Stationen

Dienstag, 5. November 2024

Selbst die Franzosen sind inzwischen weniger atheistisch als die Deutschen

 

1. Gottesbewußtsein: Der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung kann man entnehmen, daß der entscheidende Gegner von Religion und Kirche in unserer Gesellschaft eine naturalistische Wirklichkeitserklärung ist, die sich auf zwei Sätze zusammenfassen läßt: »Alles läuft ab nach den „bekannten Naturgesetzen“« und: »Es gibt keinen Gott«. Diese Sicht scheint erfolgreich Ungewißheiten zu minimieren; sie kommt trittsicher daher. Aber zwischen beiden Sätzen besteht eigentlich keine logische Junktur; aus der Gesetzmäßigkeit von Vorgängen wäre viel eher auf eine ordnende Intelligenz zu schließen. Und überhaupt: Wie »bekannt« sind diese Naturgesetze denn? Sie scheinen die im Grunde längst abgelegten Leitlinien eines »Kraft und Stoff«-Materialismus zu sein; wir haben es hier gewissermaßen mit Dorf-Diamat zu tun: ohne Quantenphysik und Synchronizität/Verschränkung, ohne parapsychische und paraphysische Phänomene, ohne Nahtoderfahrungen, ohne die Auflockerung der Hirn-/Bewußtseinskorrelation und so vieles andere, was auf eine tiefgründige Rätselhaftigkeit von Natur und Dasein hinweist und eine neue metaphysische Sinnsuche und dann auch Suche nach Gott dringend erforderlich macht. Das naturalistische Weltbild scheint mehr als gewöhnlich wahrgenommen fragwürdig, unkritisch und sonderbar altbacken, scheint eher gesunkenes Kulturgut zu sein als aktuelle Herausforderung lebendiger Geistigkeit; es ist nicht zuletzt außerstande, Menschenwürde zu begründen. Eben dies in Zusammenarbeit mit metaphysikoffener Philosophie aufzuarbeiten im Sinne einer Aktualisierung der Gottesfrage, ist eine zentrale Aufgabe der Theologie. Apologetik ist dringend erforderlich. Genau diese schließen Theologen oftmals aus, und das muß sich ändern.

2. Mission: Die große Schwester der Apologetik ist die Mission. Kirche ist auf Mission angelegt; der Glaube soll nach dem Willen Jesu Christi als des Herrn der Kirche verkündigt und bekannt werden. Von dieser grundlegenden Tatsache haben die Amtskirchen in Deutschland sich vielfach weit entfernt. Keine Rekrutierungspastoral wolle man betreiben, hört man im Milieu der kirchlichen Amtsträger – warum eigentlich nicht? Parteien werben um Zustimmung und Mitglieder, warum soll das nicht auch für die Kirche in Ordnung sein? Man tut den Menschen nichts Böses, wenn man ihnen etwas nahebringt, das für einen selbst Seelen-Ernährung ist. Es mag der Gedanke aufkommen, Mission habe etwas mit weißem/europäischen Suprematismus und Imperialismus zu tun, aber damit kontrastiert doch seltsam die Tatsache, daß die afrikanischen Kirchen mit Postkolonialismus sehr viel weniger als mit Traditionalismus in Erscheinung treten. Kardinal Sarah beruft sich, wenn er gegen westliche Zeitgeistmoden im europäischen Katholizismus eintritt, explizit auf das Zeugnis der französischen Missionare in seinem Dorf, von denen viele jung gestorben seien. Man gewinnt nicht den Eindruck, daß er den Europäern die Mission verübelte. Und sein Selbstbewußtsein zeigt: Die Sorge um europäischen Suprematismus ist aus der Zeit gefallen: Wir Europäer sind gar nicht mehr so wichtig; nicht nur demographisch, sondern auch kulturell und religiös fehlt es uns an Kraft.
Es ist nicht ausgemacht, daß speziell an der religiösen Kraftlosigkeit nichts zu ändern wäre. Doch wird man nach neuen Wegen wohl eher ohne als mit der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung fahnden müssen, die einen schon fast depressiv macht. Hoffnung könnte bereiten etwa das Augsburger Gebetshausprojekt, das bewußt auch auf Internetpräsenz setzt und nach Auskunft des Leiters Johannes Hartl zu etwa 20 Prozent kirchenferne Anhänger hat. Moderne Formen können helfen, nur daß sie Traditionelles nicht ersetzen sollten, das ebenfalls verkündigungswirksam ist: Es gibt Klöster, die wachsen, etwa die Zisterzienser in Heiligenkreuz. Und im katholischen Studentengottesdienst der Durhamer St. Cuthbert-Gemeinde findet man oftmals schwer Platz; die wichtigsten Rubriken des Meßformulars (Kyrie, Gloria, Sanctus etc.) werden auf Latein und gregorianisch gesungen, und zwar lautstark und rhythmisch beschwingt. Und noch ein Letztes: Auffällig oft erlebt man ein völlig unbefangenes Bekennen zum christlichen Glauben neuerdings im libertären Milieu, bei Anlageberatern mit Kapitalismusvorliebe oder bei der Hayek-Gesellschaft. Vielfach steht Widerstandserfahrung aus der Corona-Zeit im Hintergrund: Wer sich schon einmal trauen mußte, gegen eine unfreundliche Menge für sich selbst zu stehen, der kann auch zu Gott stehen; ein Gefühl von Kraft und Lebensfreude ist jeweils erkennbar.
Es geht doch, kann man sagen, und dies vor allem, wenn man Christentum in seinem ganzen Reichtum an Ideen und Ritualen einfach praktiziert und es nicht bewußt oder unbewußt für etwas hält, das man jungen Leuten oder Afrikanern oder wem auch immer nicht (mehr) zumuten könne. Und abgewöhnen sollten wir uns – zumindest überwiegend – den Habitus der Auseinandersetzung und Traditionsdekonstruktion, was nicht zuletzt die Universitätstheologie betrifft: Theologie muß kritisch sein, aber mit einem anderen Ziel als dem eines dekonstruktiven »Hinterfragens«: Theologie läuft auf Verstehen hinaus und auf Bekennen – oder sie läuft sich tot.

3. Politik: Bei allem Insistieren auf eine religiöse Rückbesinnung: Nicht weniger politisches Engagement ist von der Kirche zu erwarten, sondern ein besseres. Die sogenannte Seenotrettung mag der EKD gute Schlagzeilen einbringen und Zustimmung bei eher unpolitischen Gemütern, aber entscheidend ist doch die Frage: Tut sie gut – den Deutschen und denen, die man ins Land holt? Ethische Fragen bedürfen der ernsthaften Deliberation, und diese gelingt nur, wenn man auch migrationskritische Stimmen in der Kirche gründlich anhört. Wo anders als in der Kirche, im Geltungsbereich der Nächstenliebe, sollte eigentlich vernünftiges Miteinanderreden über das Gute seinen besten Platz haben? Die Kirche muß sich vor billiger Moral hüten: Gut ist nicht notwendigerweise, was vordergündig gut scheint; wenn es um das Gute geht, muß man mindestens soviel nachdenken, wie man es bei einem Hauskauf tut.

4. Das gute Beispiel: Moralität äußert sich nicht so sehr darin, daß man etwas von Staat und Gesellschaft einfordert, als vielmehr im je eigenen guten Tun. Die Kirchen müssen in ihrer Sozialgestalt ernsthaft Dienstgemeinschaft Jesu Christi sein. Und diese besteht eben nicht im Streikverbot für kirchliche Mitarbeiter, sondern im Gegenteil darin, daß diese in ihren Rechten ganz besonders ernst genommen werden. Dies impliziert natürlich, daß kirchliche Arbeitgeber nicht in Feudalherrenmanier über das Privatleben sowie die politischen Aktivitäten und gar Gesinnungen ihrer Mitarbeiter befinden; ein Diakoniepräsident Rüdiger Schuch, der öffentlich AfD-Anhängern die Entlassung androht (laut Tichys Einblick vom 1.5.2024), tritt Arbeitnehmerrechte und Bürgerfreiheiten mit Füßen und läßt eine autoritäre Sektenmentalität erkennen; der Rechtsstaat müßte die Staat- / Kirche-Kooperation auf den Prüfstein stellen. Nicht hinnehmbar ist auch, wie die Kirchen mit ihren Geistlichen umgehen: Mehr als fünfzig Wochenstunden Durchschnittsarbeitszeit, weithin ganzwöchige Präsenzpflicht und dann eine Personalpolitik, die sich nicht scheute, kompletten Theologenjahrgängen die Aufnahme in den theologischen Dienst zu verweigern, wenn das Arbeitskräfteangebot »überhing«; all das gibt es und hat es gegeben und hat mit Respekt überhaupt nichts zu tun. Die Kirche muß lernen, mit der Ressource Arbeitskraft sparsam und schonend umzugehen.

5. Das liebe Vaterland: Wer sollte eigentlich besser über Schuld und Liebe reden können als Theologen? Wenn es aber um unser Land geht, in dem Schuld vorgefallen ist und das uns als Aufgabe und damit als Gegenstand des Liebens anvertraut ist, scheinen Theologen in Kälte zu erstarren. Zu einem bejahenden Selbstverhältnis, auch die Geschichte betreffend, könnten und dürften wir Deutschen nie zurückkehren; da liege ein Graben, teilte mir eine Theologin einmal mit. Wer so redet, bietet speziell den jungen Menschen in unserem Lande statt Brotes einen Stein, auch und gerade den wie alle anderen beheimatungsbedürftigen Einwander-Nachkommen, die ein Deutschland-Narrativ brauchen, mit dem sie Mut zum Mitwirken entwickeln können. Hier einem verkümmerten kollektiven Gemüt die Fesseln zu lösen, so schuldbewußt wie lebensbejahend, wäre ein Dienst, den Christen am Gemeinwesen leisten können.

Christentum ist dringend erforderlich. Die Christen müssen etwas dafür tun, daß man das wieder bemerkt.   Jan Dochhorn

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.