Die Reden, die jetzt, wo es zu spät ist, endlich über Griechenland geführt werden, sind haargenau dieselben, die die Lega Nord in Italien Ende der 80-er begann, über Süditalien, den "Mezzogiorno", zu führen. Und die Reden, die in Griechenland (und Italien) über Nordeuropa (vor allem Deutschland und Frankreich) geführt werden, sind dieselben, die in Süditalien über die Lega Nord geführt wurden und werden.
Damals schon sagten die im Süden immer, der Staat nehme sie aus, zapfe Steuern ab, aber gebe nichts in Form von Entwicklung und Infrastrukturen zurück. Im Norden hieß es, man buttere indirekt über Rom als zentraler Steuererhebungs- und Subventionsdrehscheibe ständig Geld in den Süden, so, wie zuvor einst über die Cassa del mezzogiorno (und so wie die Nettozahler über den EU-Fond), aber das Geld versickere. Es ist haargenau dasselbe, es ist nicht nur eine Analogie, es ist haargenau dasselbe. Der Süden glaubt immer, er werde vom Norden ausgesaugt, der Norden glaubt immer, er ernähre einen stets unproduktiven "behinderten" Süden, der nicht einmal die wenigen Steuern zahle, die er zahlen müsste. In der Tat gibt es in Sizilien einen Ort (Favara, nördlich von Agrigento), wo nur 1% der Immobiliensteuer, die der italienische Staat eigentlich bekommen müsste, bezahlt wird.
Wozu gibt es in Florenz eine "Europäische Universität", die sich von früh bis spät tagtäglich mit EU-Themen befasst und Dozenten und Studenten aus ganz Europa beschäftigt, wenn dann in Brüssel trotzdem kein Mensch eine Ahnung hat, was Südeuropa ist???
Übrigens, im Sommer 1992 hob die Bundesbank den Leitzins um ein halbes Prozent (+0,5%). Daraufhin gingen in Italien viele Unternehmen pleite. Wochenlang war von nichts anderem die Rede in den Zeitungen und an den Mittagstischen (in Italien! in Deutschland krähte danach kein Hahn).
Auch Großbritannien bekam diese Leitzinserhöhung empfindlich zu spüren. "La Repubblica" druckte damals ein - eine ganze Seite langes - Interview mit Karl Popper ab, der in diesem Interview sagte, es gehe nicht an, dass ein einziger Mann (gemeint war der Direktor der Bundesbank), der nicht einmal durch Wahlen in sein Amt gekommen sei, über soviel Macht verfüge, dass seine Entscheidungen den ganzen Kontinent in Atem halten (Helmut Schlesinger vertrat die Ansicht, er erfülle nur den Auftrag, der als Arbeitsphilosophie der deutschen Zentralbank gilt: Bekämpfung der Inflation). In Italien meinte man dazu, die Frankfurter Furcht vor Inflation sei eine Manie. Der Industrielle Carlo De Benedetti (einer von Berlusconis "historischen" und aktuellen Gegnern, er besitzt unter anderem "La Repubblica" und "Espresso") sagte damals wutentbrannt: "Es geht nicht, dass wir hier in Italien die Kosten der deutschen Wiedervereinigung bezahlen" und schlug sogar vor, die DM solle solange aus dem Europäischen Währungssystem austreten, bis Deutschland seine Probleme gelöst habe.
So unterschiedlich können die Ansichten über Fakten sein. Die Griechen finden, es geschieht uns Deutschen recht zu zahlen. Sie bezeichnen uns als Roboter (im TV sagt das natürlich niemand so), und sie pochen darauf, dass die deutschen Exporte boomen, weil sie, die Griechen, den Euro schön niedrig halten. Schäuble scheint das ähnlich zu sehen, denn auch er weist betrübt darauf hin, kaum einer sei sich darüber im Klaren, dass alles viel schlimmer wäre, wenn wir den Euro nicht hätten, weil Deutschland dann Exportprobleme hätte.
Angemessen scheint mir die Feststellung, dass die deutsche Wiedervereinigung bisher das 20-fache dessen gekostet hat, was für die Rettung des Euros ausgegeben wurde, und dass diese Rettung keineswegs nur ein Zwanzigstel der Wiedervereinigung wert ist. Aber auch der Gedanke, dass die Wiedervereinigung nicht nur 20 mal wichtiger, sondern 100 mal wichtiger war, hat etwas für sich. Je nach Temperament wird man mehr Begeisterung bei dem einen oder bei dem anderen empfinden.
So unwägbar können die Sachverhalte sein, die nichtsdestoweniger unbedingt beurteilt werden müssen. Die Unwägbarkeit wird auf diese Weise zu einem Parameter der Belastbarkeit.
Und alle anderen Erwägungen werden irrelevant, wenn die Grenzen der Belastbarkeit erreicht sind. Diese Grenzen sind also unwägbar und nicht mit einem Fieberthermometer messbar. Rationale Argumente bleiben daher völlig ohne Wirkung, wenn ein wirtschaftspsychologischer Teufelskreis erst mal in Gang gekommen ist. Der Aufschrei, man dürfe sich den Euro "nicht von drei Ratingagenturen kaputt machen lassen", hört sich verzweifelt an, und der Gedanke, gesetzlich zu verbieten, dass subventionierte Länder begutachtet werden, der mittlerweile tatsächlich von jemand geäußert wurde, zeigt, wie sehnsüchtig man sich wünscht, den Kopf in den Sand zu stecken. Könnte ein solches Verbot wirklich als Sedativ der Märkte wirken und Heilung begünstigen? Im aktuellen, gerade akuten Fall wohl eher nicht. Als Teil eines Regelwerks, dass in Zukunft wirtschaftspsychologische Labilität abpuffern soll, vielleicht schon.
Die Ehrlichen dürften eigentlich nicht die Dummen sein; die Unehrlichen dürften eigentlich nicht ermutigt werden. Aber wer sind die Ehrlichen? Und wer sind die Unehrlichen? Ist die Wirtschaft ein Nullsummenspiel? Kann man ein grenzenloses Spiel, bei dem die Summe nur innerhalb genau definierter Räume und Zeiträume (Grenzen) konstant bleiben könnte, als Nullsummenspiel bezeichnen?
In der ZDF-Dokumentation erfährt man, dass viele für Griechenland bestimmte EU-Gelder letztlich an Unternehmen Nordeuropas ausgezahlt werden, weil Griechenland keine eigene vitale Industrie hat, die zum Beispiel die U-Bahn Athens modernisieren könnte. Die ZDF-Dokumentation suggeriert, die EU-Hilfsgelder kämen nicht Griechenland zu gute, sondern den deutschen Unternehmen, die die U-Bahn bauen. Welch ein Irrsinn! Die U-Bahn bleibt jedenfalls in Athen und Sinn der Hilfsgelder ist ja gerade nicht, dass sie in Griechenland bleiben (wo ohnehin schon zu viel Geld in die Taschen einer korrupten Oligarchie fließt, sondern das ein Wirtschaftskreislauf in Gang kommt, der die europäischen Länder verbindet. Die Brücke über den Golf von Korinth (zum großen Teil von der EU bezahlt), die man auch in der Dokumentation sieht, bleibt ebenfalls dort. So eine Brücke, die überflüssigerweise eine unterentwickelte Region mit einer anderen unterentwickelten Region verbindet, wollte Berlusconi zwischen Sizilien und Kalabrien auch bauen. Dieser Kelch ging an Deutschland und der EU bisher vorüber. Aber nicht etwa, weil Deutschland und die EU diesmal besser aufgepasst hätten, sondern weil Berlusconi nicht mehr dazu kam.
Griechenland
Das Wichtigste wäre jetzt, darüber nachzudenken, wie man (die EU, Deutschland, Frankreich...) in Zukunft die gezinkten Statistiken anderer Länder zuverlässig kontrollieren könnte. Über diese Frage scheint es aber bisher noch nicht einmal eine Diskussion zu geben.
In Island hat man keine Statistiken gezinkt. Dort hatte man nur die eigene Lage verkannt.
Leider ist es dennoch nicht möglich, die Lage auf ein Nord-Süd-Problem zu reduzieren. Denn der größte Schuldensünder des 20. Jahrhunderts ist ausgerechnet Deutschland.
Economist
Guardian
Spiegel
Zeit
Trotzdem glaube ich, dass gerade denjenigen, die jetzt, wo zur Rettung des Euros einiges geschultert werden muss, den Eindruck haben, sie müssten ständig für die Fehler anderer zahlen, Trost darin finden können, dass vor nicht allzu langer Zeit die Amerikaner für die Fehler Deutschlands gezahlt haben. Die Hoffnung, dass Griechenland einen Schuldnachlass ebenfalls durch virtuoses Verhalten belohnen wird, ist allerdings eine blauäugige Hoffnung. Es steht viel auf dem Spiel.
Es gibt Menschen und Staaten, die nie ganz zufrieden sind; aber Deutschland hat mit der letzten Rate am 3. Oktober letzten Jahres seine Schulden vollständig getilgt:
AntwortenLöschenhttp://de.wikipedia.org/wiki/Londoner_Schuldenabkommen
Daran ändern auch die seltsamen Ansichten eines Herrn Ritschl nichts!
Sehr geehrter Herr Anonym, Sie hegen gegenüber den USA genauso wenig Dankbarkeit wie Griechenland und Italien gegenüber Deutschland und wie der Süden Italiens gegenüber Norditalien. Quod erat demonstrandum.
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