Ich weiß noch, wie der RAF-Verteidiger Klaus Croissant 1975 etwa (wegen vergleichsweise geringer Vergehen) angeklagt wurde und in Frankreich politisches Asyl suchte (was mir lächerlich vorkam), nach kurzer Zeit aber festgenommen und der deutschen Justiz ausgeliefert wurde. Jahre später lebte er mit einer taz-Redakteurin und wurde DDR-Agent. Im Gegensatz zu Schily ein sehr unsympathischer Mensch. Dass trotz seiner bekannten ideologischen Parteinahme für die RAF nicht durch Leibesvisite verhindert wurde, dass er innerhalb des Gefängnisses illegal Mitteilungen weitergab und Aktionen koordinierte, ist mir immernoch unverständlich. Dass gleichzeitig die linke Sympathisantenszene von einem repressiven Polizeistaat faselte, macht mich erst recht fassungslos. Woher nahmen sie bloß ihre unerschütterliche Gewissheit? Ein Schulfreund glaubte damals allen Ernstes, wenn man sich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort befände und die Hand in die Hosentasche steckte, um sich die Nase zu schneuzen, könne man erschossen werden.
Toni Negri dagegen (verurteilt zu 30 Jahren Gefängnis wegen Zugehörigkeit zu einer bewaffneten kriminellen Vereinigung) und Oreste Scalzone (zu 9 Jahren, aus demselben Grund) lebten ab 1985 jahrzehntelang unbehelligt in Paris. Wie kam es zu einem so eklatanten Unterschied??? Es ist auf die Mitterand-Doktrin zurückzuführen, wie ich seit 5 Minuten nun endlich weiß (Wikipedia machts möglich); mir war das immer ein Rätsel.
Andre Länder, andre Sitten, dachte ich früher dazu, weil ich dachte, zwischen Italien und Frankreich bestünden andere Vereinbarungen als zwischen Deutschland und La France. Aber das war´s nicht. Andere Zeiten, andere Sitten!
Aber auch andere Länder andere Sitten! Italien ist nicht nur die Heimat Berlusconis. Toni Negri galt als Chefideologe der Roten Brigaden und gilt heute in der Hitparade des Nouvel Observateur als einer der 25 größten Denker des Planeten, unterrichtete an der Universität St Denise und an Derridas Institut und ist mit dem sympathischen ehemaligen italienischen Staatspräsidenten Cossiga befreundet, da sie einst gemeinsam in der Azione Cattolica militierten. Deshalb schenkte er Cossiga auch ein Exemplar von "Empire and Multitude". Wenn man den das Globale denkenden Negri reden hört, wirkt er aber gar nicht besonders klug oder gescheit, sondern sehr verquast, was wohl auch auf die psychologische Zermürbung durch die vergebliche Standhaftigkeit zurückzuführen ist. Er hat sehr am Exil gelitten und stellte sich schließlich nach etwa 20 Jahren in Italien der Polizei.
Immer wieder fällt mir die Kontinuität der forma mentis zwischen RAF und Roten Brigaden einerseits und Al Kaida andererseits ins Auge, so als seien die höchst unterschiedlichen Ideologien nur Beiwerk, Ornament, Schnörkel, Märchen zur Zeit. So als hätten sich nur die Zeiten geändert, nos autem non in illos. Das Motiv hat sich kaum geändert: das böhse Amerika, das böhse Israel. Es kamen genau die Geister, die damals angerufen wurden, als davon geträumt wurde, Seite an Seite mit den Unterdrückten dieser Erde einen Rachefeldzug zu organisieren und schon damals erfolgte die Ausbildung im Orient (in palästinensischen Lagern).
Manchmal bilden sich Mulden in der Seelenlandschaft, die zu Sammelbecken werden können, in denen das scheinbar Unvereinbare zusammenfließt: Antideutsche und Deutschnationale entdecken auf einmal einen gemeinsamen Nenner, wenn ein "Angehöriger einer altehrwürdigen orientalischen Kultur" anfängt, beiden zu schmeicheln und den beiden zerknischten Bundeshasen Honig ums Schnäuzchen schmiert. Anfänglich sind beide befremdet, besonders der Antideutsche. Aber auf einmal spüren beide, wie gut es sich anfühlt, lobende, mitfühlende Worte der Bewunderung zu hören: der eine für sein schlechtes Gewissen, der andere, weil er kein schlechtes Gewissen hat.
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