Die Geschichts"wissenschaft" ist ein Tier-, Pflanzen-, Königs- und Himmelreich, das Reich der Revisionisten. Man kann zwar nicht alles und das Gegenteil von allem behaupten, aber etwas Willkür ist immer dabei, mal mehr, mal weniger, und der Interpretation sind im Prinzip nur die Grenzen gesetzt, die die Kultur des Moments vorgibt und hoch genug sind, um nicht von einem genialen Geist überflügelt zu werden. Es sind immer politische Rahmenbedingungen zu beachten. Man sagt, die Gewinner schrieben die Geschichte. Carl Schmitt sagte trotzig provozierend: "Am Ende schreiben die Verlierer die Geschichte.", womit er prophezeien wollte, dass der Nürnberger Prozess einst zum Bumerang würde und zugleich ironisch, nolens, sarkastisch vor den Juden salutierte, die dieser Mann bewunderte und hasste. So weit können die Meinungen auseinandergehen.
"Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
sind uns ein Buch mit 7 Siegeln.
Was Ihr den Geist der Zeiten heißt,
das ist im Grund der Herren eigner Geist,
in dem die Zeiten sich bespiegeln."
(so belehrt Faust den intellektuellen Wagner; übrigens lohnt es sich, jedes Jahr zu Ostern den Faust zu lesen! wenn man wenig Zeit hat wenigstens bis Vers 1177!)
Das Mittelalter war nicht so finster wie oft angenommen. Aristoteles war in Vergessenheit geraten, und kam erst durch die Araber wieder nach Spanien, wo er von den Juden übersetzt wurde, um dann von der Christenheit - das Mittelalter ist eigentich die Ära des Christentums; architektonisch, storyarchitektonisch und metaphorisch - wiederentdeckt zu werden, als sie begann mit der heidnisch-philosophischen Antike zu verschmelzen. Aber wie gesagt, hat die Kirche nie die Vorstellung einer platten Erde vertreten, obwohl die Bibel ausgerechnet mit der Beschreibung einer platten Erde beginnt, über die das Firmament wie eine Käseglocke errichtet sein soll, die das obere Wasser (den Regen) vom unteren trennt.
Besonders für die germanischen Völker bedeutete das Mittelalter eine zivilisatorische Bereicherung und Aufhellung. Während in Italien über weite Landstriche das einstige Kulturland verwaldete und verwilderte, wurde in Nordeuropa gerodet, lesen und schreiben gelernt (sogar die Runen, die schon vor dem Mittelalter existierten, gehen aufs etruskische Alphabeth zurück) und endlich angefangen auch Geschichte ein bisschen aufzuschreiben. Merkwürdig, dass gerade die Deutschen so eine geringe Meinung vom Mittelalter haben. Das Mittelalter begann mit der Zwangstaufe der Franken und endete mit der Krone, die Dante Alighieri ihm aufsetzte. Es war auch das Zeitalter, in dem Italien seine Vorherrschaft verlor und Deutschland Bedeutung erlangte und schließlich den Kaiser stellte im "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation".
Mit anderen Worten: Herrmann der Cherusker, der eine Offizierslaufbahn bei den Römern hinter sich gebracht hatte (so ähnlich wie Bin Ladens Brüder in England studierten) und Chlodwig, der seinen Franken den Kopf abschlagen ließ, wenn sie sich nicht taufen lassen wollten, wussten höchstwahrscheinlich genauso wie Karl der Große, dass die Erde eine Kugel ist, genauso wie Cicero und Augustus oder später Dante, ohne dass dies von Columbus erst noch hätte bewiesen werden müssen.
Gut, es gab immer wieder mal ein paar Vögel, die nicht glauben konnten, dass die Erde nicht platt sei. Zum Beispiel gibt uns Tacitus im 45. Abschnitt seiner "Germania" eine Beschreibung des Nordmeeres, die ihn zu dem Schluss kommen lässt, die Natur reiche tatsächlich nur bis dorthin:
(45,1)
Trans Suionas aliud mare, pigrum ac prope immotum, quo cingi claudique
terrarum orbem hinc fides, quod extremus cadentis iam solis fulgor
in ortus edurat adeo clarus, ut sidera hebetet; sonum insuper emergentis
audiri formasque equorum et radios capitis aspici persuasio adicit.
(45,2) illuc usque
et fama vera tantum natura.
Aber all diesen hochgebildeten Leuten war bekannt, was Cicero in einer Schrift beschrieb, die - im Gegegensatz zum verschollenen Werk des Aristoteles, das erst durch die Araber wieder nach Spanien kam - problemlos bis in unsere Zeit gerettet wurde: eine Beschreibung der Erde, wie man sie in Space Night im Bayrischen Fernsehen betrachten kann. Siehe Abschnitt 21 in Liber VI von Ciceros De re publica.
"Du siehst ferner,
dass dieselbe Erde gewissermaßen von Gürteln
‑ Zonen nennt man sie ‑ umwunden und rings umgeben ist.
Zwei von ihnen sind besonders weit von einander getrennt,
sie lehnen sich auf beiden Seiten an die Pole des Himmels
an und sind ersichtlich von Frost erstarrt, der in
der Mitte aber, der größte, wird von der
Glut der Sonne gänzlich ausgedörrt. Nur zwei
sind bewohnbar: jener südliche dort, dessen Bewohner
eure Antipoden sind, steht mit euch in keinerlei Verbindung,
dieser hier aber, der nördliche, den ihr bewohnt,
sieh nur einmal her, ein wie schmaler Streifen von ihm
wirklich euer ist. Das ganze Land nämlich, das
von euch bewohnt wird, eingeengt nach den Polen zu,
breiter nach den Seiten hin, ist gleichsam nur ein kleines
Eiland, rings umströmt von jenem Meer, das ihr
das Atlantische, das Große oder auch einfach Ozean
nennt, so groß sein Name, so klein sein Träger,
wie du siehst."
Sogar eine Mystikerin mit Visionen wie Hildegard von Bingen wusste Bescheid. Sie machte sogar eine Zeichnung, wohl von Ciceros Beschreibung ausgehend, auf der man die Erde aus der Sicht eines ETs sieht, bzw. wie bei Night Space, bzw. aus der Sicht eines Engels, bzw. aus der Sicht Gottes.
Schön, dass die Legende, Columbus habe nichts von der Riesengroßen Insel Amerika geahnt, angefangen hat zu bröckeln. Verwunderlich bleibt für mich, wie sehr der begnadete Navigator Columbus sich bei seinen Distanzberechnungen geirrt hat. Kannte er Aristarchs exakte Berechnung des Erdumfangs nicht???
Dass Columbus auf die Idee kam, über die Westroute nach Asien zu fahren, ist auch eine Legende. Er hat sie nur wiederaufgegriffen; sie geht angeblich auf Aristoteles zurück und wurde im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder mal in Betracht gezogen. Und Aristoteles Werk war ja gerade in Spanien besonders bekannt, weil die Araber Aristoteles nach Spanien gebracht hatten und er dort von der jüdischen Übersetzerschule ins Latein übersetzt wurde. Vielleicht war sogar Columbus selbst Jude!! Der Detektiv Simon Wiesenthal, der die vielen NS-Verbrecher aufgespürt hat, hat ein interessantes Buch über Columbus geschrieben, in dem er diese These vertritt.
Sails of Hope; The Secret Mission of Christopher Columbus
Plan der Atlantikfahrt
Nicht einmal Luther behauptete, die Erde sei flach, obwohl er die Schrift so gern zum Vorwand nahm. Nach meiner Konfirmation war ich so stur wie Luther und sprach beim Glaubensbekenntnis nie die Worte "niedergefahren zur Hölle" mit, weil mir kein Mensch sagen konnte, wo das geschrieben stand und sich alle Pastoren zu gut dazu waren, zuzugeben, dass es sich hier um einen Rest "katholischer" Überlieferung handele, auf den auch Luther nicht verzichten wollte. Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie ich jubelte, als ich die Göttliche Kommödie las und Dante plötzlich Vergil fragt, ob Jesus tatsächlich "zur Hölle niedergefahren" sei!
Ich frage mich, ob beim Theologiestudium eine Liste dessen gelehrt wird, was Luther von der Tradition übernahm, weil in der Bibel nichts darüber steht, oder obwohl in der Bibel sogar etwas anderes steht. Wenigstens die Katholiken müssten - trotz Ökumene, oder gerade deswegen - sich doch dafür interessieren.
Luther war auch - bzw. vor allem - ein Stück ergriffener mittelalterlicher Frömmigkeit, die sich gegen das moderne Italien des Papstes wandte, wo gerade die heidnische Antike - vor allem am Hof der Familie Medici, und Leo X war ein Sohn von Lorenzo dem Prächtigen! - mit dem christlichen Mittelalter verschmolz und dabei das Hybrid entstand, das wir mit Neuzeit oder Renaissance bezeichnen, und wo der Papst als herausragender Vertreter dieser neuen rationalistischen und unsentimentalen Kulturkonzeption durch machiavellistische Eroberungsfeldzüge und Ablassindustrie herrliche Bauwerke finanzierte, die wir noch heute bewundern. Ich habe persönlich sogar noch Nachfahren des Sekretärs von Leo X kennengelernt in Florenz. Denn Italien ist eine Feudaldemokratie und unter den G8 Ländern das einzige mit einem Familienkapitalismus.
In Dürer und Riemenschneider sieht man sehr schön das fromme Mittelalterliche, dass mit dem Auge der Renaissance beleuchtet wird.
Aber es hat alles seine zwei Seiten. Außer dem Barock der Gegenreformation haben wir in Deutschland nicht viel, was sich sehen lassen kann, so schön die Wartburg auch sein mag. Grammatik und Wüstenweisheit ist die Stärke der Deutschen; und Werkmaschinen (und einst mal Musik): Mechanik und Innerlichkeit. Inzwischen ist vielleicht ein bisschen Slow Food dazugekommen.
Erasmus saß damals zwischen den Stühlen, weil er meinte durch Mäßigung wäre eine innerkirchliche Reform durch Einigung möglich gewesen und wurde durch seinen Versuch, super partes zu bleiben, am Ende von beiden Seiten gehässig angegriffen und des Verrats bezichtigt.
Auch Galileis Fall war keinesfalls so eindeutig wie er heute meist kolportiert wird.
Religion und Heliozentrismus
Galileo und die Kirche
Tyho Brahe hatte kurz zuvor ein pfiffiges Kompromissmodell vorgeschlagen! Die Erde im Mittelpunkt, aber alle anderen Planeten als um die Sonne kreisend...
Ganz so neu, wie es durch Einsteins Entdeckungen scheint, war die Relativierung von Standpunkt und Blickwinkel nämlich nicht! Tyho Brahes Idee war genial, finde ich.
Hätte Galilei sie ebenfalls vertreten und sein eigenes Modell als zusätzliche Hypothese angeboten, hätte die Kirche bestimmt angebissen!! Und dann hätte Kardinal Robert Bellarmin die undankbare Aufgabe gehabt, ständig die Eleganz von Galileis einfachen, schlüssigen Berechnungen preisen zu müssen (und als Einwand hätte man ihm Bequemlichkeit vorwerfen können). So muss man es machen! Wie eine Schlupfwespe, die ihre Eier in Raupen hineinlegt, die dann von Innen gefressen werden.
Kunstwerk der Kon-Fusion
Ich habe erst sehr spät die katholische Fähigkeit "konvergierende Parallelen" zu denken begriffen, wobei das Faktische mit der Ebene des Mythischen in einem Raum gezielter kognitiver Schizophrenie, in Entsprechung gesetzt wird, Doppelbödigkeit sich nicht statisch als Bigotterie äußert, sondern dynamisch als vorsichtiger Toleranzspielraum menschlicher Zwiespältigkeit wirksam wird und die Ebene des Mythos und des Mystischen zum auffangenden Sicherheitsnetz werden kann. Wer diesen Sachverhalt nicht begreift, wird Italien niemals begreifen und immer vergebens darauf warten, dass in diesem Land Wort und Fakt zur Deckung kommen.
In Südamerika ist eine enorme Zunahme des Protestantismus zu beobachten, die mich überrascht. In den südlichen Ländern Europas wird der Protestantismus nach wie vor gemeinhin als hart und ungnädig empfunden, weil man nicht begreift, dass in den protestantischen Gebieten Nordeuropas die verzeihenden, mütterlichen Funktionen der Madonna Gott selbst, dem annehmenden, verzeihenden, zärtlich fürsorglichen, väterlichen Luthergott zugeschrieben werden und die Menschen, die an diesen alleinerziehenden, allesersetzenden Vatergott glauben, ihr Dasein nicht als Halbwaisendasein empfinden .
Zu dem, was in Wikipedia zu finden ist, möchte ich hinzufügen, was ich in den 80-er Jahren einmal in der Zeitschrift "Espresso" gelesen habe. Leider weiß ich nicht mehr den Namen des schlauen französichen Historikers, der in seinem Artikel eine spekulative "italienische" Deutung der Sachlage vorschlug: Galilei sei eigentlich sogar mit dem Papst befreundet gewesen, was eine Verurteilung ziemlich unwahrscheinlich machte. Er habe aber - aus Übermut auf Grund dieser Freundschaft - großspurig die Transsubstantiationslehre verleugnet, was damals sehr viel ungeheuerlicher gewesen sei als sein Beharren auf dem Heliozentrismus, weil es eine konsensgefährdende Bedrohung über eine Kernaussage des Glaubens darstellte, deren Infragestellung eine enorme Schwächung bedeutet hätte und daher nicht gebilligt werden durfte. Giordano Bruno war ein paar Jahrzehnte zuvor unter anderem deshalb auf dem Scheiterhaufen geendet, weil er diese Lehre auch nicht anerkennen wollte. Die Anfechtung der Transsubstantiationslehre von Seiten eines Freundes des Papstes war so ungeheuerlich, dass man sie nicht an die große Glocke hängen wollte, andererseits jedoch ein Zeichen setzen musste, um innerkirchlich vor der Inquisition nicht als Galileis Kaschperle dazustehen. Papst Urban VIII sah Galileis Entdeckungen als irrelevant an und glaubte, dass die vielfältigen Erscheinungen der Natur sich dem beschränkten menschlichen Verstand ohnehin entzogen. Da gab es keinen Grund, menschliche Anmaßung zu ermutigen, bloß weil ein kluger Kopf mit einem Fernrohr ein paar Detailles geklärt hatte. Aber das Urteil der Inquisition unterzeichnete er nie, und außer Hausarrest musste Galilei nichts erleiden!
Bei aller Freundschaft, sei Galileis Hartnäckigkeit des Guten zuviel gewesen, man habe ihn deshalb für irgendetwas verurteilen müssen, um im damaligen Mächteverhältnis glaubwürdig zu bleiben, Galilei in die Schranken zu weisen, seine Haltung zur Transsubstantiation nicht an die große Glocke hängen zu müssen, um Legitimitätskrisen vermeiden zu können usw. Und die harmlose Planetenstory eignete sich dazu, von der anderen abzulenken. Mit anderen Worten: so ähnlich wie Kesselring von den Alliierten, denen "Smiling Albert" sympathisch war, verurteilt wurde, und dann doch freigelassen wurde, wurde auch mit Galileo verfahren.
Ich liebe solche Spekulationen eigentlich nicht besonders, vor allem wenn sie sich um einen Einzelfall ranken. Sie werden aber interessant, wenn man Parallelen in anderen Kontexten mit ihnen vergleicht, weil sie uns dann etwas allgemein Gültiges über menschliche Orienntierungsversuche und das skeptische, behutsame Bewahren bisher gültiger Überzeugungen lehren können. Zum Beispiel Semmelweis! Semmelweis erging es viel schlimmer als Galilei, obwohl seine Geschichte sich im 19. Jahrhundert ereignete und im Umfeld wissenschaftlicher Gutachten. Auch Semmelweis hatte recht, wie ein Kutscher, der mit der Peitsche knallt. Er war ein jüdischer Arzt, dem ausgerechnet Fernand Celine ein Denkmal gesetzt hat durch die medizinische Doktorarbeit, die er über ihn schrieb. Die Autorität, an der Semmelweis scheiterte, war nicht die katholische Kirche, sondern es waren die medizinischen Koryphäen seiner Zeit! Auch der große Virchow war darunter. Semmelweis wären die Unannehmlichkeiten, die er erleiden musste, vielleicht erspart geblieben, wäre er nicht so unbeherrscht gewesen, ist Celines Fazit. Und Thomas Schirrmachers Urteil über Galilei lautet ähnlich, obwohl Schirrmacher Protestant ist.
Übrigens ist Celines Buch über Semmelweis eins der schönsten, die ich kenne.
Mein Religionslehrer sagte einmal, im Gegensatz zu Galilei hatte Jesus nicht die Möglichkeit zu widerrufen. Ich widersprach ihm damals, weil ich dachte, die Wahrheit komme am Ende immer von alleine ans Licht, und das Allgemeinmenschliche komme immer auf jeden Fall zum Vorschein und setze sich früher oder später als Wahrheit durch.
Aber auch die Lüge kommt eben immer wieder von alleine raus, und es gibt kein Allgemeinmenschliches, das gegen Lügen immun ist und sich als Absolutum durchsetzt wie ein schwerer Hintern auf einem brüchigen Sessel. Mein Lehrer hatte damals recht. Nur dadurch, dass er nicht widerrief, wurde Christus zu Christus, und seine Worte entfalteten domestizierende Wirkung durch die Inokulation einer fixen Idee.
Schönborn zur Rede von Benedikt XVI
"In Südamerika ist eine enorme Zunahme des Protestantismus zu beobachten, die mich überrascht."
AntwortenLöschenEs handelt sich ja auch nicht um den Protestantismus, den wir kennen, sondern um Fundamentalismus in den schillernsten Farben.
Danke für die Berichtigung, ich habe keine Ahnung davon, ehrlich gesagt und keine Lust der Sache nachzugehen. Mein Interesse für Gebiete außerhalb Europas hält sich seit ein paar Jahren sehr in Grenzen. Ich las nur vor ein paar Jahren einen Artikel Peter L. Bergers der darauf anspielte...
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