Vati hatte - da bin ich mir sicher - keine Ahnung, dass er ein Missverständnis oder eine bewusste Sinnverdrehung überlieferte. Er war wirklich so einfältig, die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Denkschemata, die schon auf Marx, Nietzsche, Wagner, Bebel und Bismarck schematisch gewirkt haben müssen, für zeitlose Selbstverständlichkeiten zu halten. "Errare humanum est, perseverare autem diabolicum."
Vati überprüfte nie etwas. Über lästige Ungereimtheiten sah er einfach hinweg, wenn er sie nicht ohnehin übersah. Im Lateinunterricht hatte er gelernt, dass die Römer gute Straßen gebaut hatten. Das stimmte. Das römische Straßennetz, mit all den Straßen, die alle nach Rom führten, ist faszinierend. Das Wort Straße war ursprünglich ein Neutrum plural, strata, das sind Schichten. Denn die Römer befestigten ihre Straßen dadurch, dass, genau wie heute, erst mal ein Fundament von Schichten geschaffen wurde, bevor die letzte Deckschicht darüber gebreitet wurde. Einmal sagte Vati während eines Italienurlaubs, die Italiener verstünden sich auf den Straßenbau. Also bitte... Das Einzige an italienischen Straßen, das wirklich besser ist als in Deutschland, ist die Tatsache, dass die glitzernden Kennzeichnungen aus reflektierendem Glas auf den Begrenzungspflöcken in Italien links weiß und rechts rot sind!
Ansonsten finde ich die italienischen Straßen unmöglich, besonders die Autobahnen. Vati hatte sich zu diesem Lob angesichts einer außergewöhnlich schönen, serpentinenreichen Gebirgsstraße in Norditalien hinreißen lassen. Also in einem Gebiet, wo erst seit Ende des Ersten Weltkriegs offiziell italienisch gesprochen wurde. Gerade Gebirge brachte Vati merkwürdiger Weise mit den Römern in Verbindung. Die Römer seien im Sommer immer ins Gebirge gefahren, um Urlaub zu machen, erklärte er mir mal.
Wo er das wohl aufgeschnappt hatte? Cicero verbrachte seine Freizeit wie alle Römer auf einem seiner Landgüter, in der "Villa", und wer es sich leisten konnte, hatte ein Haus am Meer, genau wie die Italiener von heute. Besonders reiche Römer hatten ihr Haus am Golf von Neapel, zum Beispiel in Pompei, wo auch Cicero ein Anwesen hatte (so ähnlich wie Berlusconi heute eine Villa in Sardinien hat; sogar die Fresken in Pompei sind so ähnlich wie die Fotos, die letztes Jahr von Berlusconis Villa geknipst wurden), oder weiter südlich in Stabiae, wo die aus Como stammenden, beide Plinius heißenden, Intellektuellen - oder Akademiker, wie man vor 1968 noch sagte - ein herrliches Haus am Meer hatten, von dem Pompei zu sehen war, und sich dort auch gerade aufhielten, als der Vesuv Pompei mit Asche zuschüttete. Der junge Plinius (Neffe des alten) beschrieb den Vulkanausbruch so genau, dass dieser Ausbruchstyp heute als "plinian eruption" bezeichnet wird. Es lohnt sich, kurz mit Kugel Earth einen Blick auf den Golf von Neapel zu werfen, um sich zu vergegenwärtigen, was damals geschah und wo die Römer gerne ausspannten.
Non scolae, sed vitae discimus. Es gab sehr viele Themen in der Schule, die ich zu Hause nicht ohne Angst erwähnen konnte. Nicht nur die Shoah. Es gab eigentlich überhaupt kein Geschichtsthema, dass bei mir keine geschichtsphilosophischen Angstzustände auslöste, weil es von meinen Eltern nicht zu von Sozialdemokraten verbreiteten Lügen abqualifiziert wurde. Und sie gaben mir dabei jedes Mal auch noch die Schuld dafür, dass ich es nicht besser wusste als die sozialdemokratischen Lehrer und Geschichtsbücher, bzw. dafür, dass ich nicht einfach ihnen glaubte, wo sie damals doch schon auf der Welt waren und die Dinge selber miterlebt hätten oder zumindest näher dran waren an Zeiten und Geschehnissen, die sich ereigneten, bevor die "sozialdemokratischen Bücher" überhaupt geschrieben wurden. Der Gipfel war, dass sie mir trotz der "Irrlehren dieser Sozialdemokraten" vorwarfen, dass ich in Geschichte nie eine bessere Note als die mit Ach, Krach und Schmach errungene Vier vorweisen konnte. Gute Geschichtsbücher stellten sie mir nicht zur Verfügung. Sie selbst bezogen ihr Weltbild aus "Rothenburger Sonntagsblatt", "National-Zeitung", "Main-Post" und der eigenen aufgeblasenen, unerschütterlichen Besserwisserei.
Ich spürte schon, dass auch die Lehrer manchmal die Dinge am Ärmel herbeizogen und nicht immer die vollständige Wahrheit erzählten! Unter anderem kann auch hier vielleicht eine Gegenüberstellung dessen, was mein Vater sagte, mit dem, was ein sonst sehr kompetenter Lehrer sagte, meine Verunsicherung, meinen Gewissenskonflikt und die schreckliche innere Zerrissenheit und Verspannung am besten veranschaulichen, die ich damals in mir trug.
Mein Vater schwärmte mir von der römischen Architektur vor, von Vitruv und von den Aquaedukten, während sich der Physiklehrer über die Aquaedukte lustig machte und uns erklärte, die Römer hätten das Gesetz der verbundenen Gefäße noch nicht gekannt. Dieser Mann diskreditierte meinen alten Vater mit fortschrittlichem Wissen! Diesmal hatte aber der Lehrer, der einer meiner Lieblingslehrer war - verflucht sei sein Andenken - unrecht, wie ich inzwischen weiß. Immerhin blieb ich seiner Behauptung gegenüber, aus Treue zum Vater und weil sie mir all zu ungeheuerlich vorkam, immer skeptisch und behielt mir vor, auch diesen Kontrast so bald wie möglich zu klären. Die Römer kannten das Gesetz der kommunizierenden Röhren durchaus, und sie wandten es auch an, es gab aber diverse Gründe, es nicht immer anzuwenden und statt dessen Aquaedukte zu bauen. Leider hat es sehr lange gedauert, bis es mir gelang, diese Frage zu klären. Kein Architekt, kein Physiker, kein Altphilologe konnte mir die Frage je beantworten, die ich vielen gebildeten Menschen gestellt habe. Nur eine erst vor wenigen Jahren herausgegebene DVD zum Thema Wasserbauingenieurswesen und ein paar Wikipediaartikel konnten mir endlich zuverlässig bestätigen, dass ich gut daran tat, dem Lehrer mit Skepsis zuzuhören. Man sollte es nicht glauben, aber noch nach Jahrzehnten empfand ich es als überaus beglückende Erlösung, mir endlich Aufschluss zu verschaffen. Und ich habe es gefeiert, dass mein Vater recht hatte! Ich habe es gefeiert, dass mein lieber Vater endlich einmal recht hatte. Wie schön wäre es gewesen, wenn er immer, oder wenigstens öfter, recht gehabt hätte.
Manchmal lassen sich jedenfalls auch Naturwissenschaftler durch ideologische Vorurteile zu Falschaussagen verleiten.
Wieviel mehr die Geistes"wissenschaftler"! Wieviel mehr die Geisteswissenschaftler!!
Wie gut, dass wir manchmal Filme im Unterricht ansahen! Bilder sprechen eine deutliche Sprache, selbst dann, wenn es sich um einstiges Propagandamaterial handelt. Um das zu verstehen, braucht man nicht Walter Benjamin zu lesen (aber es kann nicht schaden; bzw. auch das kann schaden, wenn man es gedankenlos tut).
Ich konnte meinen Eltern (und den Geschwistern) aber auch nicht einfach so glauben. Zu willkürlich, zu unvollständig, zu unausgewogen, gedankenlos, anmaßend und tendenziös waren ihre Angaben fast immer. Fast immer! Zu groß die Widersprüche zwischen den Behauptungen in meiner Familie und denen der intelligentesten Lehrer, auch denen der konservativen Lehrer. Ich merkte mir deshalb einzelne Behauptungen, die als Messlatte für die Glaubwürdigkeit dessen, der sie äußerte, dienen konnten, sehr gut und überprüfte sie im Lauf der Jahre und Jahrzehnte.
Damals war Joachim Fernau fast die einzige anerkannte "historische" Quelle bei uns zu Hause. Hinzu kamen Friedrich Heers "Der Glaube des Adolf Hitler", Albert Speers "Erinnerungen" und eine Veröffentlichung mit dem weinerlich anklagenden Titel "Warum sind wir Väter Verbrecher?", die versuchte zu beweisen, dass es sich bei der Shoah um eine Propagandalüge handeln musste. Die Beweisführung versteifte sich dabei darauf, vorzurechnen, dass die Durchführbarkeit dessen, was die Historikerzunft zur Shoah behauptete, mathematisch logistisch unmöglich sei: also nicht durch Widerlegung einzelner Behauptungen, Punkt für Punkt, zur Historie, sondern durch einen pfiffigen Wechsel von Thema und Fachbereich und durch Gegenbehauptungen, die von einem Historiker nicht widerlegt werden konnten, weil sie nicht zu seinem Fachbereich gehörten. Irgendwann fällt einem auf, das Leugner meistens so vorgehen, egal, was sie leugnen.
In meiner Not war ich damals völlig allein. Mein Bruder und Taufpate hatte es für notwendig befunden, mich, als ich 12 Jahre alt war, bei einem gemeinsamen Skiurlaub sexuell aufzuklären (dabei wusste ich schon seit vier Jahren bescheid). Als ich drei Jahre später wirklich Aufklärungsbedarf gehabt hätte, wurde er päpstlicher als der Papst und versuchte den eigenen Vater rechts zu überholen, indem er mit einer Familientradition brach und aus dem Studentencorps austrat, weil es ihm zu "links" geworden war. Dass er dabei auch noch seinen Schwager (und seine Schwester) ohne eine entsprechende Absprache auf eine beispiellos ungehobelte Weise brüskierte, insofern der Schwager gerade Altherrenvorsitzender wurde und sein Amt zeitgleich mit der Austrittserklärung seines Schwagers beginnen musste, sei nur nebenbei noch erwähnt, weil es die feinen Umgangsformen so schön veranschaulicht. Als meine Mutter mich über diese Geschichte in Kenntnis setzte, konnte ich nicht glauben, dass in MEINER Familie eine derartige Taktlosigkeit möglich war. Aber es musste wohl wahr sein, denn woher sonst sollte der Drang, mich zu übergeben, herrühren? "Gelobt sei, was hart macht."
Ich werde nie vergessen, wie mein Bruder damals einmal mit einem an Härte und Hass nicht zu überbietenden Gesichtsausdruck, den ich später nur noch auf Originalaufnahmen von Offizieren der Waffen-SS wiedergesehen habe, an der Gartentür stand, und gegenüber Vati, der geduldig, aber eher widerwillig zuhörte, mit stechenden, fanatischen Augen hervorstieß "Wichtiger als die Bibel, wichtiger als die Bibel". Er schien auf Informationen gestoßen zu sein, die endlich den wissenschaftlichen Beweis erbracht hatten, dass die Juden sich - um Deutschland in Verruf zu bringen - selber vergast und verbrannt hatten.
In Jahrzehnten äußerte dieser Sohn meines Vaters keinen einzigen nachdenklichen Gedanken zum Thema Schoah, und er ist auch noch stolz darauf. Das kühnste Zugeständnis gegenüber den Juden, das einmal - in meiner Abwesenheit - im Gespräch mit unserem Vater über meines Bruders Lippen kam, war, dass man Arthur Rubinsteins Bravur anerkennen müsse. Ich dachte, ich höre nicht recht (als ich diesem erbärmlichen Zwiegespräch heimlich beiwohnte, indem ich im Obergeschoss unseres Hauses an den Ofenklappen lauschte, durch die man hören konnte, was unten im Wohnzimmer gesprochen wurde). Ich dachte, ich höre nicht recht. Ich dachte: ich höre nicht recht...
Das Einzige, was meine Schwester - in meinem Beisein - meinen Eltern gegenüber zum Thema Judentum je äußerte, war ein flapsiges, grinsendes "Gernreich... iiiih... das sind ja Juden!!", nachdem sie beim nachmittäglichen Tee einen Silberlöffel umgedreht hatte und die Aufschrift entziffert hatte. Jahre später soll sie geweint haben, als die "Holocaust"-Serie im Fernsehen lief.
Ich war ehrlich gesagt angewidert, dass ein so ernstes Thema zur Soapopera verkam, aber mittlerweile bin ich froh über jeden Duckmäuser, der durch diese Soapopera wenigstens irgendwie unter Zugzwang geriet und gegenüber Nachbarn, Bekannten, Kollegen, Kirchenvorstandsmitgliedern und - last not least! - dem eigenen Nachwuchs irgendwie eine bekennerische Farbe annehmen musste. Die Kinder sind letztlich die wichtigsten Richter. Aber als ich ein Jugendlicher war, beschützte meine Mutter den alten Vater vor mir. Als mein Bruder ein Jugendlicher war, hatte sie ihn vor dem Vater beschützt (so, wie es in jeder normalen Familie der Fall ist; nicht nur im alten Abendland, sondern überall auf der Welt, wo der Homo sapiens sich ausgebreitet hat).
Als meine Schulzeit vorbei war, kam als weitere historische Quelle noch David Irvings Buch über Rommel hinzu, dass mein Bruder Vati zu Weihnachten schenkte, als ich gerade Zivildienst machte. Und als Kirsche auf diese Torte setzte mein Bruder einen Beitrag, mit der er an einem Aufsatz-Wettbewerb des Bayrischen Rundfunks teilnahm, bei dem Eltern die Schwierigkeiten schildern sollten, die manchmal durch Generationskonflikte auftreten können. In diesem Beitrag fand sich auch ein gegen die damalige Geschichtsunterrichtsparaxis gerichteter Hieb, der Hitlers Machtergreifung in ein chaotisches, nicht zu überblickendes Gerangel mit fatalem Ausgang zu verwandeln schien, für das anscheinend nur das Fatum verantwortlich gemacht werden konnte und durch das alle irgendwie konkret benennbaren Faktoren implizit im Wesentlichen exkulpiert wurden und ergo abermals suggeriert wurde, was unsere Familienmär schon immer suggeriert hatte, nämlich dass selbst die Ermordung der polnischen Aristokratie und des polnischen Klerus noch als Hitlers heroischer Kampf gegen den Bolschewismus gelten musste. Hauptquelle dieses Geschichtsbildes waren die Bücher von Otto Zierer.
David Irving ist eine merkwürdig schillernde Gestalt. Ulrike Meinhof lobte sein Buch über Dresden. Rolf Hochhuth lobt noch heute seine angeblich bahnbrechenden anfänglichen Arbeiten, die als erste die Verbrechen der deutschen Generalität aufgedeckt haben sollen und lässt uns wissen, Irvings Mutter sei angeblich Jüdin gewesen...
Was soll man von dieser Behauptung halten??? Ich würde zuächst mal sagen, man sollte davon halten, dass man sich vor Schriftgelehrten immer grundsätzlich in Acht nehmen sollte, egal, ob sie Meinhof, Hochhuth, Grass, Irving oder sonst wie heißen. Bleibt immer wachsam. Es gibt fast keine ehrlichen Autoren nach meiner Erfahrung.
Auch behauptet Hochhuth, Günter Grass habe für einen seiner Romane Irving, ohne ihn zu nennen, als Quelle verwendet. Besonders unglaubwürdig ist Hochhuths bedauerliche Behauptung, er habe erst 2005 erfahren, dass Irving einer der Historiker ist, die die Shoah leugnen. Bevor ich das las, hatte ich ihn für einen glaubwürdigen Autor gehalten.
Rätselhaft.
http://www.sopos.org/aufsaetze/425d2dda1a086/1.phtml
Hochhuth hat die negativen Aspekte von Pius XII. beleuchtet. Pius XII hat aber auch Tausenden von Juden das Leben gerettet!! Eugenio Zolli, der damalige Rabbiner von Rom - also einer der ältesten und wichtigsten jüdischen Gemeinden der Welt - ließ sich nach dem Krieg aus Dankbarkeit für die Rettung sogar taufen!! Und als Namen wählte er Pius XII. zu Ehren - der mit bürgerlichem Namen Eugenio Pacelli hieß - den Namen Eugenio!!! Diese Aspekte sind völlig unbekannt. Bei Nähe betrachtet, ist die Wirklichkeit manchmal verwirrend mysteriös und unglaubwürdiger als was über sie geschrieben wird. Es stimmt wiederum, dass - wie Hochhuth zu recht anmerkt - bei dieser Rettung erwogen wurde, die jüdischen Kinder ihren Familien nicht zurückzugeben!
Mein momentaner Eindruck ist, dass Hochhuth noch schlimmer ist als Irving. Die Behauptung der Jungen Freiheit, sogar Ephraim Kishon sei ein Irving Fan gewesen, ist nicht beweisbar, und erst recht nicht schlüssig und scheint mir völlig unhaltbar zu sein. Vermutlich wurde, um Verwirrung zu stiften und Misstrauen auszusäen gezielt ein Gerücht in die Welt gesetzt, das nicht dementiert werden kann.
Ich habe noch nie erlebt, dass Kishon Quatsch geschrieben hat, und er gab seinen Orden wider den tierischen Ernst zurück, als Norbert Blüm Israels Politik kritisierte, weil er nicht dieselbe Auszeichnung behalten wollte, die jemand trägt, der die Dinge auf den Kopf stellt.
Hochhuth soll selber schon Prozesse wegen der Leugnung der Shoah am Hals gehabt haben. Das sagt angeblich Bernard Henry-Levy; das muss ich aber noch genauer prüfen, denn BHL ist präzise und kann so unvereingenommen sein, dass es schon fast besorniserregend ist, aber ob seine Behauptungen immer verlässlich sind? Mehr noch als er selbst machen mich seine Anhänger misstrauisch. Wie ist es möglich, dass die deutsche Linke auf einmal laut klatsche, als dieser Maitre a penser Dinge sagte, die Golo Mann bereits Jahre vorher gesagt hatte? Hochhuth könnte also versucht haben, sich Glaubwürdigkeit zu verschaffen, indem er versuchte, Pius XII. in Misskredit zu bringen. Wir Deutsche pflegen gegenüber dem Bistum von Rom ja gerne eine Art Erbfeindschaft. Dass Pius XII. soviele Juden durch persönliches Engagement rettete, dass der Rabbiner von Rom sich nach dem Krieg taufen ließ - und zwar auf den Namen Eugenio, also den bürgerlichen Vornamen von Pius XII. - wusste Hochhuth nicht, oder er verschwieg es. Dass er mit Irvng befreundet ist, gibt Hochhuth offen zu. Es ist ein spannendes Tauziehen, aber wer hätte gedacht, dass ausgerechnet Leute wie Irving so viel Fantasie haben?
(Nachtrag im Februar 2024: Inzwischen ist das Thema Irving/Hochhuth besser erforscht, und ich habe genug Lebenserfahrung, um endgültig davon überzeugt sein zu können, dass es sich bei den beiden Autoren um schändliche Lügner handelt. So etwas gibt es auch unter den Juden, wie z.B. an Gil Ofarim zu sehen. Aber jeder kehre vor der eigenen Tür! Dieses schöne Sprichwort lehrte uns unsere Volksschullehrerin in der 4. Klasse.)
Jedenfalls war meine damalige Witterung verlässlich. Sie hätte gar nicht verlässlicher sein können. Während der Schulzeit verwechselte ich vor lauter geschichtsphilosophischem Stress vier Daten: 20. April, 20. Juni, 20 Juli und 20. August. Das sind: Hitlers Geburtstag, der Hochzeitstag meiner Eltern, Stauffenbergs Attentat und die sowjetischen Panzer in Prag.
Wenn wir nach Hannover fuhren, um meine Schwester zu besuchen, wurde mir jedes Mal, wenn wir bei Kassel angekommen waren, erklärt, das dort oben weit zu sehende Denkmal sei Herrmann der Cherusker, und ich bekam natürlich Herzklopfen, weil ich nicht einmal wusste, wer Herrmann der Cherusker war: ich spürte nur, dass von einem Nationalheiligtum die Rede war. Denn in den 70-er Jahren wurde in der Schule alles tabuisiert, was einst für nationalistische Rethorik dienlich gewesen war, die Germanenzeit wurde nicht behandelt, der Sachsenspiegel nie erwähnt, die Schlacht im Teutoburger Wald nur ganz am Rande, und selbst Tacitus wurde im Lateinunterricht nicht einmal erwähnt und die Glaubwürdigkeit damaliger Historiker sowieso grundsätzlich in Frage gestellt, egal, ob sie über die Gründung Roms schrieben oder über das Ende der Republik.
Erst Jahrzehnte später stellte ich mit Genugtuung fest, dass auf der Wilhelmshöhe von Kassel nicht Herrmann der Cherusker über den Wald blickt, sondern ein geschmackloser Herkules, den ein drittklassiger italienischer Architekt gebaut hat, nachdem er mit seinen Caserta und Tivoli nachäffenden Wasserspielen einen einst schönen Panoramablick protzig verschandelt hatte. Warum mit Genugtuung? Weil ich endlich wusste, dass meine damalige Skepsis nur allzu berechtigt war und vor allem, dass meine ästhetische Witterung in einem Maße verlässlich war, die mich glücklich machte! Ansonsten gab es keinen Grund, sich über diese Erkenntnis zu freuen. Ich hätte es lieber gehabt, in einer Familie aufzuwachsen, die es mit der Wahrheit genauer nimmt.
Das erste Mal, dass mir auffiel, dass hier jemand etwas behauptete, was den Behauptungen meiner Mutter widersprach, war - wie sollte es anders sein - als ich einen eher drittklassigen, aber amüsanten und durchaus lesenswerten Roman einer jüdischen Autorin las, in dem alle linken Klischees der 70-er anschaulich beschrieben auftauchen. Natürlich fragte ich mich beim Lesen reflexartig sofort, ob meine Mutter recht hatte und hier wiedermal jemand die deutsche Geschichte mit verleumdnerischen Lügen durch den Schmutz zog. Aber alles andere, was Erica Jong in "Angst vorm Fliegen" beschrieb, stimmte ja, von den antipsychiatrischen Gurus bis zur Italienreise, wo Kant zu cunt wurde. Und natürlich hielten auch ihre Behauptungen über Kassel meiner Überprüfung stand. In den 80-ern waren solche Überprüfungen ziemlich aufwendig und nicht so leicht durchzuführen wie jetzt, wo es Internet, Kugel Earth und Wikipedia gibt. Ich habe viele Stunden in der Biblioteca Nazionale Centrale verbracht, um mir durch Fotokopien seriöser Quellen, Gewissheit zu verschaffen.
Die allergroteskesten von Vatis Behauptungen, sind seine Äußerungen zur Kunst. Ich habe Verständnis dafür, dass er gewisse Auswüchse der modernen Kunst als entartete Kunst bezeichnete. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, genauer gesagt, besonders nach 1968, kam es in dieser Hinsicht zu derartigen Exzessen, als wolle man nachträglich den NS-Ideologen erst noch die nötigen Beweise in die Hand legen, die sie dazu befähigen könnten, die Vernunft ihrer damaligen Urteile zu bekräftigen. Wenn man so breitspurig und anmaßend urteilen wollte, wie es heutzutage der Mainstream der Historiker, Kunsthistoriker, Musikologen und Intellektuellen so gerne tut, müsste man den Nazis geradezu prophetische Begabungen bescheinigen, denn so richtig entartete die Kunst erst, als die Nazis und die nazistische Entartung längst vorüber waren.
"Ein Narr selbst Nichts zu sagen wagt, Nur weils ein Nazi schon gesagt." (Eugen Roth)
Genau so grotesk waren jedoch die Vorurteile meines Vaters gegenüber großen zeitgenössischen Künstlern, egal ob den Beatles oder John Coltrane, ganz zu schweigen von Bartok, Ligetti, Cecil Taylor oder Olivier Messiaen.
Jemanden, den man am besten gar nicht nannte, war Carl Orff, während einer von denen, die Vatis rückhaltlose Begeisterung weckten, Felix Mendelssohn-Bartholdy war. Das Groteske an der Aversion und an der Vorliebe war, dass Vati davon ausging, dass Carl Orff Jude war und "sein Geklapper entartete Kunst" sei und von den Nationalsozialisten verboten worden war, während er in Mendelssohn ein Beispiel für wundervolle Musik sah, wie sie von den Nationalsozialisten gefördert wurde.
In Wirklichkeit war es aber genau umgekehrt. Wahrscheinlich stand im Völkischen Beobachter hierüber nicht viel. Die NPD-nahe Nationalzeitung, die mein Vater in den 70-ern las, rückte die Dinge auch nicht zurecht. Meine 14 Jahre ältere Schwester wusste es vermutlich besser. Aber sie hütete sich, meinem Vater zu widersprechen, weil es ihr darauf ankam, sich bei ihm anzubiedern. Also kockettierte sie jedes Mal flapsig, sie habe in der Schule im Chor die "Carmina Burana" singen müssen, wenn ich die Sprache auf Orff brachte und provozierte mich dabei geschickt durch Äußerungen, durch die ich in den Augen meines Vaters unvermeidlich zu einem Verteidiger Orffs geworden wäre, wenn ich sie kommentiert hätte. Ich hielt natürlich den Mund. Die Niedertracht der Vorgehensweise dieser verlogenen Schwester verschlägt einem die Stimme.
Dass Orff in der Klosterkirche Andechs begraben wurde, ist noch einmal eine besondere Ehre, die man ihm erwiesen hat. Das hätte Mutti, die das Andechser Bier so liebte, auch nicht geahnt.
Orff hatte für die Olympiade 1936, von der Vati so gern schwärmte, den "Olympischen Reigen" komponiert und war - wie Elly Ney, die, wenn ich nicht irre, nach dem Krieg im Torturmtheater von Sommerhausen ergreifend Beethoven spielte - sogar auf die Gottbegnadetenliste gesetzt worden, was ein ganz besonderes Privileg darstellte, während Mendelssohn geächtet wurde, seine Werke nicht aufgeführt werden durften und deutschere Kompositoren als er - unter anderm Orff - dazu aufgefordert wurden, eine neue Musik für Shakespeares Sommernachtstraum zu komponieren, denn die berühmte Musik die Mendelssohn dafür komponiert hatte, war inzwischen verboten.
Elly Ney war eine durchgeistigte, besonders innige deutsche Beethoveninterpretin und fanatische Nationalsozialistin, die die Juden hasste, wie die Pest, und die auch in Orffs "Carmina Burana" eine Kulturschande sah und 1942 für die Stadt Görlitz sogar ein lokales Aufführverbot dieses Werks erlangte. Hierauf beruht vermutlich das Missverständnis meines Vaters, der nicht nur Elly Neys Vorliebe für nordische Musik teilte, sondern auch die Abscheu für Juden und für Carl Orff.
Es ist merkwürdig, wie wenig Beachtung bisher die Tatsache gefunden hat, dass gerade diese deutsche Innigkeit - also etwas im Sinne Carl Gustav Jungs durchaus Positives - einer der besonders starken Motoren des Nationalsozialismus war.
Es ist ja auch kein Zufall, dass Jung vor dem Krieg im Nationalsozialismus "die Wiedergeburt der deutschen Seele" erblickte, und danach, als alles kaputt war, zu dem Schluss kam, das "grundlegend Böse der deutschen Seele" sei zum Ausdruck gekommen. Die Psychoanalyse ist wie der Relativismus und letztlich jede Form von Rationalismus eine Hure, die man beliebig allen Umständen anpassen kann. Woran kann man sich orientieren? An Ekel und an Ehrfurcht.
Carl Orff war wahrscheinlich ein unpolitischer Mensch, der sich möglichst aus allem heraushielt, was mit Politik zu tun hatte, und ich gönne ihm, dass er damit Erfolg hatte. Und er hatte wohl auch das Glück, nicht "für die Sache" im Rampenlicht hat stehen zu müssen.
Weiterführende Themen:
Paul Heyse
Herrmann Levi
Mendelssohn (Familie)
Richard_Wagner_und_der_Antisemitismus
Luther_und_die_Juden
Richard Strauss - Olympische Spiele 1936
Pompeji
Aber es gab in der Nachkriegszeit doch den SPIEGEL oder die ZEIT. Da hatte man als Schüler doch genug Argumente gegen gestrige Eltern oder ältere Geschwister.
AntwortenLöschenStimmt vollkommen, aber beide Publikationen wurden innerfamiliär als tendenziöse linke Propaganda diskreditiert und konnten mir in meinem damaligen Alter keine Gewissheiten geben.
AntwortenLöschenEs war ja nicht nur die Shoah, die als Propagandalüge bezeichnet wurde, die Shoah war ja nur die unsichtbare Spitze des Eisbergs, die man sich fast ununterbrochen hütete, zur Sprache zu bringen, während man das, was man unter der Wasseroberfläche meinte, sehr deutlich zu erkennen, in einem fort diskreditierend zur Sprache brachte: jede Behauptung, die auch nur entfernt mit Brandts Politik in Verbindung gesetzt werden konnte, wurde ausnahmslos abqualifiziert und speziell Brandts Ostpolitik über alle Maßen geschmäht. Deswegen waren gerade Spiegel, Zeit und sozialdemokratische Lehrer nicht hilfreich, und nur wie die engen Verwandten konservativ denkende, aber moderate, realistisch und ehrlich argumentierende Menschen, wie der Patenonkel meines Bruders, konnten in meiner damaligen Situation für eine Vergewisserung wirklich dienlich sein.
Man kann sich das als Außenstehender nur schwer veranschaulichen. Aber es gibt etwas, was uns vielleicht hilft, uns zu vergegenwärtigen, wie groß damals in manchen, seltenen konservativen Kreisen die Neigung, alle Themen auszugrenzen, die auch nur einen sozialdemokratischen Geruch hatten, sein konnte. Es ist Michael Kunzes Bemerkung zu Golo Mann in Zettel & Zitate vom 28. März 2009.
http://storyarchitekt.blogspot.com/2009/03/diskrepanz.html
Mein Bruder ereiferte sich damals, indem er die in Polen liegenden ehemaligen deutschen Gebiete mit dem zwar strategisch wichtigen, aber nicht mittlerweile von Millionen polnischer Familien bewohnten Kurilen-Archipel verglich, das Japan sich hüte, den Russen zu überlassen...
Diese Inseln waren mir noch unbekannter als Herrmann der Cherusker, und selbst wenn ich Zugang zu Spiegel oder Zeit gehabt hätte, was kaum mal der Fall war in der Abgelegenheit eines Provinznestes, hätte ich mir wahrscheinlich kein Bild von der die Kurilen betreffenden Sachlage machen können. Ich hatte damals auch nicht den Mut, das Thema gegenüber einem Lehrer oder Pfarrer zur Sprache zu bringen. Zu groß war damals die Angst, ich könne dadurch entweder nur die Irritation dieser Lehrkräfte über womöglich völlig abstruse, weltfremde Argumentation erregen oder tatsächlich an ein Tabu rühren, das einen Tatbestand zu Tage fördern könnte, dessen Leugnung mein vielleicht sehr kluger großer Bruder eventuell zu recht empört 5 Minuten lang geißelte und meine Familie ansonsten mit undurchdringlicher, granitharter, gereizter Stille beschwieg.
In beiden Fällen - das war mein Hauptproblem - in beiden Fällen befürchtete ich, meine Familie durch ein Thema in Verruf zu bringen, von dem ich nur wusste, dass es in der Öffentlichkeit nie genannt wurde. Ich wusste ja nicht, was es war, was ich nicht wusste... gerade das war ja die Zwickmühle, gegenüber der auch Spiegel und Zeit nur wie Don Quijotes Klepper neben mir grasten, während auf dem Schreibtisch meines Vaters der Unbekannte Geschichtszeuge eine leidende Gewissheit zuzudecken schien.
Siehe
AntwortenLöschenhttp://persciun.blogspot.com/2010/02/das-zugedeckte-pferd.html
Der Themenkomplex war zu groß für mich, und ich war entsprechend - selbst für viel kleinere Themen - damals zu klein, abgeschnitten von jeglicher Information, auch insofern ich, selbst mit 18 Jahren noch, um 21 Uhr ins Bett musste und außer Gerhard Löwenthals Sendung damals keine einzige politische Informationssendung je gesehen habe und die oben genannten Veröffentlichungen ebenfalls off-limits waren und, wie auch die FAZ, nur in öffentlichen Lokalen manchmal in meine Hände gelangten.
Der Stern war damals tatsächlich die einzige Quelle in meiner Reichweite, und die war zu sensationalistisch, um mir Gewissheit zu ermöglichen, zumal diese Quelle zwar wöchentlich vorhanden war, aber natürlich ebenfalls wöchentlich diskreditiert wurde.
Selbst vor 5 Jahren noch, also in einer Zeit, in der der Stern längst nicht mehr so links ist wie in den 70-ern, bezeichnete mein Bruder eine gerade veröffentlichte Stern-Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg sage und schreibe als "sowjetophil". Ich habe mir in meiner Verwunderung sogar die Mühe gemacht, das Heft, das er mir zuschickte, daraufhin zu untersuchen, bevor ich kopfschüttelnd über dieses Urteil lächelte und mich zum x-ten Mal am Kopf kratzte und mich fragte, worauf seine optische Täuschung wohl zurückzuführen sein könnte.
Heute kann ich darüber lächeln, aber als ich 17 Jahre alt war, war ich aus Verzweiflung über diese optischen Täuschungen reif für die Klapsmühle.