Dienstag, 12. Oktober 2010
Smultronstället - Erdbeereck
"Smultronstället" ist der Titel des wundervollen Films von Bergman, der in der deutschen, spanischen und englischen Version den irreführenden Titel "Wilde Erdbeeren" trägt, was viele Menschen dazu brachte, den Film völlig falsch zu verstehen, unter anderem meinen Bruder (obwohl er ihn vielleicht nie gesehen hat). In Italien heißt dieser Film "Il posto delle fragole", in etwa „Die Stelle, wo es Erdbeeren gibt“, was dem schwedischen Originaltitel sehr nahe kommt. Mit dem ist etwas Kleines, aber herzerwärmend Kostbares gemeint, wie es Kinder kennen, die wissen, an welchem Eck in einem Wald manchmal Walderdbeeren zu finden sind, und dieser Film ist ja eine Rückreise zum Urgrund und den Stationen. In Schweden bezeichnet der Ausdruck "Smultronstället" ganz generell ein kostbares Kleinod, das nicht so leicht zu finden ist. Eine schwedische Freundin bezeichnete einmal ein wunderschönes kleines Restaurant in Settignano als "Smultronstället", um mir zu veranschaulichen, was mit dem Ausdruck gemeint ist.
Der deutsche Titel „Wilde Erdbeeren“ weckt eine dumme Assoziation von Sünde und Erotik, die nichts mit dem Film und den Absichten des Autors zu tun hat. Und das Thema der Dekadenz, das anmaßende Dummköpfe aus einer Art gequälter, militanter Missgunst und im paranoiden Irrglauben, sich (und die wahre Kunst) gegen eine kulturanthropologische Offensive verteidigen zu müssen, in diesen Film hineinlegen, hat erst recht nichts mit dem Film und den Absichten Ingmar Bergmans zu tun.
Als ich 14 Jahre alt war, kam es zu einer grauenhaften, kennzeichnenden Begebenheit. Es war im Sommer des Folgejahres, in dem mein 18 Jahre älterer Bruder sich im Herbst urplötzlich von mir abgewandt hatte und feindselig geworden war, als ich ihm mein damals gerade erwachtes Interesse für klassische Musik und Rockmusik, die sich - wie The Nice oder Jethro Tull - an selbiger orientierten, kundtat. Seine Attacke im Sommer darauf, als ich nach Hause kam und Mutti in der Küche auf der Geschirrspülmaschine sitzend mit klopfendem Herzen von Smultronstället erzählte, gab mir den Rest. Ich hatte den Film gerade in der Schule gesehen, wo manchmal nachmittags welche gezeigt wurden. In diesem Film herrscht eine Atmosphäre, die das Geheimnis des Lebens einfängt und den Zuschauer spüren lässt, wie schnell es vorbei ist und wie kostbar es ist, und wie behutsam man damit umgehen muss.
Ich war von diesem Eindruck erfüllt, wenngleich ich damals noch zu jung war, um den Dialogen ihre Bedeutung in ihrer vollständigen Tragweite zuordnen zu können. Mein Bruder fuhr mich während meiner Erzählung plötzlich mit gehässiger Wucht an und belehrte mich giftig, wenn einem dieser Film gefalle, müsse man krank sein. Wobei kein Zweifel darüber möglich war, dass er mir weh tun wollte und beabsichtigte, mich durch Schmerz zu einer Richtungsänderung zu bewegen. Sein "pädagogisches" Anliegen stellte sich als Vorwand heraus. In Wirklichkeit verstieß er mich. Denn um Gnade vor seinen "pädagogischen" Augen finden zu können, hätte ich stammelnd beteuern müssen, er hätte ja nur allzu Recht, Bergman sei pervers, sein Film sei entartete Kunst, und ich bereute, keine Abscheu beim Ansehen des Films empfunden zu haben und würde mich von nun an nur noch für Liselotte Pulver und Curt Goetz begeistern.
Ich glaube, ich hätte als verantwortlicher und gereifter Mann (und Taufpate) im Alter von 32 Jahren einen 14-jährigen Jungen, der noch so jung ist, vor einem Autor wie Bergmann gewarnt, und dass ein so junger Mensch von diesem Film angezogen war, hätte sicherlich meine Besorgnis geweckt. Ich hätte vorsichtig geprüft, ob alles in Ordnung sei und evt. versucht, ihn behutsam vor irrigen Deutungen zu wappnen (vor allem, wenn es mein kleiner Bruder ist).
34 Jahre später erzählte er mir unaufgefordert bei unserem ersten gemeinsamen Waldspaziergang seit damals, dass einer seiner Kollegen, wenn er in den Stall kam, den Kälbern erst mal eins mit dem Stock überzog, wobei ich sofort an diese "Bergmanszene" zurückdenken musste, denn wir waren zweifellos beim Thema. Es fehlten nur noch die Erdbeeren. Diese Szene seelischer Grausamkeit ist eine Szene unserer Familie, sie kommt in keinem Bergmanfilm vor, sondern in der Wirklichkeit der protestantischen Familie K, und sie wurde durch die bloße Erwähnung Bergmans und eines seiner Filme ausgelöst. So stark kann die wahrheitsweckende Wirkung des akurat und unerbittlich ehrlich beschreibenden protestantisch geprägten Stimmungsbarometers Bergman sein. Ernst Jünger, der mit ähnlichen Schmähungen wie Bergman leben musste, sagte einmal "Nach dem Erdbeben wird auf die Seismographen eingeschlagen". Jetzt fehlt nur noch ein Sprichwort, um den Stromkreis zu schließen und meinen Bruder für den elektrischen Schlag aufzuladen: "Kindermund tut Wahrheit kund". Heute kann ich sagen, wenn damals jemand krank war, dann eindeutig er, der sich inzwischen dem Alter des Protagonisten von Smultronstället nähert und wie sein Vater durch Arteriosklerose vor kathartischer Einsicht bewahrt bleiben wird. Und ich habe es endgültig satt, mich von ihm herabwürdigen zu lassen.
Der Mann mit dem sanften Lächeln
Das zugedeckte Pferd
Anchiseskomplex
GESUNDHEIT UND NORMALITÄT IN EUROPA - ein Überblick
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