Stationen

Freitag, 9. November 2012

Späher


Maßstab

Spaemann ist einer der wenigen, bei denen die Zeit des Nationalsozialismus - ähnlich wie bei Loriots Beschreibung der "Reichskristallnacht" - so anschaulich wird, dass nuancierte Proportionen erkennbar werden.

Als 14-jähriger Gymnasiast erlebt er in der Straßenbahn, wie ein junger Mann einen würdigen Alten mit Judenstern lautstark von seinem Sitzplatz vertreibt, um sich statt seiner zu setzen. Spaemann war in diesem Augenblick klar, »dass es jetzt nur eine anständige Weise des Verhaltens gebe könne, nämlich aufzustehen und dem Herrn meinen Platz anzubieten. Ich tat das nicht. Ich blieb sitzen. Ich hatte Angst. Bis heute schäme ich mich. In diesem Augenblick erfasste mich eine ungeheure Wut. Eine Wut gegen die, die es fertiggebracht hatten, mich zu diesem unwürdigen Sitzenbleiben, zu diesem Sieg der Feigheit, zu veranlassen.«

Den 21. Juli 1944, als das Scheitern von Stauffenbergs Attentat bekannt wird, bezeichnet er als düstersten Moment seines Lebens. Falls Hitler siegte, hätte er Gärtner werden wollen. Misstrauisch recherchierte er bei Ostfrontsoldaten nach dem Verbleib der deportierten Juden: »Nach einem halben Jahr wusste ich Bescheid. Ich wusste, dass sie vergast wurden.« Sein Fazit: Die Deutschen wussten nichts, weil sie es nicht wissen wollten. Vieles an dieser Jugend erinnert dabei an die Erinnerungen von Joachim Fest an dessen Aufwachsen in einem ebenfalls katholisch-antinazistischen Elternhaus.

Die Lutheraner setzten sich selbst durch ihre Offenheit und Aufrichtigkeit schachmatt. Die doppelbödigen Katholiken blieben handlungsfähig. Selbst der vielgescholtene Pius XII rettete Tausende verfolgter Juden. Der damalige Rabbiner von Rom trat nach dem Krieg zum Katholizismus über und nahm Pius XII zu Ehren dessen Namen als Taufnamen an. Aber der Katholizismus ist nicht nur doppelbödig, sondern auch zweischneidig. Jakob Taubes trifft den Nagel auf den Kopf. Er sagte einmal, er habe lange darüber nachgedacht, was Adolf Hitler, Martin Heidegger und Carl Schmitt verbinde und sei zu dem Schluss gekommen, dass es der Katholizismus sei. Friedrich Heer würde dem wohl zustimmen.

Spaemann ist sehr konsequent und akkurat. Er feindet die 68-er im Moment ihrer vitalsten Stärke unmissverständlich und proportioniert heftig an und wird trotzdem Heinrich Bölls Freund. Als er mit seiner Frau einen Abend bei ihm verbringt, werden sie hinter vorgehaltenem Maschinengewehrlauf für Ulrike Meinhof und Andreas Baader gehalten. Je präziser man ist, desto mehr ist man den Gefahren ausgesetzt, die von der Plumpheit ausgehen. Egal ob man Jakob Taubes heißt oder Robert Spaemann.

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