Stationen

Sonntag, 21. März 2010

Der Mann mit dem sanften Lächeln

Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand sein Kind mehr lieben könnte, als meine Eltern mich liebten, und die Liebe, die ich für sie empfand war genauso übermäßig. Mein Patenonkel war ein Wissenschaftler, der in der Erdölindustrie tätig war, der Patenonkel meines Bruders ein kameradschaftlicher Offizier ohne ekzessive Berührungsangst gegenüber dem Kreis des Widerstands und erinnert mich etwas an die Auswahlkriterien der Wehrmacht, die einen Offizier manchmal gerade deshalb fördernd im Auge behielt, weil er eine Prise Ungehorsam besaß. Meine Schwester erblickte das Licht der Welt, weil mein Vater auf dem Russlandfeldzug Lungenentzündung bekommen hatte, es die Sulfonamide schon gab und er sich als Rekonvaleszent 1942 für längere Zeit in Berlin aufhielt.
Wir nehmen uns alle drei gegenseitig nicht ganz für voll. Das Geschwisterpaar unter sich nicht, und die beiden mich unzeitgemäßes Einzelkind erst recht nicht, und ich die beiden schon gar nicht. Mein Bruder wurde 1939 geboren und meine Schwester 1943. Wir haben dieselben biologischen Eltern, und doch haben wir nicht dieselben Eltern. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, aber er fällt manchmal sehr weit vom Ross der Zeit, wenn es mit ständig wachsender Geschwindigkeit den Horizont entlanggaloppiert. Die jeweilige Zeitzugehörigkeit schuf zwei versetzte Familienzugehörigkeiten, die sich in derselben Familie überlappen und entpuppen sollten und mir das Familienleben bald zum Alptraum werden ließ. Was mich von meinen Geschwistern trennt, ist nicht so sehr der an sich schon sehr große Altersunterschied - auch Konrad Lorenz hatte einen Bruder, der 18 Jahre älter war, genau wie ich -, sondern  nichts geringeres als der Zweite Weltkrieg.
Meine Geschwister wurden vor und während des Krieges geboren und sind Flüchtlingskinder, ich dagegen wurde zum Nestflüchter.

Der Taufpate meiner Schwester war Offizier beim Wachbataillon in Berlin und in enger Verbindung zum Führerhauptquartier tätig, wie meine Mutter mir mitteilte, als mein Vater bereits seit über zehn Jahren verstorben war, und sie selbst über 80.

Ein sanft lächelndes, schwarz-weißes Portraitfoto dieses Mannes, in eleganter, gut sitzender NS-Uniform, hing Jahrzehnte lang über dem Schreibtisch meines Vaters, und später, als er pensioniert war, weitere Jahrzehnte über dem Sofa im Wohnzimmer, wo man das Ticken der Wanduhr deutlicher hörte.
Er war bei Kriegsende in Berlin ums Leben gekommen, als meine Schwester 2 Jahre alt war. Erwähnt wurde er nie. Es sei denn, ich stellte eine kleine Frage. Mir war der Mann mit dem liebenswerten Lächeln sympathisch. Sein offenkundiges Zartgefühl weckte meine Zuneigung, und schon als ich noch ein Kind war, spürte ich, dass dieser Mann meinem Vater auf angenehme Weise ähnelte. Ich werde nie vergessen, mit welcher Verehrung mein Vater von ihm sprach, als er mir zum ersten Mal auf meine Fragen antwortete, aus denen ich betrübt und nostalgisch sehnsüchtig schließen musste, dass ich den Mann mit dem netten Lächeln nie kennenlernen würde, weil er schon gestorben war.

Es waren Vatis erste Erzählungen. Ich war vier Jahre alt, als Kennedy Präsident wurde, die Russen den ersten bemannten Raumflug absolvierten und die Berliner Mauer gebaut wurde. Schon als dreijähriges Kind hatte ich angefangen, in den Fotoalben von Alt Küstrinchen zu blättern und mir vorzustellen, dort auf dem Bauernhof an der Oder zu spielen. Als ich 16 Jahre später dann mit den Eltern dorthin fuhr, kannte ich mich fast so gut aus, als wenn ich tatsächlich als Kind dort gespielt hätte!

Alles war so sehr heruntergekommen dort 1977, dass es aussah, als sei der Krieg gerade erst gestern zu Ende gewesen. Der polnische Bauer zeigte uns die Medaillen, die er für seine Arbeitsleistungen erhalten hatte. Es war erschütternd und sprach Bände über sein erbärmliches Leben und die Erbärmlichkeit eines Wirtschafts- und Organisationssysthems. Am Vorabend im Hotel hatte ich im DDR-Rundfunk gehört, Pinochet habe gesagt, die BRD stehe seiner Regierung am nächsten. Während ich mich auf dem einstigen Hof meines Großvaters umschaute und den Verfall las, fragte ich mich, wie Allende sich die Entwicklung Chiles wohl vorgestellt hatte. Verstaatlichung ist Verstaatlichung, egal, ob sie ein demokratisch gewählter Allende durchführt oder jemand, der die Regierungsmacht mit Gewalt ergreift, wie Castro. Und der Sozialismus wird durch demokratische Wahlen noch lange nicht zu einem vernünftigen Projekt. Die Zerstörung der Arbeitskultur durch Verflüchtigung der Verantwortlichkeit ist das wirklich Schlimme, die Brutalität ist nur eine logische Konsequenz dieses Schwundes, und ihr Fehlen - wie im Fall Allendes - eine Anomalie, die keineswegs vertraueneinflößend zu sein braucht. Im Gegenteil. Anscheinend wirkte sie aber bei Allende vertraueneinflößend. Dieser Mann hatte offensichtlich etwas Besonderes. Etwas, das mehr war als seine wehmütigen Augen, sein zärtlicher, fürsorglicher Blick und sein sanftes, bitteres Lächeln.

"Und dann war der Friede da.", schloss Vati mit wundervollem Lächeln seine kurze Geschichte. Ich werde nie vergessen, wie er das Wort "Friede" bei diesen Gelegenheiten aussprach. Auch er liebte es, seinem kleinen vierjährigen Sohn diese Geschichte zu erzählen und kam daher gerne auf sie zurück, wenn ich ihm mein Interesse dafür zeigte. Er saß in seiner hellgrauen Latzhose, die er bei der Arbeit als Landtierarzt tagsüber immer trug, vor dem Schreibtisch und unterbrach seine Schreibarbeit einen Augenblick lang, um sich mit dem Kugelschreiber in der Hand mir zu zu wenden. Links oben schaute das Portrait seines Freundes vom Wachbataillon uns lächelnd zu. Ich versuchte, mir vorzustellen, was er mir erzählte und sah bei seinen Worten die Dinge immer wie auf einem imaginären Bildschirm an der Wand rechts hinter ihm vor dem Rollschrank auftauchen.

Unten im Tal, kurz vor der Brücke, entlang des Baches, sah man, wenn man sich nach links wendete, eine Wiese, deren Gras so hoch war, dass es mir in meinem damaligen Alter über den Kopf reichte. In der Sommerhitze hörte man die Bienen summen und spürte die Trockenheit der Jahreszeit, und die Wiese wirkte unermesslich weit, sonnig und undurchdringlich auf mich. Links dahinter lag dunkel der Wald in ein paar hundert Metern und schien mir in weiter Ferne zu liegen, so weit wie Alt Küstrinchen und der Krieg. Denn ich kannte diesen Teil meines Heimatstädtchens noch nicht. Waldspaziergänge machten wir manchmal woanders. Rechts der Wiese floss, wie gesagt, der Bach an ihr entlang, der damals wegen der ungeklärten Abwässer noch stank und nicht zum Verweilen einlud. Merkwürdig ist, dass diese Wiese im Sommer in meinem damaligen Alter auch etwas langweilig auf mich wirkte. So ähnlich, wie die feierliche Friedlichkeit von Sonntagen in der Provinz - also etwas, was man mit vier Jahren noch nicht kennt - auf uns erwachsene Menschen manchmal langweilig wirken kann. Es wäre anders gewesen, wenn der Bach nicht schmutzig und stinkend gewesen wäre, sondern sauber und voller Fische wie die Oder in Alt Küstrinchen. So aber war es nur eine Wiese, die ich mit Weite, Stille, Bienensummen, Sonne und mit der Beendigung des Kriegsgeschehens in Verbindung brachte.

Ich empfand eine bemerkenswerte Ehrfurcht für diese Wiese, und jedes Mal, wenn mein Vater das Wort "Friede" aussprach, tauchte vor meinem geistigen Auge das Bild dieser Wiese an der Wand im Arbeitszimmer meines Vaters auf und wurde dadurch für mich zum Symbol des Friedens. Auch später weckte der Begriff "Friede" über 30 Jahre lang, jedes Mal, wenn ich auf ihn stieß, die Erinnerung an die Stimme meines Vaters und an diese Wiese, die ich damals wie an die Wand seines Arbeitszimmers projiziert vor meinem geistigen Kinderauge sah.


Damals, als ich vier Jahre alt war und Vati die ersten Male auf den Krieg zu sprechen kam, fragte ich ihn einmal, ob er auch eine Waffe gehabt hätte... Ja, Und ob er damit auch geschossen hätte... Nein. Er erklärte mir, dass er nie dort war, wo man mit dem Feind in Berührung kommt, sondern immer nur "weiter hinten". Ich war etwas enttäuscht. Teils, weil ich mir mehr Klarheit und Anschaulichkeit wünschte, teils weil weil man schon als Kind Langweile gegenüber Domestizierung empfinden kann. Damals wusste ich noch nicht, wie schön es ist, einen unschuldigen Vater zu haben.

In unserer Familie wurde die Shoah als sowjetische Propagandalüge oder als taktische Lüge der Siegermächte oder als Cui-prodest-Lüge der Juden angesehen und das Thema in Jahrzehnten kaum jemals gestreift, geschweige denn ausdrücklich erwähnt oder besprochen.

Es ist völlig unmöglich, das Thema Wahrheit, Ehrlichkeit, Unlauterkeit, Redlichkeit, Verdrehung und Verlogenheit in unserer Familie zu erörtern, ohne auf Hitler und die Shoah Bezug zu nehmen und auch Israel wenigstens am Rande immer wieder zu streifen.

Prioritätsstufen

Hitler wurde immer nur in einem verkorksten Zusammenhang thematisiert und gedacht, in dem mein treuer, gesetzestreuer, gewissenhafter Vater sein Leben lang per Treueeid an Hitler gekettet war, meine Geschwister dem Gehorsam und der Achtung gegenüber den Eltern immer Vorrang vor der Wahrhaftigkeit einräumten, das 4. Gebot gegenüber der Forderung von Jesus „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert“ (Matth.10.37) seinerseits Vorrang hatte und jede Abweichung von diesem Moralisierungsgefälle als Undankbarkeit gebranntmarkt wurde.

Der sich da im Matthäusevangelium so peremptorisch ausdrückte, war aber angeblich die “Wahrheit und das Licht”, deshalb klammerte ich mich in meiner Jugend an diesen Satz. Ohne dieses Anzapfen des heiligsten Bereichs unserer kulturellen Wurzeln hätte ich meine Jugend vielleicht nicht überlebt.

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