noch siegreich im Vormarsch und auf dem Höhepunkt seiner Macht. Aber Vati war in der Ukraine und für kurze Zeit auch in Russland. Jedenfalls bekam er Lungenentzündung und durfte deshalb heim nach Berlin. Dort blieb er als Rekonvaleszent auch noch einige Monate. Auf Grund von Lehrkräftemangel nahm er in dieser Zeit manchmal Prüfungen ab. Während dieser Zeit wurde meine Schwester gezeugt. Mein Bruder war damals 3 Jahre alt. Ob er Erinnerungen an damals hat? Ich weiß es nicht. Ich habe ihn mal gebeten mir zu erzählen. Da fing er an, mir FAZ-Artikel, Sternhefte und ZDF-Dokumentationen zu schicken. Er, der sich immer nur lustig gemacht hatte über meine Versuche, wenigstens durch Lektüre etwas über die Zeiten zu erfahren, die er als Kind, Jugendlicher und Erwachsener erlebt hatte, ohne je davon zu erzählen, speiste mich nun von sich aus mit Lektüre ab, als ich ihn bat mir zu erzählen. Ich wollte aber die Eindrücke meines Bruders hören. Es ist nicht zu fassen. Aber dies ist eine andere Geschichte.
In der Ukraine, erzählte Vati, seien dem deutschen Heer von der Bevölkerung Triumphbögen aus Ästen und Baumwerk gebaut worden, und sie seien als Befreier vom russischen Joch gefeiert worden. Das glaubte ich sofort, nie habe ich daran gezweifelt. Später erfuhr ich außerdem, dass sich die Ukrainer besonders bei der Beseitigung der Juden hervortaten. Erst vor wenigen Jahren erfuhr ich, dass in der Ukraine eineinhalb Millionen Juden durch systhematisches Erschießen getötet wurden. Diese - frühe - Phase des Massenmordes ist das größte Rätsel dieser unfassbaren Geschichte. Die spätere industrieartige Organisation entstand ja, weil beim kaltblütigen Erschießen eben doch zuviele der damit Beauftragten durchdrehten. Dennoch wurden sage und schreibe eineinhalb Millionen Menschen allein in der Ukraine auf diese Weise beseitigt. Und dies geschah hinter der Linie, denn die Einsatzgruppen dieser SS-Sonderkommandos operierten hinter der Linie.
Wenn ich als Kind mit Freunden Cowboy und Indianer spielte, reagierte Vati immer auf eine Weise, die mir rätselhaft war, und die ich nur als liebevolle, panische Besorgnis umschreiben kann. Er verbot mir jedes Mal auf Menschen zu zielen, obwohl wir Kinder nur Stöcke in der Hand hielten, die wir wie ein Gewehr in Anschlag nahmen, so wie wir es im Fernsehen in Cowboyfilmen gesehen hatten, und dabei "Pchchch, pchchch" zischten. Es war mir richtig peinlich, wenn Vati mir vor den Freunden einschärfte "Nicht auf Menschen zielen." Diese rätselhaft übertrieben besorgte Reaktion Vatis war eine Konstante meiner Kindheit. Ich durfte ja auch Western, selbst harmloseste Western wie Bonanza, nur ausnahmsweise sehen, manchmal nur, weil meine älteste Nichte auch Bonanza sehen wollte (und immer mit der Angst, es könnte gerade dann doch noch eine Schießerei anfangen, wenn Vati ins Wohnzimmer kam). Außer dieser fast phobisch wirkenden Reaktion hatte ich nie einen einzigen Anhaltspunkt dafür, dass Vati deshalb so reagierte, weil er hinter der Linie etwas Grauenhaftes gesehen haben musste.
Erst nachdem ich vor Jahren bei Mutti beobachten musste, wie jemand innerhalb weniger Wochen das eigene niederträchtige Handeln völlig vergessen kann (wobei Mutti ausgerechnet noch aus ihren Erinnerungen die Geschichte von einer Ukrainerin hervorzauberte, von der mein Vater, der sie am Bahnhof abholen ging, gesagt hatte "Wenn sie nicht deutsch spricht, binde ich ihr einen Strick um den Hals"), und vor ein paar Jahren erfuhr, was sich in der Ukraine abspielte, wurde ich nachdenklich und gestand mir ein, dass Vati damals in der Ukraine am Rande des Geschehens vielleicht doch Dinge erlebt haben könnte, die er später völlig verdrängte.
Wenn die Rede von irgendjemand anderem wäre, sähe ich hierin eine völlig plausible Schlussfolgerung. Wenn aber vom eigenen Vater die Rede ist, will man selbst so etwas unschuldig Menschliches nicht wahrhaben, wie es das Verdrängen unerträglicher Erinnerungen ist. Man will selber nicht wahr haben, dass der eigene Vater etwas viel Schlimmeres nicht wahrhaben wollte! Aber zu Vatis Harmoniebedürfnis, zu seiner zarten Verletzlichkeit und zu seinen Heile Welt Vorstellungen passt eigentlich genau dies. Auch zum völligen Fehlen lebendiger Beschreibung aus der Kriegszeit passt es. Und zu seinem liebevoll insistierenden "Nich auf Menschen zielen!" auch. Eine meiner frühesten Erinnerungen - ich war damals vier Jahre alt - ist, wie er mit wundervoll milder Stimme in seiner hellgrauen Arbeitslatzhose im Arbeitszimmer sitzend sagte, "und dann war der Friede da." Vor meinen Augen entstand dabei jedes Mal das Bild einer sommerlichen Wiese mit hohem Gras und Bienengesumme, so wie der Blick auf die Wiese, die man auf der Straße sah, die zur G-brücke führt, wenn man in Richtung des Storchebrünnles schaute. Jahrzehntelang sah ich diese Wiese sofort vor mir, wenn ich das Wort "Friede" hörte.
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