Stationen

Freitag, 5. Juli 2013

Ein schönes Volk lebt in der Kolchis

"Was die Georgier singen ist wichtiger als alle Neuentdeckungen der modernen Musik. Es ist unvergleichlich und einfach. Ich habe nie etwas besseres gehört!" Igor Strawinsky

Strawinsky hat recht. Ich habe auch nie etwas besseres gehört als diesen Hoagascht.


Geschichte Georgiens










In der Kolchis, Heimat der Fasane, Stalins, der Herbstzeitlosen und der Medea.

Der erste, der mir von Georgien erzählte, war Andrei Volkonsky. Ich hatte das Glück, 1983 ein Jahr lang sein Nachbar zu sein, und wir aßen fast jeden Abend zusammen, hörten dabei seine unzähligen Schallplatten historischer Aufnahmen und unterhielten uns über kulturgeschichtliche Fragen, besonders natürlich die Musik betreffend, aber auch die Malerei, Philosophie, Politik, Geschichte, Kunstgeschichte und Literatur sprachen wir oft an.

Manchmal lud er mich zum Frühstück ein. Bei einer dieser Gelegenheiten sagte ich zu ihm, ich empfände es als Ehre, ein Teil der Welt zu sein. Er, der Russe und Bewunderer Goethes war sehr betroffen und bewegt. Er konnte es kaum fassen, dass es noch einen Deutschen gab, der so empfand. Ich konnte es ja selber nicht fassen, endlich mal am Tisch eines Menschen zu sitzen, der mich verstand. Mit stockender Stimme und feuchten Augen sagte Volkonsky, genau dasselbe, was ich gerade gesagt hatte, habe Goethe einmal gesagt.

Es war wirklich keine beliebige, willkürliche Entscheidung, als Volkonsky in seinem Spätwerk Johannes Bobrowskis Gedichte "Was noch lebt" vertonte (unter Verwendung modaler Tonarten - Volkonskis Gestaltwahrnehmung war intakt und vorausschauend!).

Unter diesen Platten waren auch Aufnahmen orientalischer, der arabischen sehr ähnlichen, Musik aus Ländern südlich von Georgien und mehrere Platten mit Volksmusik aus Georgien. Herrliche Musik! Natürlich war es Volksmusik, die besonders gute Chöre vortrugen, aber die Lebendigkeit dieser Chöre war genau so groß wie die Akkuratesse des Gesangs. Schöne, quintige Harmonien, die immer wieder wie durch eine zentrifugale Kraft an den Rand der Tonalität getrieben wurden und sich dort genüßlich mit scharf schneidenden Primen über die Kante beugten. Viele Lieder waren auffallend herb und dissonant, schneidend wie Klingen klang es im Ohr, wenn diese unglaublich frischen lebendigen Stimmen durch die Luft schnellten wie die Gliedmaßen der Männer, die den Schwertertanz vorführen, den ich damals noch nicht kannte und erst jetzt in YouTube entdeckt habe.

Volkonsky versicherte mir damals, er habe diese Chöre genau so, wie wir sie damals hörten und in derselben gesanglichen Qualität, im Omnibus gehört, mit dem er ins Gebirge fuhr. Er war mit einem georgischen Historiker und Geografen befreundet, der damals, in den 60-er Jahren eine Expedition in den Süden der Sowjetunion machte und hatte auf diese Weise ebenfalls die Möglichkeit zu reisen, in einer Zeit, als Russen für gewöhnlich nicht nur die UdSSR nicht verlassen konnten, sondern nicht einmal in ihrem Innern reisen durften.

Wir dachten daran mit dem Schmerz, den man angesichts einer kostbaren Volkskultur empfindet, die im Aussterben begriffen ist und mittlerweile wahrscheinlich schon gar nicht mehr existierte. Wer diese Zeilen liest, begreift sicherlich, wie glücklich ich deshalb bin, als ich nach Aufnahmen in YouTube suchte, welche gefunden zu haben, die nicht aus den 60-ern stammen, sondern gerade erst vor ein paar Jahren entstanden sind! Es ist nicht die Qualität, Variabilität und Reichhaltigkeit, die auf Volkonskys Platten zu hören war (von denen ich eine Aufnahme auf Cassette besitze), und die Qualitätsminderung gegenüber den Feinheiten, die noch vor 50 Jahren im Vortrag der Menschen Georgiens lebendig waren, ist nicht zu überhören, aber der Gesang dieser Männer ist schön und sehr lebendig, und ich finde es herrlich, dass wenigstens immer noch zu spüren ist, wie sehr für diese Männer der Hoagascht zum Alltag gehört, der einst auch in Italien noch alltäglicher war. Ich selbst habe 1980 in Sardinien noch erlebt, dass Fischer im Rentenalter in ihrer Stammkneipe anfingen zu singen und durch Improvisationsgesang das Tagesgeschehen kommentierten.

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