Es ist schon oft vorgekommen, dass ich einem Autor, dessen Buch ich
eben las, nur zu gern meine Bewunderung ausgedrückt hätte; vor einigen
wäre ich womöglich gar auf die Knie gegangen. Seit kurzem kenne ich
nunmehr auch den Wunsch, einem Schriftsteller die Hände zu streicheln.
Ich spreche von Wassili Grossman und seinem Weltkriegs-Epos "Leben und
Schicksal".
Im Zentrum des Romans steht die Schlacht um
Stalingrad, aber mindestens die Hälfte des Buches spielt in der Etappe,
in Moskau und anderen russischen Städten, in Laboratorien, in der
Lubjanka und vor allem in deutschen und russischen Konzentrationslagern.
Grossmans Sprache wechselt zwischen lakonischen Beschreibungen und
erschütternden Reflexionen, es ist die ewige Sprache der Dichter, in
welcher sich ein einfaches Wort im rechten Moment zu majestätischer Höhe
aufzurichten vermag. Alles an diesem Buch ist groß, die Kraft und die
Trauer, aber auch die Niedrigkeit und die Schwäche, die Treulosigkeit
und der Verrat; am größten allerdings sind der unbestechliche Blick und
die Unparteilichkeit des Autors. Wir sehen das von Stalin und seinen
bolschewistischen Halunken vergewaltigte große Russland bei seinem
verzweifelten Kampf gegen die deutschen Eindringlinge, dies unselige
Volk, das zwischen die Fronten der beiden monströsesten politischen
Systeme seiner Zeit geraten war. Wir werden Zeugen der großen
Hoffnungen, die sich an diesen Volkskrieg knüpften, der grausam
zertretenen Illusion, es werde danach sozialer Friede und eine gewisse
Dankbarkeit der Machthaber gegenüber dem sein Blut hingebenden Volke
herrschen. Wir erleben das schreckliche Klima gegenseitiger
Bespitzelung, in dem jeder jeden denunzierte, die entsetzliche Welt der
Lager, hüben wie drüben, und die zermalmende Gewalt des Krieges, der das
Personal eines ganzen Erzählstranges in einem Satz auslöscht. Und wir
erleben, wie der einstige Bolschewik, aber vom Kommunismus schließlich
gründlich kurierte Jude Grossman, der die Veröffentlichung seines vom
KGB beschlagnahmten Romanmanuskriptes nicht erleben durfte, einen
reaktionären christlichen Kulakenabkömmling mit dem sprechenden Namen
Ikonnikov die Quintessenz des ganzen Werkes sprechen lässt, bevor die
Nazis auch ihn erschießen, nämlich:
"Ich habe meinen Glauben in
der Hölle gehärtet. Mein Glaube ist aus dem Feuer der Verbrennungsöfen
geboren, hat den Beton der Gaskammern durchstoßen. Ich habe erkannt,
dass nicht der Mensch machtlos ist gegenüber dem Bösen, sondern das
mächtige Böse ist machtlos gegenüber dem Menschen. In der Ohnmacht der
gedankenlosen Güte liegt das Geheimnis ihrer Unsterblichkeit. Sie ist
unbesiegbar. Je einfältiger, unbedachter und hilfloser sie ist, desto
mächtiger ist sie. Vor ihr schwindet die Macht des Bösen: Propheten,
Prediger, Reformatoren, Führer – sie alle sind ihr gegenüber machtlos.
Sie ist die blinde, stumme Liebe – der Sinn des Menschen. (...) Wenn
selbst unter den heutigen Bedingungen das Menschliche im Menschen nicht
abgetötet werden kann, dann kann und wird das Böse niemals den Sieg
davontragen."
Was Grossman indes nicht hindert, festzustellen:
"Man muss auch darüber nachdenken, was ein Mensch erdulden und erfahren
musste, damit er über die Gewissheit seiner baldigen Hinrichtung
glücklich war. Darüber sollten einmal viele Menschen nachdenken,
besonders diejenigen, die zu Belehrungen darüber neigen, wie man gegen
die Umstände hätte ankämpfen müssen, von denen diese hohlköpfigen
Schulmeister durch einen glücklichen Zufall keine Ahnung haben."
Überhaupt bewegt sich der Zeitzeuge Grossman auf einer Höhe
verstehender Objektivität, die man heutzutage und hierzulande vergeblich
sucht. Der deutsche Leutnant Bach etwa verachtet die
Nationalsozialisten, er findet vor allem die "Arisierung" der
Naturwissenschaften lächerlich (so wie auf der Gegenseite der Physiker
Strum ihre "Sowjetisierung"), doch in Stalingrad, als Mitglied eines mit
übermenschlicher Energie kämpfenden Großorganismus namens 6. Armee,
verspürt Bach auf einmal den Wunsch, in die NSDAP einzutreten – welcher
deutsche Autor wagte einen solchen tiefen Blick in die seelischen
Ursachen heroischer Kraftentfaltungen im Dienste einer abscheulichen
Ideologie? "Ihr werdet stets unsere Lehrmeister sein und zugleich unsere
Schüler. Wir werden gemeinsam denken", sagt der SS-Sturmbannführer zum
gefangenen Bolschewiken, bei Grossman und in der Wirklichkeit.
Eminent festhaltenswert ist das Zusammentreffen eines Wehrmachtssoldaten
und einer Zivilistin bei der Suche nach Nahrung im Frost des
Stalingrader Kriegswinters.
"Hinter einer Steinmauer kam eine
hochgewachsene alte Frau in einem zerlumpten, mit einem Strick
gegürteten Herrenmantel und schiefgetretenen Männerstiefeln hervor. Sie
ging, auf den Boden starrend, auf den Soldaten zu und stocherte mit
einem Haken aus dickem Draht im Schnee.
Sie bemerkten einander, ohne den Kopf zu heben, an den Schatten, die sich auf dem Schnee trafen.
Der hünenhafte Deutsche hob den Kopf, sah die Alte an, hielt ihr ein
durchlöchertes, gefrorenes Kohlblatt hin und sagte langsam und
feierlich: ‚Guten Tag, Madame!’
Die Alte schob ohne Hast das
zerlumpte Tuch, das ihr in die Stirn gerutscht war, zurück, betrachtete
den Soldaten mit dunklen, gütigen, klugen Augen und antwortete langsam
und majestätisch: ‚Guten Tag, mein Herr!’
Das war eine Begegnung auf allerhöchster Ebene, eine Begegnung zwischen den Vertretern zweier großer Völker."
Man hat Grossmans Roman schon frühzeitig mit Tolstois "Krieg und
Frieden" verglichen; die Schilderung des russischen Kampfes gegen einen
Aggressor, der Wechsel zwischen ziviler und Frontperspektive, der Titel,
der schiere Umfang sowie die Konzentration auf das Schicksal zweier
Familien, all das verweist auf den bedeutenden Vorgänger. Allerdings
besteht ein wichtiger Unterschied zwischen beiden: Während Grossman den
deutsch-russischen Krieg und den Stalinismus aus eigener Erfahrung
beschreibt, schildert Tolstoi den Napoleon-Feldzug und die
zeitgenössische russische Gesellschaft aus der Perspektive des
Nachgeborenen; er schreibt über einen Krieg, an dem er selber nicht
teilgenommen hat.
In diesem Belang ähnelt "Krieg und Frieden"
wiederum eher dem anderen Jahrhundertroman über den Zweiten Weltkrieg, Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten". Littells Opus fand in den
deutschsprachigen Feuilletons wenig Anerkennung, im Gegenteil, die auf
Betroffenheitssimulation konditionierten Rezensenten hechelten nahezu
unisono Betroffenheit, und manche bellten "Gefahr", so dürfe man über
den Holocaust nicht schreiben etc. pp., was eben von totemistischen
Primitiven zur Verteidigung ihrer Kulte so vorgetragen wird. Da es
Feuilletonisten waren, lieferten sie auch scheinästhetische Argumente
gegen den Roman. Man fand es unter anderem deplaciert, dass Littell
seinen allzu gebildeten SS-Massenmörder obendrein zum homosexuellen
sowie inzestuös der Schwester verfallenen Mutter- und Stiefvatermörder
stilisiert und ihn gar am Ende des Romans bei einer Ordensverleihung im
belagerten Berlin dem Führer in die Nase beißen lässt, dass der Autor
also sowohl die klassische Tragödie, näherhin die "Orestie", als auch
Comic-Elemente in seine ansonsten historischen Schilderungen verwurstet.
Die Pointe entging ihnen, nämlich dass dies alles im Gedröhne des
Untergangs überhaupt nicht auffällt. Wer hätte vor Littell geglaubt,
dass eine solche Szene wie der spontane Biss in Hitlers Nase in einem
seriösen Roman überhaupt möglich sei? Was uns der Autor nach meiner
bescheidenen Ansicht demonstrieren wollte, war dies: Klassische
Tragödie, Muttermord, Stiefvaterbeseitigung, Inzest, eine Beiß-Attacke
auf den Diktator – all das ist nicht einmal nebensächlich, ist
vernachlässigbar, nicht der Rede wert, allenfalls mikroskopisch sichtbar
inmitten der gewaltigsten und zerstörerischsten Kraftentfaltung der
bisherigen Menschheitsgeschichte, inmitten der Höllenfahrt des Dritten
Reichs. Die ungeheuerliche zerstörerische kinetische Energie des zweiten
deutschen Krieges gegen den Rest der Welt führt Littells Buch immerhin
eindrucksvoll vor Augen, man ist wie erschlagen von ihm und beginnt zu
verstehen, wieviel Kraft der Welt und speziell den Deutschen damals
verlorenging und dass der Planet nach dieser Explosion nicht mehr
derselbe sein konnte.
Auch durch "Leben und Schicksal" tost diese
entfesselte Energie, die zu gewaltig ist, um mit moralischen Kategorien
erfasst zu werden und eine andere Welt hinterlassen wird. Da Grossman
fast ausschließlich aus der Warte der "einfachen" Russen (und zuweilen
auch Deutschen) schreibt, der Frontkämpfer, Lagerhäftlinge und
Lebensmittelkartenempfänger, während sich sein kanadischer Nachfolger
die ungleich heiklere Perspektive eines Massenmordmittäters zu eigen
machte, ist der Roman des Russen natürlich weitaus ergreifender. Es ist
unglaublich, mit wieviel Takt, Zartgefühl und Zurückhaltung Grossman,
der seiner von deutschen Einsatzgruppen ermordeten Mutter noch lange
nach ihrem Tod Briefe schrieb, um mit seinem Kummer fertigzuwerden, den
Ankunft einer Gruppe Todgeweihter in Auschwitz auf dem letzten Weg bis
in die Gaskammer verfolgt; allein diese wenigen Seiten rechtfertigen die
Aufnahme des Autors unter die Unsterblichen. In seinem Fall lag die
Kritik mit der Nobilitierung von "Leben und Schicksal" zum
Jahrhundertroman vollkommen richtig.
Beide Bücher werden bleiben. Es sind Komplementärromane.
Klonovsky AM 20. 12. 2014
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