Samstag, 15. Juni 2013
Mendelssohn
Die Größe von Mendelssohn wird weltweit immer noch sehr unterschätzt. Ausnahmsweise einmal vielleicht sogar ganz besonders in Deutschland. Es liegt unter anderem daran, dass er von den Interpreten falsch aufgeführt wird. Und er wird wiederum falsch aufgeführt, weil er verkannt wird. Er war in der Zeit der Romantik immer noch ein rigoroser Klassiker, der - im Gegensatz zum nur 4 Jahre jüngeren Autodidakten Wagner - schon von klein auf eine hervorragende Ausbildung bekam und ab dem 11. Lebensjahr bereits so viel und gut komponierte, dass Goethes Freund Zelter ihn mit 12 nach Weimar mitnahm, und in ihm vereinigte sich das Beste am deutschen Pietismus mit dem Besten am jüdischen Idealismus. Er ist von allen Musikexistenzen des 19. Jahrhunderts der ausgereifteste und erwachsenste und der einzige, den alle beneideten. Weil er reich war, weil er hochgebildet und hochbegabt war, weil er sich so vorbildlich verhielt und alles tat, um sein Wissen weiterzugeben, weil er gute Manieren hatte, immer vorbildlich das unwägbare kulturelle Gleichgewicht anstrebte und nicht nur musikalisch begabt war. Weil er die vielleicht schönste Frau Deutschlands oder gar Europas geheiratet hatte. So jemand, der eigentlich zu vollkommen für diese Welt ist, wird irgendwann gekreuzigt. Er war unermüdlich mit dem musikalischen Gemeinwohl und der Förderung, Verbesserung und Bekanntmachung der bereits vorhandenen Musikkultur beschäftigt; sein eigenes Werk fand dadurch en passent Verbreitung, stand aber nie - ganz anders als bei Wagner - im Mittelpunkt seiner Tätigkeit. Man könnte nicht zurückhaltender Wirkung entfalten. Ich vermute, dass seine Größe nicht nur verkannt wird, sondern dass Mendelssohn sogar als die eigentliche Säule unseres musikalischen 19. Jahrhunderts angesehen werden muss.
Mozart wurde noch mit Fußtritten weggejagt. Beethoven war bereits ein Angehöriger des nach der Französischen Revolution sehr viel angeseheneren Bürgertums. Als Mendelssohn starb, war das Judentum noch nicht emanzipiert. Dennoch war er im Vergleich zu Beethoven, was seine soziale Position und seinen kulturgeschichtlichen Rang anging, geradezu ein Gigant des Großbürgertums, quasi ein Benjamin D'Israeli der Musik. Sein Blick auf das Geschehen in Deutschland ist souverän distanziert. Er entspricht D'Israelis Motto, das Christentum sei ein Judentum für die gentilen Völker. Am jüdischen Wesen möge also die Welt genesen. Er hat außer Deutschland noch ein Vaterland, das ihm mehr bedeutet: das geistige, geistliche, das auch für Erasmus das eigentliche Vaterland war. Mendelssohn fehlt daher ganz der tragische oder gequälte Zug all der anderen deutschen Komponisten, die sich nach Napoleons Zeit danach sehnten, dass Deutschland zu einer geeinten Nation werden möge. Er hat als Jude die Möglichkeit, über diesem Geschehen zu stehen und im Mittelpunkt des Rades zu ruhen. Die Anerkennung, die er bei Kollegen international als Musiker genoss, war derartig überragend, dass Friedrich Wilhelm IV. gar nicht anders konnte, als ihn zum Kapellmeister zu machen.
Mendelssohn sorgte dafür, dass Musiker endlich eine gute Ausbildung bekamen. Bildung hat bei den Juden seit Jahrhunderten einen hohen Stellenwert. Anfang des 19. Jahrhunderts konnten selbst unter den armen Juden schon 80% lesen und schreiben. Mendelssohn gründete das erste Konservatorium auf deutschem Boden. In Leipzig! Dort, wo man ihm ein Denkmal setzte, das die von plumpem Dünkel getriebenen Nazis entfernten und die ebenso plumpen DDR-Führer nicht wiederaufstellten.
Zu Lebzeiten war Mendelssohn unantastbar. Erst als Wagner nach seinem Tod (zunächst unter Pseudonym) begann, sein Andenken zu schmähen und der Nationalismus zum Motor der deutschen Einheit wurde, geriet Mendelssohn in Verruf. Man machte einen zweitklassigen, pedantischen Salonmusiker aus dem, der die eigentliche Säule des 19. jahrhunderts war). Die Langweiligkeit und Albernheit, die auch heute noch viele Darbietungen seiner Werke kennzeichnet, zeigt, dass wir uns noch nicht von den Jahrzehnte andauernden Herabsetzungen seiner Musik erholt haben. Viele Interpretationen seiner Werke haben heutzutage in Deutschland (aber auch andernorts... unsere Befangenheit ist ansteckend) etwas gequält Prüdes und Dröges, so als müsse man Mitleid mit ihm haben. Da aber inzwischen sogar die deutschen Volkslieder wieder auf geschmackvolle und lebendige Weise dargeboten werden, kann auch gehofft werden, dass Mendelssohn ebenfalls bald wieder angemessen interpretiert wird. Ein paar ermutigende Beispiele gibt es ja jetzt schon. Ich kann mich gut erinnern, wie schlecht Bach noch in den 70-ern interpretiert wurde. Karl Richters depressive Darbietungen waren dabei noch das höchste der Gefühle. Aber dank Gustav Leonhardt, Frans Brüggen und Glen Gould und anderen, die in ihr Fahrwasser einschwenkten, wird heute die gesamte Barockmusik unendlich besser gespielt. Selbst die Aufführung von Zelenkas Werk ist inzwischen exzellent (zumindest wenn das Collegium 1704 auf der Bühne sitzt).
Mein Vater liebte Mendelssohn sehr und hasste von Herzen Carl Orff. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass er glaubte, Orff sei ein typischer Jude und Mendelssohn der Inbegriff deutscher Innigkeit und Harmonie. Diese Umkehrung der Wirklichkeit könnte komisch sein, wenn sie in meinem Leben nicht so tragisch gewesen wäre. Wahrscheinlich hielt er Orff deshalb für einen Juden, weil die ihm seelenverwandte, "innige", geradezu anthropologisch-nationalsozialistische Elly Ney Orff ebenfalls hasste wie die Pest. Es sind sehr niedrige, sehr persönliche Idiosynkrasien, die hier zum Ausdruck kommen. Mein Vater hielt es sein ganzes Leben lang nie für nötig, diese Dinge zu reflektieren und ein Minimum von Ordnung und Würde in diese Empfindungswelt zu bringen. Die unerschütterliche Selbstgefälligkeit und unerschütterliche Selbstgerechtigkeit dieser Generation sind bestürzend. Noch bestürzender ist, dass selbst mein Bruder (geboren 4 Monate, bevor Gleiwitz überfallen wurde) noch diese Unerschütterlichkeit ungebrochen teilt und sich eine Menge darauf zu Gute hält. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn die eigenen nächsten Verwandten so tun, als sei die Niedertracht eine Not, aus der eine Tugend gemacht werden kann und muss.
Aber es gibt auch das andere Extrem: die Jünger der grauen Muse, die seit 1945 hinter Stipendien und Preisen hinterherrennen, die eine ganze Förderbürokratie erschaffen haben und wie hypnotisiert auf Schönberg und Hitler starren. Es hat immer noch kathastrophale Folgen, da gerade die talentiertesten Talente wie verrückte Chirurgen Metastasen ausbreiten, denn sie sind vom Zyklon B getriebene Stattmusikanten. Ausgerechnet eine Musikkultur, die sich selbst gerne als Errungenschaft der Rationalität ansieht, ist Ausdruck eines Entsetzens, das nicht irrationaler (und tumber) sein könnte. Die Herren dieser Musikerkaste, die an Schubert so gerne rumnörgeln, es fehle ihm die stringente Form und Struktur, sollten sich mehr mit Mendelssohn befassen. Sie könnten viel dabei lernen.
Die Familie Mendelssohn
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