Stationen

Dienstag, 26. April 2011

Der Mensch ist Maß aller Dinge

Werner Hofmann zitiert einleitend Wilhelm Busch "Kein Ding sieht so aus, wie es ist.", um das Verhältnis zwischen dem sogenannten "Realismus" und der anderen Form der Kunst zu erläutern, die gezielt auf Wahrnehmungsselektivität, Vor-stellungswelt und Gedanken- und Empfingungsverknüpfungen eingeht und aufbaut. Werner Hofmann ist im deutschsprachigen Raum einer der wenigen seriösen Kunsthistoriker in einer Berufssparte, in der es immer noch von Sektierern wimmelt, die akribisch biografische oder handwerkliche Belanglosigkeiten auflisten, ohne sie in einen weltanschaulichen Horizont zu stellen.

Der Einfluss von John Berger und Michael Baxandall ist also auch im deutschsprachigen Raum spürbar geworden, Aby Warburgs und Ernst Gombrichs Erbe endlich angekommen, und es hat eine Koryphäe wie Hofmann hervorgebracht. Einen Federico Zeri haben wir noch nicht.

http://de.wikipedia.org/wiki/Werner_Hofmann_(Kunstwissenschaftler)

Buchtip

Aus einer Rezension des Deutschlandfunks:


"Es gibt zwei Kraftlinien. Die eine Kraftlinie ist der ehrgeizige Wettstreit mit dem Vorhandenen, mit den Fakten der Wahrnehmung, - so schön und so genau und so sachlich wie nur möglich. Die endet praktisch bei den Impressionisten, nicht wahr.

(Nein, das ist nicht wahr! Es gilt vor allem für Nordeuropa und zeigt, wie "septentriozentrisch" Hofmanns Weltbild ist. Anmerkung von epitimaios)

 Dann gibt es eine andere Linie, die dazu lustvoll die dialektische Gegenposition bezieht und sagt: Nein - Wilhelm Busch hat das gesagt: Kein Ding sieht so aus wie es ist. Hier setzt nun die Phantasiearbeit ein und sie sagt, schaut euch doch um und ihr werdet sehen, da ist etwas nicht ganz in Ordnung. Diese Wirklichkeit ist nicht bloß eine Fiktion, sondern sie hat keinen Boden unter den Füßen. Sie ist nicht greifbar, nicht fassbar; und so gesehen ist das Phantastische wirklich angewiesen auf einen Betrachter, der mit einer, sagen wir, produktiven Skepsis an die Dingwelt herangeht und sich sagt: Ich misstraue der Zentralperspektive, ich misstraue dem illusionistischen Getue der Pinselschrift; es waren ja Maler von hoher Intelligenz." Werner Hofmann

Die eine Kraftlinie in der kunstgeschichtlichen Entwicklung ist also die der Realfiktion, die den Normen aus empirischen Sachverhalten folgt, dem Maß, der Regel, dem Gesetz. Die andere bezeichnet die fantastische Verfremdung als ein Instrument des Widerspruchs und der Befreiung von rationalen Festlegungen und Beschränkungen. Phantasiestücke sind Kunstwerke, die die Wirklichkeit spielerisch-willkürlich verändern und neue rätselhafte Bezugssysteme bilden. Bei Hieronymus Bosch wird das ersichtlich und bei Pieter Bruegel. Oder in einem Gemälde der Karlsruher Kunsthalle, Joos van Craesbecks Versuchung des heiligen Antonius von etwa 1650, das bei Werner Hofmann in der gewohnt hervorragenden Druckqualität des Hirmer Verlages wiedergegeben ist. Der Heilige selbst ist nur eine unscheinbare Randfigur, legitimierender Bildanlass. Er sitzt in seiner braunen Kutte mit aufgeschlagenem Buch unter einem kahlen Baum und blickt auf die fantastischen Kopfgeburten, die dem Mund und der Stirn eines jungen Mannes entsteigen. Es ist die Vision eines Höllenszenarios voller Ungeheuer und Mischwesen, halb Mensch, halb Tier. Was vordergründig abschrecken soll, ist tatsächlich ein Ausleben von Begierden, Lüsten und Emotionen in der Fantasie, die eine unsichtbare Realität anschaulich macht. Das ist eines von vielen faszinierenden Beispielen Werner Hofmanns für das Phantasiestück, das uns Betrachter auf die Doppel- oder Mehrsichtigkeit der Welt stößt und zu Mitspielern macht.

Diese freie Umspielung der Wirklichkeit setzte schon sehr früh ein. Nicht von ungefähr forderte Bernhard von Clairvaux im zwölften Jahrhundert mit seiner Verzichtsästhetik schmucklos-asketische Kirchenräume ohne üppige Pflanzenkapitelle. Thomas von Aquin definierte später den theologisch fundierten Schönheitsbegriff unter Maßgabe von integritas beziehungsweise perfectio; proportio oder consonantia und claritas. Doch zeitgleich kam es schon zum Bruch mit dieser Norm, - nicht erst mit Beginn der Moderne. Das erkannte beispielsweise der Kunsthistoriker Meyer Schapiro, dem der Band Phantasiestücke unter anderen vom Autor gewidmet ist. Werner Hofmann, für den ein Besuch in der Zisterzienserabtei Fontfroide zum Schlüsselerlebnis für den jahrhundertelangen Bilderstreit wurde, knüpft sein entwicklungsgeschichtliches Netz von einer Handschrift in der Bibliothèque municipale in Dijon aus:

"Diese Handschrift in Dijon um 1200 hat mir diese Idee gegeben. Da seh ich nebeneinander eine Darstellung von zwei Mönchen, die einen Baum fällen und damit den Buchstaben 'I' gewissermaßen herausschälen, der Baumstamm ist das 'I', und an einer anderen Textstelle das 'Q', wo sich zwei Mönche zu schaffen machen, indem sie plötzlich ihre Gestaltumrisse der Rundform des 'Q' anpassen. Sie werden gewissermaßen pantomimisch verfremdet. Das ist der ganz kleine, aber entscheidende Schritt von der Nachahmung des Gesehenen - aha, so wird ein Baum gefällt - zu der Idee, warum sollte man nicht aus der Rundform des 'Q' - könnte man da nicht auch zwei Mönche einpassen, die dann auch mit einer Axt arbeiten, aber die aus diesem Buchstaben dann eine Blume machen und so weiter."

Die Reihe von Künstlern, die Werner Hofmann in seiner Darstellung abschreitet, ist zu lang, als dass sie in wenigen Sätzen umrissen werden könnte. Da finden sich unbeachtete Aspekte bei Jacques Bellange; die Porträtkarikatur der Carracci oder Berninis; Historienbilder von Tiepolo, die mit der Kategorie des Historienbildes brechen; natürlich Arcimboldo und Goya, William Blake und Füssli.

"Die Fantasie ist im Grunde genommen bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein die Begleitstimme, die korrigierende, skeptische, revoltierende Begleitstimme der Vernunftmalerei. Und in dieser Eigenschaft wird sie innovativ."

Wenn sich im Laufe der Zeit die Normen änderten, sich neue Erkenntnisräume - etwa durch die Psychoanalyse - auftaten, so änderte sich auch das Phantasiestück. Werner Hofmann hat eine Phänomenologie des Fantastischen vorgelegt und dabei erstaunliche Bezüge hergestellt, die so noch niemand gesehen hat. Als wichtigste Schöpfer von Phantasiestücken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nennt er erwartungsgemäß Max Ernst, Man Ray, Paul Klee, Miro und Magritte und ausdrücklich nicht die Vertreter der Wiener Schule. Und was kam danach? Gibt es Ende des 20. Jahrhunderts und heute noch genügend fantastische Energie in der Kunst oder ist sie in Freizeitentertainment verpufft?

"Es gibt natürlich noch fantastische Energie, zum Beispiel Kabakov, der Russe: Wenn der eine Pseudoklinik errichtet oder eine Pseudoirrenanstalt mit 12 Kabinen, so zitiert er natürlich damit schon die Banalität des Alltags, aus dem er entflohen ist, also Sowjetunion, und zitiert auch die Rituale, die dort existierten in ihrer Leere, in ihrer Konformität, sodass das schon ins Fantastische umschlägt. Aber man muss dann das Fantastische eben so nehmen, wie ich mir erlaubt habe es zu definieren, nicht als die Freizeitunterhaltung nach des Tages Mühen, nicht das Wandern durch merkwürdige dschungelartige und andere Abstrusitäten, wie das die Wiener Schule des Fantastischen Realismus getan hat: Sondern man muss das Fantastische sozusagen am Ort seines banalen Auftretens hernehmen, wie de Chirico und fast gleichzeitig Duchamp sie erfasst haben. - Die Sachlichkeit des Fantastischen, wissen Sie, das ist etwas, was sich nicht ins Nebulöse verliert, sondern die harte Materialität der Dinge, mit denen wir umgeben sind, die Nutzen versprechen, die Funktionen erfüllen, und die im Grunde Leerläufe sind, wahnsinnige Leerläufe. Da ist das Fantastische bei Kabakov zum Beispiel oder auch bei Boltanski, bei Oppermann usw. bei Oldenburg, - da ist das Fantastische schon noch virulent."

Werner Hofmanns Darstellung schließt treffend mit einem Tagebucheintrag von Paul Klee 1914:

"Materie und Traum zu gleicher Zeit, und als Drittes ganz hinein verfügt mein Ich. Das muss ja gut werden."

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