Stationen

Mittwoch, 3. August 2022

Inklusive Regenbogenfahnen

Der Dramatiker Johann Nestroy nahm 1848 in seinem Stück „Freiheit in Krähwinkel“ eine woke Republik vorweg. 1848 wurde es im Carl-Theater in Wien uraufgeführt. Es hat zwei Teile. Der Erste Teil endet mit dem Auftritt eines Journalisten, der sich als „Abgeordneter der europäischen Freiheits- und Gleichheitskommission“ ausgibt. Und so endete 1848 in Nestroys Stück die Revolution:

„Fünfzehnter Auftritt [...]

KLAUS [der Ratsdiener, ein reaktionärer Bürokrat] atemlos herbeistürzend: Euer Herrlichkeit [angesprochen ist damit der Bürgermeister von Krähwinkel] – ! Ein Ereignis – ! Ein neues Blatt Weltgeschichte! Es ist einer angekommen!

ALLE: Wer?

KLAUS: Ein Abgeordneter der europäischen Freiheits- und Gleichheitskommission!

BÜRGERMEISTER: Trägt er die dreifarbige Farbe?

KLAUS: Nein, die siebenfarbige wie der Regenbogen –

SPERLINBG [ein Adliger namens Sperling Edler von Spatz]: Das scheint die kosmopolitische Farbe zu sein.

KLAUS: Er und sein Schimmel sind alle zwei voll siebenfarbigen Fahnen, Fahndln und Bändern. Alles jubelt, trompet't und schreit Vivat!“

(Nestroy 1848, S. 322)

 

Dann tritt der „Abgeordnete der europäischen Freiheits- und Gleichheitskommission“ höchstpersönlich auf und verkündet die neuen Werte (von Nestroy in satirischer Absicht etwas verzerrt):

„Sechzehnter Auftritt [...]

ULTRA [der als Abgesandter verkleidete Journalist, Mitarbeiter der Krähwinkler Zeitung, heißt Eberhard Ultra]: Ich verkünde für Krähwinkel Rede-, Preß- und sonstige Freiheit; Gleichgültigkeit aller Stände; offene Mündlichkeit; freie Wahlen nach vorhergegangener Stimmung; eine unendlich breite Basis, welche sich erst nach und nach auch in die Länge ziehen wird, und zur Vermeidung aller diesfälligen Streitigkeiten gar kein System. 

BÜRGERMEISTER: Ah – ! Fällt in Ohnmacht, Sperling und der Ratsherr fangen ihn auf.

VOLK: Vivat! Vivat! [...]

Der Vorhang fällt." (S. 332 f.)

Nestroys satirische Verdrehung dessen, was man heute „unsere Werte“ nennt, ist wiederum hochaktuell: statt der Gleichheit aller Stände propagiert Eberhard Ultra eine doppeldeutige „Gleichgültigkeit aller Stände“. Und bei den freien Wahlen geht es „nach vorhergegangener Stimmung“, also um Gefühle, nicht um Sachfragen. Auch sah Nestroy schon die heute praktizierte postmodern-woke Leugnung aller Qualität und Qualifikationen voraus: Zwecks Vermeidung von Streitigkeiten soll es gar kein System geben.  Gefunden bei Dieter Prokop

 

SPD in Kiew (Kyiv)


 

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