Stationen

Dienstag, 23. Dezember 2014

CONTRARIA SVNT COMPLEMENTA

Es ist schon oft vorgekommen, dass ich einem Autor, dessen Buch ich eben las, nur zu gern meine Bewunderung ausgedrückt hätte; vor einigen wäre ich womöglich gar auf die Knie gegangen. Seit kurzem kenne ich nunmehr auch den Wunsch, einem Schriftsteller die Hände zu streicheln. Ich spreche von Wassili Grossman und seinem Weltkriegs-Epos "Leben und Schicksal".

Im Zentrum des Romans steht die Schlacht um Stalingrad, aber mindestens die Hälfte des Buches spielt in der Etappe, in Moskau und anderen russischen Städten, in Laboratorien, in der Lubjanka und vor allem in deutschen und russischen Konzentrationslagern. Grossmans Sprache wechselt zwischen lakonischen Beschreibungen und erschütternden Reflexionen, es ist die ewige Sprache der Dichter, in welcher sich ein einfaches Wort im rechten Moment zu majestätischer Höhe aufzurichten vermag. Alles an diesem Buch ist groß, die Kraft und die Trauer, aber auch die Niedrigkeit und die Schwäche, die Treulosigkeit und der Verrat; am größten allerdings sind der unbestechliche Blick und die Unparteilichkeit des Autors. Wir sehen das von Stalin und seinen bolschewistischen Halunken vergewaltigte große Russland bei seinem verzweifelten Kampf gegen die deutschen Eindringlinge, dies unselige Volk, das zwischen die Fronten der beiden monströsesten politischen Systeme seiner Zeit geraten war. Wir werden Zeugen der großen Hoffnungen, die sich an diesen Volkskrieg knüpften, der grausam zertretenen Illusion, es werde danach sozialer Friede und eine gewisse Dankbarkeit der Machthaber gegenüber dem sein Blut hingebenden Volke herrschen. Wir erleben das schreckliche Klima gegenseitiger Bespitzelung, in dem jeder jeden denunzierte, die entsetzliche Welt der Lager, hüben wie drüben, und die zermalmende Gewalt des Krieges, der das Personal eines ganzen Erzählstranges in einem Satz auslöscht. Und wir erleben, wie der einstige Bolschewik, aber vom Kommunismus schließlich gründlich kurierte Jude Grossman, der die Veröffentlichung seines vom KGB beschlagnahmten Romanmanuskriptes nicht erleben durfte, einen reaktionären christlichen Kulakenabkömmling mit dem sprechenden Namen Ikonnikov die Quintessenz des ganzen Werkes sprechen lässt, bevor die Nazis auch ihn erschießen, nämlich:

"Ich habe meinen Glauben in der Hölle gehärtet. Mein Glaube ist aus dem Feuer der Verbrennungsöfen geboren, hat den Beton der Gaskammern durchstoßen. Ich habe erkannt, dass nicht der Mensch machtlos ist gegenüber dem Bösen, sondern das mächtige Böse ist machtlos gegenüber dem Menschen. In der Ohnmacht der gedankenlosen Güte liegt das Geheimnis ihrer Unsterblichkeit. Sie ist unbesiegbar. Je einfältiger, unbedachter und hilfloser sie ist, desto mächtiger ist sie. Vor ihr schwindet die Macht des Bösen: Propheten, Prediger, Reformatoren, Führer – sie alle sind ihr gegenüber machtlos. Sie ist die blinde, stumme Liebe – der Sinn des Menschen. (...) Wenn selbst unter den heutigen Bedingungen das Menschliche im Menschen nicht abgetötet werden kann, dann kann und wird das Böse niemals den Sieg davontragen."

Was Grossman indes nicht hindert, festzustellen: "Man muss auch darüber nachdenken, was ein Mensch erdulden und erfahren musste, damit er über die Gewissheit seiner baldigen Hinrichtung glücklich war. Darüber sollten einmal viele Menschen nachdenken, besonders diejenigen, die zu Belehrungen darüber neigen, wie man gegen die Umstände hätte ankämpfen müssen, von denen diese hohlköpfigen Schulmeister durch einen glücklichen Zufall keine Ahnung haben."

Überhaupt bewegt sich der Zeitzeuge Grossman auf einer Höhe verstehender Objektivität, die man heutzutage und hierzulande vergeblich sucht. Der deutsche Leutnant Bach etwa verachtet die Nationalsozialisten, er findet vor allem die "Arisierung" der Naturwissenschaften lächerlich (so wie auf der Gegenseite der Physiker Strum ihre "Sowjetisierung"), doch in Stalingrad, als Mitglied eines mit übermenschlicher Energie kämpfenden Großorganismus namens 6. Armee, verspürt Bach auf einmal den Wunsch, in die NSDAP einzutreten – welcher deutsche Autor wagte einen solchen tiefen Blick in die seelischen Ursachen heroischer Kraftentfaltungen im Dienste einer abscheulichen Ideologie? "Ihr werdet stets unsere Lehrmeister sein und zugleich unsere Schüler. Wir werden gemeinsam denken", sagt der SS-Sturmbannführer zum gefangenen Bolschewiken, bei Grossman und in der Wirklichkeit.

Eminent festhaltenswert ist das Zusammentreffen eines Wehrmachtssoldaten und einer Zivilistin bei der Suche nach Nahrung im Frost des Stalingrader Kriegswinters.
   "Hinter einer Steinmauer kam eine hochgewachsene alte Frau in einem zerlumpten, mit einem Strick gegürteten Herrenmantel und schiefgetretenen Männerstiefeln hervor. Sie ging, auf den Boden starrend, auf den Soldaten zu und stocherte mit einem Haken aus dickem Draht im Schnee.
   Sie bemerkten einander, ohne den Kopf zu heben, an den Schatten, die sich auf dem Schnee trafen.
   Der hünenhafte Deutsche hob den Kopf, sah die Alte an, hielt ihr ein durchlöchertes, gefrorenes Kohlblatt hin und sagte langsam und feierlich: ‚Guten Tag, Madame!’
   Die Alte schob ohne Hast das zerlumpte Tuch, das ihr in die Stirn gerutscht war, zurück, betrachtete den Soldaten mit dunklen, gütigen, klugen Augen und antwortete langsam und majestätisch: ‚Guten Tag, mein Herr!’
   Das war eine Begegnung auf allerhöchster Ebene, eine Begegnung zwischen den Vertretern zweier großer Völker."

Man hat Grossmans Roman schon frühzeitig mit Tolstois "Krieg und Frieden" verglichen; die Schilderung des russischen Kampfes gegen einen Aggressor, der Wechsel zwischen ziviler und Frontperspektive, der Titel, der schiere Umfang sowie die Konzentration auf das Schicksal zweier Familien, all das verweist auf den bedeutenden Vorgänger. Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied zwischen beiden: Während Grossman den deutsch-russischen Krieg und den Stalinismus aus eigener Erfahrung beschreibt, schildert Tolstoi den Napoleon-Feldzug und die zeitgenössische russische Gesellschaft aus der Perspektive des Nachgeborenen; er schreibt über einen Krieg, an dem er selber nicht teilgenommen hat.

In diesem Belang ähnelt "Krieg und Frieden" wiederum eher dem anderen Jahrhundertroman über den Zweiten Weltkrieg, Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten". Littells Opus fand in den deutschsprachigen Feuilletons wenig Anerkennung, im Gegenteil, die auf Betroffenheitssimulation konditionierten Rezensenten hechelten nahezu unisono Betroffenheit, und manche bellten "Gefahr", so dürfe man über den Holocaust nicht schreiben etc. pp., was eben von totemistischen Primitiven zur Verteidigung ihrer Kulte so vorgetragen wird. Da es Feuilletonisten waren, lieferten sie auch scheinästhetische Argumente gegen den Roman. Man fand es unter anderem deplaciert, dass Littell seinen allzu gebildeten SS-Massenmörder obendrein zum homosexuellen sowie inzestuös der Schwester verfallenen Mutter- und Stiefvatermörder stilisiert und ihn gar am Ende des Romans bei einer Ordensverleihung im belagerten Berlin dem Führer in die Nase beißen lässt, dass der Autor also sowohl die klassische Tragödie, näherhin die "Orestie", als auch Comic-Elemente in seine ansonsten historischen Schilderungen verwurstet. Die Pointe entging ihnen, nämlich dass dies alles im Gedröhne des Untergangs überhaupt nicht auffällt. Wer hätte vor Littell geglaubt, dass eine solche Szene wie der spontane Biss in Hitlers Nase in einem seriösen Roman überhaupt möglich sei? Was uns der Autor nach meiner bescheidenen Ansicht demonstrieren wollte, war dies: Klassische Tragödie, Muttermord, Stiefvaterbeseitigung, Inzest, eine Beiß-Attacke auf den Diktator – all das ist nicht einmal nebensächlich, ist vernachlässigbar, nicht der Rede wert, allenfalls mikroskopisch sichtbar inmitten der gewaltigsten und zerstörerischsten Kraftentfaltung der bisherigen Menschheitsgeschichte, inmitten der Höllenfahrt des Dritten Reichs. Die ungeheuerliche zerstörerische kinetische Energie des zweiten deutschen Krieges gegen den Rest der Welt führt Littells Buch immerhin eindrucksvoll vor Augen, man ist wie erschlagen von ihm und beginnt zu verstehen, wieviel Kraft der Welt und speziell den Deutschen damals verlorenging und dass der Planet nach dieser Explosion nicht mehr derselbe sein konnte.

Auch durch "Leben und Schicksal" tost diese entfesselte Energie, die zu gewaltig ist, um mit moralischen Kategorien erfasst zu werden und eine andere Welt hinterlassen wird. Da Grossman fast ausschließlich aus der Warte der "einfachen" Russen (und zuweilen auch Deutschen) schreibt, der Frontkämpfer, Lagerhäftlinge und Lebensmittelkartenempfänger, während sich sein kanadischer Nachfolger die ungleich heiklere Perspektive eines Massenmordmittäters zu eigen machte, ist der Roman des Russen natürlich weitaus ergreifender. Es ist unglaublich, mit wieviel Takt, Zartgefühl und Zurückhaltung Grossman, der seiner von deutschen Einsatzgruppen ermordeten Mutter noch lange nach ihrem Tod Briefe schrieb, um mit seinem Kummer fertigzuwerden, den Ankunft einer Gruppe Todgeweihter in Auschwitz auf dem letzten Weg bis in die Gaskammer verfolgt; allein diese wenigen Seiten rechtfertigen die Aufnahme des Autors unter die Unsterblichen. In seinem Fall lag die Kritik mit der Nobilitierung von "Leben und Schicksal" zum Jahrhundertroman vollkommen richtig.
Beide Bücher werden bleiben. Es sind Komplementärromane.

Klonovsky AM 20. 12. 2014

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