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Mittwoch, 12. Mai 2010

Glaubwürdigkeit





Die Glaubwürdigkeit hat einen ganz neuen Stellenwert in einer Situation des Pluralismus, in der in einem Ausmaß alles und das Gegenteil von allem behauptet wird, wie es in der Geschichte bisher vielleicht niemals zuvor vorgekommen war. Der Eindruck, dass nicht nur Ansichten über die Wahrheit, sondern sogar die Wahrheit selbst relativ und subjektiv ist, hat noch nie - oder schon sehr lange nicht - so viele Menschen durcheinander gebracht wie heute und schafft ständig mehr Begriffsverwirrung. Es handelt sich hier nicht nur um eine Folge des angeschwollenen Informationsflusses, der mehr Unwahrheiten als Wahrheit befördert, sondern auch um eine Folge der hohen Spezialisierung, die uns alle unausweichlich in hohem Maße dazu zwingt, uns auf das Urteil spezialisierter Dritter und Vierter und X-ter zu verlassen, die sich aber sehr oft untereinander nicht einig sind, obwohl sie derselben Disziplin angehören. Wo man auf Spezialisten angewiesen ist, nutzen viele die Chance, sich als Spezialisten zu profilieren, obwohl sie es nur zur Hälfte sind und sich die Lügen, die sie verkaufen aus den Fingern gesogen haben. Hinzu kommt, dass gerade die Besten eines Faches eher vorsichtig mit ihren Urteilen sind und skrupelhaft unterstreichen, dass die Wissenschaft streng genommen gar nichts weiß und nur Vermutungen und Arbeitshypothesen kennt, weshalb - obwohl jede Expertengruppe eine kompetente Minderheit darstellt - die Mehrheit der Experten, die ihre Überzeugungen kaltschnäuziger vorträgt, leichter Gehör bei der anderen Mehrheit, der des souveränen Volkes, findet als die Minderheit der qualifiziertesten Experten. Ich würde diese Situation als etwas "Neues unter der Sonne" bezeichnen. Ich glaube nicht, dass es seit der Existenz des Menschen häufig vorgekommen ist, dass eine wirklich neue Seite aufgeschlagen wurde, durch die die bis zum jeweiligen Zeitpunkt gültigen "zeitlosen" Wahrheiten ihre Zeitlosigkeit verloren. Wir könnten aber  bei einer solchen Zäsur angekommen sein, vielleicht sogar zum ersten Mal seit Kohelets skeptischem Urteil über das "Neue unter der Sonne", das etwa so alt ist wie das Wissen um die Kugelgestalt der Erde.

Es gibt eine Reihe von ehemals allgemeingültigen, unabhängig von jeder Ideologie immer anwendbaren Regeln, die im Laufe des 20. Jahrhunderts ihre universelle Gültigkeit verloren und nur noch eine bedingte beanspruchen können. Schade, dass die Diskussion über diese Neuheit bisher praktisch überall auf der Welt von erbärmlicher Niveaulosigkeit ist und sich fast immer in Geschwafel über Postmodernität und New Age erschöpft. Sinnbild dieser Zäsur könnte die Chimäre sein.

Kary Mullis
Jean-Baptiste Botul
James Randi

8 Kommentare:

  1. Sie sind Philologe und vergessen die unglaublichen Fortschritte in Richtung naturwissenschaftlicher Wahrheit.
    Dies wird von den wenigsten zur Kenntnis genommen, weil es an diesbezüglicher Bildung fehlt. Würden wir alle über Grundkenntnisse in Chemie verfügen, gäbe es die sog. alternative Medizin oder Naturheilkunde gar nicht.

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  2. Für die wissenschaftliche Praxis und vor allem für bereits g e l ö s t e Probleme ist, was ich sagte, allerdings irrelevant, denn der Nobelpreis und der Japanpreis werden ja nicht per Plebiszit verliehen.

    Diese Preise verlieren aber mit der Zeit ebenfalls an GLAUBWÜRDIGKEIT und orientierender Bedeutung und Ausstrahlung, wenn sie so willkürlich verliehen werden wie der letzte Friedensnobelpreis, wodurch dann indirekt auch der Chemienobelpreis vor dem breiten Publikum ein bisschen an Ansehen und Glaubwürdigkeit verliert, so wie ein Halunke ja auch seine ganze Familie in Misskredit bringt; natürlich nur in Ländern, in denen die Familie nicht den hohen Stellenwert hat, den sie in Italien hat :-). Man kann auch nicht zu allen naturwissenschaftlichen Fragestellungen das nötige Grundwissen haben, so sehr ich ebenfalls Ihrer Meinung bin, dass das Studium generale eine gute Sache ist! Die Zeiten, wo das Studium generale allein (plus im Elternhaus überliefertes bürgerliches Wissen) das Wuchern von Scharlatanen eindämmen konnte, sind aber schon seit Jahrzehnten endgültig vorbei.

    Was ich sagte, betrifft jedenfalls nur die ungelösten Probleme, sowohl private wie öffentliche, des UMGANGs mit der Wissenschaft. Und da im Reich der Spezialisierung Allgemeinwissen Mangelware ist, hat eben auch nicht jeder diese Grundkenntnisse in Chemie und muss sich somit auf die verlassen, die Experten für Chemie sind, wenn es um Chemie geht, zweitens bewahren auch größere Kenntnisse als Grundkenntnisse keinesfalls vor dem geradezu religiösen Glauben an alternative Medizin (und wo die Avogadrosche Zahl ab der x-sten Verdünnung nicht mehr reicht, wird eben behauptet, es sei zu einer "Dynamisierung" gekommen), ein sehnsüchtiger Glaube, der besonders bei religionslosen Menschen zu beobachten ist (das ist nebenbei einer der Gründe, weshalb ich traditionelle (und zwar kastrierte, nicht verweiblichte) Religionen für wichtig halte: sie verhindern, dass sich Glaubenssehnsüchte vollends auf willkürlich ausgesuchte andere Bereiche ausdehnen; bei einem traditionellen Glauben weiß man wenigstens, woran man ist, er ist wie eine Sau, die man in einen Fluss voller Piranjas wirft, damit man ungestört die Furt durchqueren kann) und drittens geht es mir gar nicht so sehr um die Verirrungen der sogenannten alternativen Medizin, der Psychotherapie, Sexuologie und Ernährungswissenschaft, die alle für sich gesehen noch relativ harmlose Bereiche sind, die allerdings auch generell zur Erosion von vernünftigem Konsens und angemessenem Vertrauen beitragen, und Missverständnisse fördern, weil sie die Willkür von Expertenmeinungen zur Alltagserfahrung werden lassen.

    Ich habe aber mehr andere Dinge im Auge, wie die Hysterie und die Notschlachtungen, die die TSE ausgelöst hat, obwohl qualifizierte Experten erklärten, sie seien bereit, sogar ein krankes Rinderhirn zu verzehren. Gleichzeitig warnten andere, weniger qualifizierte Experten, und denen wurde aufmerksamer zugehört.

    Oder man denke an die Gutachten zum Elektrosmog (eine Regierung Prodi verbat im Stadtgebiet von Rom Antennen, während Berlusconis Opposition versuchte zu erklären, dass es unklug sei aus Angst vor Gespenstern ein Haus abzubrechen, von dem Experten für Geisterbeschwörung behaupten, es spuke).

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  3. Oder das Tauziehen von Befürwortern und Gegnern der gentechnisch modifizierten Organismen.

    Oder man denke an den Meinungskrieg in der Klimaforschung im Allgemeinen, der keine Haarspalterei schrulliger Gelehrter hinter staubigen Kulissen mehr ist, sondern von einer lutherischen Physikerin (die im Gegensatz zu G.W. Bush ihre Betgewohnheiten nicht publik macht) zu einem erstrangigen politischen Thema erhoben wurde, bei dem seitens der Techniker bewusste Irreführung stattfindet, und der auf blamable Weise vor einer Weltöffentlichkeit ausgetragen wird und ungeheure wirtschaftliche Interessen berührt. Und ich denke an die Verschwörungstheorien dazu im Speziellen, die es inzwischen sogar unter Geologen gibt.


    Ganz zu schweigen von den Theorien, was die Urheberschaft von 9/11 angeht, bei denen der Wähler auf Gedeih und Verderb auf die Glaubwürdigkeit professioneller und unbestechlicher Beobachter angewiesen ist.

    Oder die Debatten über das Golfkriegssyndrom

    (http://de.wikipedia.org/wiki/Golfkriegssyndrom),

    bei denen politisch links stehende Physiker ganz andere Behauptungen aufstellen, als politisch rechts stehende Physiker. Der damit verbundene GLAUBWÜRDIGKEITSSCHWUND kommt nicht zum Tragen, wenn ein Nobelpreis für Physik verliehen werden muss oder abgereichertes Uran zur Waffenherstellung verwendet wird, weil in beiden Fällen ein effizienter Techniker von anderen kompetenten Technikern ausgewählt wird, aber er kommt dann zum Tragen, wenn im TV das Golfkriegssyndrom debattiert wird und der arme Zuschauer nur konstatieren kann, dass Uneinigkeit herrscht, die weder eindeutig ideologisch ist noch eindeutig wissenschaftlich, wobei die Unterschiede in der wissenschaftlichen Beurteilung der Linie eines ideologischen Verdachts oder Vorurteils zu folgen scheinen.

    In dieser schillernden Situation kommt der Glaubwürdigkeitsschwund zum Tragen, und es entsteht ein Orientationsproblem für die "mündigen Wähler", weil gleichzeitig die Tendenz zu plebiszitärer Beteiligung an gesundheitspolitischen und umweltpolitischen Weichenstellungen zugenommen hat.

    Oder die kritiklose Annahme, die Zunahme der Allergien sei auf Umweltverschmutzung zurückzuführen, die lange wie selbstverständlich von Vertretern der Schulmedizin verbreitet wurde, obwohl nie ein Beweis dafür existierte, so als gälte es, sich bei den Patienten anzubiedern, was eigentlich sonst nur die alternative Medizin tut.

    Oder das Gerangel von pro und contra um die Grippeimpfung kürzlich, oder das einstige Märchen, nur griechische Öltanker gerieten in Gefahr, ihre Fracht ins Meer zu ergießen.

    Oder der unerschütterliche Glaube ans Ozonloch, das vielleicht bereits seit Millionen Jahren existiert einerseits und das Festhalten an Poppers Falsifikationserwartung bis es zu spät sein könnte, andererseits.

    Oder die Unbeirrbarkeit, mit der der doppelte Nobelpreisträger (er hatte Grundkenntnisse in Chemie, glauben Sie mir) Pauling 18 Gramm Vitamin C pro Tag zu sich nahm, weil er glaubte dadurch Krebs vorzubeugen, obwohl schon geringere Dosen von Vitamin C zu Nierensteinen führen können.

    (http://storyarchitekt.blogspot.com/2009/08/wegwerfen.html)

    Später gründete Pauling dann selber noch eine "alternative Medizin", die sogenannte "orthomolekulare Medizin". Die schlimmste aller Gläubigkeiten ist die Wissenschaftsgläubigkeit. Vor allem für die Wissenschaft ist diese Gläubigkeit das Schlimmste.

    (http://de.wikipedia.org/wiki/Orthomolekulare_Medizin).

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  4. Oder die positivistisch zuversichtlichen Erwartungen gegenüber der Auswertung biogenetischer Erkenntnisse. Ich wage eine Vorhersage. Das Tauziehen, das in diesem Bereich durch immer mehr Faktenwissen entstehen wird, wird nicht automatisch abnehmen, bloß weil mehr Fakten bekannt sind. Es wird zunehmen, und zwar nicht nur aus biopolitischen Gründen, sondern aus epistemologischen Gründen. Die Debatte hat gerade erst angefangen.

    (http://www.faz.net/s/Rub268AB64801534CF288DF93BB89F2D797/Doc~E29AA653B7974454DAF5136A9CF04571D~ATpl~Ecommon~Scontent.html?rss_wissen)

    Oder die hochtrabenden, bornierten Schlussfolgerungen in der Hirnforschung, durch die sich peinlicherweise ausgerechnet die deutschen Forscher hervortun, so als säßen sie als epistemologische Zecken im Gehirn wie die Made im Speck.

    Oder die leidige Frage, wohin mit Atommüll, der tausendjährige Halbzeiten besitzt. Die Atomsemiotik denkt in Zeiträumen, denen bisher außer dem Standort von Heiligtümern, der in manchen Fällen während der Abfolge verschiedener Kulturen immerhin ein paar Tausend Jahre lang immer derselbe blieb, kein einziges Kulturprodukt entspricht. Einmal abgesehen von Faustkeilen, die noch länger irgendwo rumgelegen haben können, jedoch unbenutzt.

    (http://de.wikipedia.org/wiki/Atomsemiotik)

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  5. Die naturwissenschaftliche Wahrheit ist das Beste, was wir haben. Es wird aber seit einiger Zeit sehr vieles als Naturwissenschaft unter die Leute gebracht, was es gar nicht ist, und die Naturwissenschaft selbst wird dabei gleichzeitig immer mehr diskreditiert durch eine schleichende Verwischung der Metiers.

    Ich habe ziemlich lange vergeblich darauf gewartet, dass das abklingt, in der Hoffnung, dass BAFöG und immer mehr Bildungsdiffusion auch immer mehr wissenschaftliche Mentalität bedeuten würde.

    Es nahm aber immer nur mehr zu! Und immer mehr nahm auch die Tendenz zu, plebisbizitäre Entscheidungen über tatsächlich naturwissenschaftlich technische Probleme herbeizuführen. Die Wissenschaft selbst leidet unter dieser Entwicklung, denn sie wird immer mehr politisiert.

    Immer öfter entscheiden Bürokraten und Demagogen, welche Forschung finanziert wird, und die Ideologien gelangen mittlerweile auch an die Lehrstühle. In der UdSSR trieb ein Lysenko sein Unwesen, wir machen es inzwischen in immer öfter freiwillig. Immer öfter.

    http://www.faz.net/s/Rub7F74ED2FDF2B439794CC2D664921E7FF/Doc~E523C89F60C644E8D9CCDD816A83CDBEE~ATpl~Ecommon~Scontent.html

    Überschätzen Sie die Technik nicht. Die Technik kommt mit Try and Error auch ohne wissenschaftliche Mentalität sehr weit. Man kann außerdem durchaus ein genialer Softwareexperte sein und in anderen Bereichen den größten Humbug glauben. Aber außer Try and Error gibt es auch in der Technik keine heilsamen selbstregulierenden übergreifenden Mechanismen, wie sie Adam Smith noch für die Wirtschaft idealisieren konnte. Die Situation in Technik und Wirtschaft ist ähnlich: AB EINER GEWISSEN GRÖSSE wird Try and Error gefährlich, egal ob wir alle in eine Krise gerissen werden oder ob auf dem Meeresgrund täglich 800000 Liter Öl ausströmen. Das Symbol des "gemeinsamen Bootes", in dem wir alle sitzen, ist die angeblich unversenkbare Titanic. Und das Seeräuberlied das gesungen wird, ist eine Hymne auf die Machbarkeit. Bewundert sie und lobet sie diese Herrin.

    Mehr als die Transplantationstechniken, die an Menschen angewendet werden, die das Sterben immer mehr verlernen, begeistern mich sehr viel banalere Fortschritte. Es hat in den letzten 45 Jahren fantastische Fortschritte bei Leistenbruchoperationen gegeben, wie ich am eigenen Leib erfahren habe durch mehrere Operationen. Man sollte meinen, die Menschen seien glücklich darüber! Wenn ich begeistert davon erzähle, schaut man mich aber "kritisch" an. Vor 45 Jahren hatten die Menschen mehr Vertrauen in die Schulmedizin als heute, obwohl es weniger Menschen mit Grundbegriffen in Chemie gab. Die Leute waren damals, als viele Leistungen keine Selbstverständlichkeit und dafür schmerzhafter waren, so glücklich, dass ihnen geholfen wurde, dass sie gar nicht auf die Idee kamen, Hilfsangebote pikiert anzuzweifeln oder sogar zurückzuweisen. Heute wird eine Leistung oft gerade deshalb nicht gewürdigt, weil sie so glatt über die Bühne geht.

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  6. Das ist alles nicht so schlimm, solange es das demokratische Gemeinwesen nicht gefährdet. Unser Leben wird aber immer mehr von Informationsverarbeitung abhängen. Wir müssen deshalb in den Schulen besser unterrichten, wie man sich zuverlässig orientiert im Zeitalter von Internet, Globalisierung und Informationsflut. Ob wir wollen oder nicht, auch die enorme Nutzbarkeit, Überzeugungskraft, Evidenz und vor allem Tragweite der Naturwissenschaft trägt durch die Auffächerung in Spezialwissensbereiche dazu bei, dass der Stellenwert der GLAUBWÜRDIGKEIT gestiegen ist und überdacht werden muss und zuverlässige Orientierung neu erlernt werden muss.

    Apropos Chemie http://en.wikipedia.org/wiki/Kary_Mullis

    Mullis hat einmal, als er noch Student war, an die Zeitschrift "Nature" einen spekulativen Artikel geschickt, in dem er behauptete, die Hälfte der Materie des Universums sei in einer zeitlichen Rückwärtsbewegung begriffen. Er hatte sich alles aus den Fingern gesogen, um sich einen Jux zu machen, aber der Artikel wurde abgedruckt. Als er 20 Jahre später die Arbeit, für die er dann den Nobel bekam, an "Nature" schickte, wurde er abgelehnt.

    Mullis ist ein Enfant terrible. Er scheint sich einen Spaß daraus zu machen, die Seriösität der Wissenschaft mit Provokationen zu diskreditieren. Vielleicht leidet er unter einer besonderen Form des Tourette-Syndroms? Vielleicht will er auch - "als Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft" - indirekt durch seine Provokationen zu mehr bewusster Wissenschaftlichkeit auffordern und vor blinder Wissenschaftsgläubigkeit warnen. Er unterstützt Peter Duesbergs AIDS-Leugnung und propagiert Astrologie. Offensichtlich eine Art David Irving oder Noam Chomsky der Naturwissenschaft.

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  7. http://www.faz.net/s/Rub4D6E6242947140018FC1DA8D5E0008C5/Doc~E01DDA6A4CCE44284AC6CE7E6CF49355D~ATpl~Ecommon~Scontent.html?rss_politik

    http://www.faz.net/s/Rub4D8A76D29ABA43699D9E59C0413A582C/Doc~E79E140AF5BFC4759B53C88E49B05BBB4~ATpl~Ecommon~Scontent.html

    Das erste Mal, dass ich den Vorwurf hörte, eine Regierung habe sich durch Buchungstricks eine wirtschaftspolitische Leistung erschummelt, war als Prodi eine Steuer ad hoc einführte, um die Bedingungen des Maastricht-Vertrags zu erfüllen und dabei versprach, er würde die Steuereinnahme später zurückzahlen (was er dann auch tat). Später wurde in Italien dieser Vorwurf aber bald bei jedem Regierungswechsel laut, nachdem Berlusconi wieder dran war und sein Minister Tremonti (der nicht der schlechteste ist) der Öffentlichkeit vorrechnete, er habe ein Schuldenloch in der Buchführung der vorherigen Regierung gefunden, mit dem zu rechnen er nun verdammt sei. Dieser Vorwurf wurde dann auch zur Routine der Gegenseite, sobald Prodi wieder am Ruder war.

    Es gab von da an nie wieder unterschiedliche Ansichten darüber, wie mit objektiven Zahlen umzugehen sei, sondern nur noch "subjektive Zahlen".

    Die Buchführung selbst war plötzlich zu einer von der jeweiligen ideologisch-politischen Weltanschauung abhängigen Variabel geworden. Ich dachte dabei immer, wie schön es sei, dass in Deutschland, wie sonst wohl "überall auf der Welt", natürlich Unneinigkeit über den Umgang mit den Zahlen herrsche, aber immerhin, von Gysi bis zu von Otto Graf Lambsdorff, Einigkeit über die Zahlen herrsche, während in Italien mittlerweile nur noch um die Wette gelogen wurde, welche Zahlen denn die korrekten seien.

    Das kann man sich in Deutschland gar nicht vorstellen, dachte ich jedes Mal. Aber Ende Oktober 2009 war es so weit: italienische Verhältnisse in Deutschland. Plötzlich las ich denselben Vorwurf gegenüber einer deutschen Regierung! Und noch dazu ausgerechnet gegenüber einer Regierung mit Beteiligung der FDP, also gegenüber einer Regierung von der ich eher das Gegenteil erwartet hätte!! Und noch dazu wird dieser Vorwurf nicht von Lafontaine formuliert, sondern vom Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats des Finanzministeriums!!!

    Pfui Teufel!!!!!

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  8. Allergrößtes kompliment!
    Jetzt aber bitte einen Essay schreiben und an Cicero oder sonstwohin schicken!

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