Stationen

Montag, 27. August 2012

Knalldeutsch

Im April wurde im Berliner Dom eine neue Fassung von Bachs „Johannespassion“ aufgeführt. Die Musik wurde nicht geändert, allerdings in einigen Passagen der Text. Begründung: Bachs Werk sei judenfeindlich, man könne es Menschen von heute nicht mehr unverändert zumuten. Die Initiative kam von einem Stuttgarter Kirchenmusiker, den ideologischen Unterbau lieferte der evangelische Theologieprofessor Peter von der Osten-Sacken, der sagt: „Es geht mir gegen den Strich, dass ein Text, der belastet ist mit einer Wirkungsgeschichte, die auf Kosten der Juden gegangen ist, unkommentiert weitergegeben wird.“

Diese vorauseilende Beflissenheit gegenüber dem Zeitgeist, diese Streberei in Gesinnungsdingen, dieser Denunziationseifer gegenüber der (tatsächlich: jeder) Vergangenheit zum elenden Zwecke eigener moralischer Heiligenscheinpolitur, diese knalldeutsche Symbiose aus Petze und Schulmeister, diese Lust am Ausradieren aus späterer "Einsicht", die nichts von ihrer eigenen Relativität wissen will, dieses feige Offene-Türen-Einrennen bei fingierter Couragiertheit: Man lernt letztlich bei den "Bewältigern" der NS-Ära mehr über den autoritären Charakter als bei den Historikern. (Klonovsky)

Man kann sich durchaus fruchtbare Gedanken darüber machen, wie und was an Dantes "Göttlicher Komödie" heute zu Ende gedacht werden muss, und man sollte sich auch bewusst sein, inwiefern Goethes "Faust" ebenfalls durch die Ereignisse un-zeitlos und unvollständig wurde. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Goethe und Dante angesichts des Archipel Gulag solide, sinngebende Daseinsentwürfe bleiben, während sie gegenüber Auschwitz beide versagen und wie ein schöner Kahn aus morschem Holz wirken, mit dem ein zu breites Wasser überquert werden soll.

Aber diese plötzliche Unangemessenheit darf nur durch angemessene Kommentare ergänzt werden oder durch ein Werk, das Vergils, Dantes und Goethes Rang und langen Atem hat, während es völlig irrsinnig ist, das Johannesevangelium (das nun einmal "antisemitische" Aspekte hat, obwohl es aus dem Judentum heraus entstand) oder auch die Johannespassion durch Umschreiben und Rumkorrigieren zu verfälschen oder sonst irgendwie Adornos Behauptung, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben, ernstzunehmen.

Interessant ist vielmehr, dass das Neue Testament - im Gegensatz zu Dante und Goethe - schon vor Auschwitz veraltet war (ganz zu schweigen vom Alten Testament). Eigentlich bräuchten wir ein wirklich neues, wie schon Gioachino da Fiore sich erhoffte. Aber alles, was dem Bewusstsein der Unzulänglichkeit dienlich ist, ist bis auf weiteres mehr wert als die Glätte makelloser Entsprechung. Das wirklich Große war immer zeitgemäß, unzeitgemäß und gleichzeitig zeitlos. Diese Formel ist jedoch seit Jahrzehnten der Insicuritas ausgesetzt.

Anno post finem Auschwitzi 67

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