Stationen

Mittwoch, 23. Januar 2013

Auflösungsvermögen

"Alles Gescheite ist schon einmal gedacht worden; man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken". Goethe

"Il est clair que le monde est purement parodique, c'est-à-dire que chaque chose qu'on regarde est la parodie d'une autre, ou encore la même chose sous une forme décevante." Georges Bataille

"Es ist schon alles einmal gesagt worden, nur nicht von jedem". Karl Valentin


Fremde Federn finden

 "Das ist nicht nur 'copy and paste', sondern auch die Übersetzung oder die Bearbeitung von einem Text, eine Paraphrase kann auch ein Plagiat sein, wenn die Quelle nicht referenziert ist. Und letzten Endes ist es ganz einfach: Sie müssen sagen, wo fängt die Übernahme an, wo hört die auf und wo habe ich das her. Ich kann es mit Gänsefüßchen machen, ich kann sagen: 'Wie Kant sagt in sowieso, blablabla', und dann am Ende die Fußnote, damit man weiß, jetzt ist es abgeschlossen, da an der Stelle. Ich höre von Studierenden manchmal, wie viel Wörter muss ich ändern, damit es nicht mehr ein Plagiat ist? Es bleibt ein Plagiat. Und dann die Strukturplagiate, also die übernommenen Strukturen von jemand anderem, kann auch ein Plagiat sein, oder eben, wenn man zwar die Fußnote angegeben hat, aber übersehen hat, dass man die Aussage, den Text, die Wortwahl nach wie vor identisch übernommen hat, das ist auch ein Plagiat."

So sieht es Debora Weber-Wulff



"Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gigantea".

So hingegen sieht es Johannes von Salisbury (Metalogicon 3,4,46-50)


Frau Weber-Wulff scheint mir die Sorge ihrer Studenten nicht verstanden zu haben. Die fragen sich zurecht, woher sie die Gewissheit nehmen sollen, dass ihnen nicht irgendjemand die Autorschaft ihrer eigenen Ideen streitig macht, weil er beweisen kann, dieselbe Idee vorher auch schon gehabt zu haben.

Wenn jetzt auch Paraphrasen desselben Inhalts als Plagiat gelten, wird die Grenze unerwartet fließend, weil es jeden Tag Millionen Male vorkommt, dass jemand haargenau dieselbe Idee hat, die ein kluger Kopf bereits vor ihm schon mal hatte und eventuell sogar niederschrieb, nicht selten sogar wortwörtlich mit denselben Worten. Aber soll jemand, der eine Doktorarbeit schreibt, auch das als Zitat kennzeichnen, was er sich selber ausgedacht hat, nur weil eine Paraphrasierungssuchmaschine einen Vorgänger gefunden hat?

Ich glaube nein. Eine Lösung für dieses Dilemma kann wahrscheinlich nur eine Neudefinition von Echtheitskriterien sein. Und es wird keine perfekte Lösung gefunden werden können, sondern nur eine "Annäherung". Paradoxerweise entsteht durch ein Übermaß an Auflösungsvermögen ein unerwarteter Bedarf an Ungenauigkeit. Unsere Sinnesorgane gewährleisten nicht ohne Grund nur eine zielgerichtet selektive Wahrnehmung, und die ist auch noch beschränkt. In der biologischen Evolution wirkt die Selektion als negatives Feedback. Inundanz wird durch austarierte Ungenauigkeit dort ausgeschlossen, wo Genauigkeit zu aufwendig wäre. Wenn nun als Nebenwirkung einer neuen Technologie diese Ungenauigkeit abnimmt, muss sie in Form von programmed fuzzyness wieder erhöht werden, weil sonst Erstarrung durch Stau eintritt. Ein kurioses Dilemma, das aus Frau Weber-Wulffs Antwort, die sich auf den ersten Blick sehr selbstverständlich und vernünftig anhört, eine kurzsichtige Antwort auf eine vorausschauende Frage macht. Ihre Studenten sind zurecht besorgt und desorientiert. Sie scheinen zu wittern, dass auch dann, wenn sie ehrlich und sorgfältig zitieren, die Originalität ihrer Arbeit angezweifelt werden könnte. Liebe Frau Weber-Wulff, was ist es, das Friedrich Smetanas "Moldau" zu einem Original macht, wo doch die Melodie dieselbe von "Alle meine Entchen" in der Varianttonart in Moll ist?

Charles Yves dachte sich unabhängig von Schönberg in Amerika die Atonalität aus, und selbst in der Biologie ist die vielgerühmte Variabilität der Formen begrenzt, weil sich das Leben nur innerhalb bestimmter Grenzen abspielen kann. Ein Beispiel für Wiederholung in der Natur war der Riesenalk (inzwischen ausgestorben) Alca impennis in der Arctis, der den Pinguinen der Antarctis so ähnlich sah, dass er früher Pinguinus impennis hieß, bis festgestellt wurde, dass keinerlei Verwandtschaft besteht. In Frau Weber-Wulffs Augen wäre die Alca impennis ein Plagiat, weil er eine Paraphrase des Pinguins darstellt, so als habe am einen Pol ein Demiurg eine Idee hingeschrieben, ohne zu zitieren, dass er sie am anderen Pol beim lieben Gott abgeschrieben hat.

Der derzeitige Stand der Technologie favorisiert engstirnige Inquisitoren, weil er eine Messbarkeit suggeriert, die nur scheinbar besteht, und der derzeitige Stand der Diskussion verhindert vernünftige Kriterien für die Definition von Echtheit und Originalität, weil er von dieser vermeintlichen Messbarkeit bedingt ist. Wenn erst einmal sämtliche akademisch interessanten Texte online zur Verfügung stehen, wird es derartig von Paraphrasen wimmeln, dass Frau Weber-Wulff zum Opfer ihrer eigenen Kriterien werden könnte. Erstaunt wird sie, die eigentlich auf Johannes von Salesburys Schultern sitzen müsste, sich auf den Schultern anderer, ihr völlig fremder Männer wieder finden.

Tagung an der Universität Mainz



Einsichten auf den Schultern des Vorwissens

13 Kommentare:

  1. Das Zitat von den Zwergen auf den Schultern von Riesen mag im 12. Jahrhundert den einen oder anderen beeindruckt haben, lässt aber vollkommen außer Acht, dass es Erkenntnisse gibt, die lange als unumstößlich geltende Sichtweisen vollkommen über den Haufen werfen und in ihr Gegenteil verkehren.

    AntwortenLöschen
  2. Auch Newton zitierte Johannes von Salesbury, als er sagte, er habe auf der Schulter von Giganten gesessen. Karl Popper zitierte ebenfalls Johannes von Salesbury und hob hervor, in mathematischer Hinsicht unterscheide sich Einsteins umwerfende Theorie von der Newtons einzig und allein darin, dass ersterer mit einer endlichen Lichtgeschwindigkeit arbeite (Peter Havas übersetzte Newtons Theorie in die Einsteinsche Sprache, den Formalismus des sogenannten Tensor-Kalküls, und rechnete alles damit einmal durch).

    Neue Theorien werfen alte nicht einfach um, sondern sie wälzen sie um und bleiben ihrerseits provisorisch (meistens erklären die vorherigen, veralteten Theorien bestimmte Teilphänomene sogar weiterhin besser als die neue, richtigere, vollständigere Theorie). Es gibt im Bereich des belegbaren Wissens absolut nichts, was nicht auf einer enormen Menge vorhandenen Vorwissens aufbaut. Auch heute sind die Giganten nur Zwerge, die auf den Schultern des unwiderlegten Vorwissens sitzen. Das wird sich nie ändern

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Seit Hippokrates bis ins 19. Jahrhundert hinein glaubte man an Miasmen als Ursache von Krankheiten, zuvor hatte man böse Geister dafür verantwortlich gemacht. Erst 1876 gelang Robert Koch anhand des Milzbranderregers der Nachweis, dass allein Mikroben an bestimmten Krankheiten schuld sind.
      In meinen Augen etwas völlig Neues.

      Löschen
    2. Robert Koch saß genauso wie alle anderen Wissenschaftler auch auf den Schultern seiner Vorgänger. Er übernahm deren Vorkenntnisse und zum Teil ihre Fehler. Nicht auszuschließen, dass seine Doktorarbeit heutzutage als Plagiat anzusehen wäre.

      Robert Koch saß auf den Schultern von

      Ignatius Semmelweiß
      Filippo Pacini
      Edward Jenner
      Jan Ingenhousz
      Mary Wortley Montagu
      Francesco Redi

      Um nur einige zu nennen. Pacini wurde nur deshalb nicht in Nordeuropa ernst genommen, weil er geboren wurde, als Italiens Jahrhunderte alte kulturelle Dominanz begann, ihrem Ende entgegen zu gehen und Niflheims Gewicht zunahm. Unter Radetzky wurden nicht nur die Opernlibretti der italienischen Patrioten des Risorgimento zensiert. Der arme Semmelweis hatte es als Jude in Wien noch schwerer (ähnlich wie die Anhänger der "jüdischen Physik" während des Nationalsozialismus): er endete aus Verzweiflung im Irrenhaus, weil selbst Virchow nicht zur Kenntnis nehmen wollte, was Semmelweiß längst bewiesen hatte. Im Gegensatz zu Robert Koch hatte Semmelweis keine Menschenversuche gemacht, wie später Josef Mengele, sondern er stellte voller Mitgefühl seinen guten Ruf aufs Spiel, weil er auf Grund der durch seine Beobachtungsgabe gewonnenen Erkenntnisse hygienische Maßnahmen zum Schutz der Schwangeren vor dem Wochenbettsfieber durchsetzten wollte. Schon 1714 wurde in Istanbul gegen Pocken geimpft. Omne vivum ex ovo sagte Francesco Redi 1668. Umwälzungen wie die von Pasteur und Koch bahnen sich langsam an.

      Löschen
    3. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch diese Geschichte:

      http://de.wikipedia.org/wiki/Embryonenkontroverse

      Löschen
    4. Schon 150 Jahre bevor Francesco "omne vivum ex ovo" feststellte, formulierte https://de.wikipedia.org/wiki/Girolamo_Fracastoro seine Theorie der Krankheitsübertragung durch Keime ("seminaria morbi"). Das war sehr lange bevor Robert Koch beweisen konnte, dass die Reihe all der Giganten, auf deren Schultern er saß, recht hatten.

      Löschen
    5. 2020 kommt eine interessante zusätzliche Vorgängergeschichte ans Licht: https://www.washingtonpost.com/history/2020/12/15/enslaved-african-smallpox-vaccine-coronavirus/ Bei den Afrikanern, die als Sklaven in die USA kamen, war Impfung mit Pockeneiter schon lange eine Gepflogenheit, bevor Herr Koch diese Zauberpraktiken entzaubern konnte.

      Löschen
    6. 1820 untersuchte https://de.wikipedia.org/wiki/Agostino_Bassi bereits die Ursachen der unter Seidenraupen auftretenden Krankheiten und suchte dabei gezielt nach Mikroorganismen. Schon in der Antike gab es Autoren, die der Ansicht waren, nicht Miasmen verbreiteten die Infektionen, sondern "animicula". Nur waren diese Autoren keine Ärzte, sondern aus einem anderen Fach.

      Löschen
    7. Varro zum Beispiel in Rerum rusticarum libri tres empfahl, Landhäuser entfernt von Sümpfen anzulegen, in denen animalia quaedam minuta, quae non possunt oculi consequi leben.

      Löschen
  3. Zur Technologie engstirniger Inquisitoren siehe "Frau Jedermanns Plagiat" in der F.A.Z. vom 23.01.2013

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Die Frage, inwieweit durch Suchmaschinen, die in der Lage sind, Paraphrasen zu erkennen, auch Texte, die gar keine Plagiate sind, für Plagiate gehalten werden können, wird in Jürgen Kaubes Artikel mit keinem Wort berührt.

      Löschen
    2. http://www.handelsblattmachtschule.de/news/index.php?id=1089&cat=&na=1300&page=2

      Löschen
    3. Susan Sontag verteidigte sich vor 20 Jahren einmal gegen Plagiatsvorwürfe mit den Worten: "All of us who deal with real characters in history transcribe and adopt original sources in the original domain. I've used these sources and I've completely transformed them. There's a larger argument to be made that all of literature is a series of references and allusions." Da muss ich ihr ausnahmsweise mal recht geben.

      Löschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.