Stationen

Freitag, 11. Februar 2011

Zwickmühle im Sonnenlicht und Noam Chomsky

Folgendes Gedicht war in meiner Jugend (gerade eben schrieb ich aus Versehen "in meiner Juden", statt "in meiner Jugend" - ein wahrer Lapsus lazuli), ab dem Alter von 15 Jahren, eins meiner Lieblingsgedichte.



Im Sonnenlicht

Die Sonne, wie sie mir zufällt,
kupfern und golden,
dem blinzelnden Schläfer, -
ich habe sie nicht verlangt.

Ich will sie nicht, wie sie die Haut mir bräunt
und mir Gutes tut,
ich fürchte das Glück, -
ich habe es nicht verlangt.

Die ihr sie hinnehmt, kupfern und golden,
daß sie das Weizenkorn härtet,
daß sie die Traube kocht, -
wer seid ihr, daß ihr nicht bangt?

Was üppig sie gab,
was wir genommen ohne Besinnen,
das unverlangte Geschenk, -
eines bestürzenden Tages
wird es zurückverlangt.

Was zu verschwenden erlaubt war,
die kupferne Scheidemünze,
die Haufen Goldes,
die vertanen Reichtümer, genau
wird es zurück verlangt.

Aber wir werden leere Taschen haben
und der Gläubiger ist unbarmherzig.
Womit werden wir zahlen?
Oh Brüder, daß ihr nicht bangt!









Heute bin ich erstaunt, mit welcher Treffsicherheit unsere Gestaltwahrnehmung etwas Wesentliches spüren kann, ohne es völlig zu verstehen (diese Tatsache bestärkt mich nebenbei bemerkt in der Ansicht, dass Vox Popoli tatsächlich Vox Dei sein darf, bzw. die Demokratie besser ist, als sie manchmal zu sein scheint). Mit derselben Treffsicherheit hatte ich als 13-jähriger gespürt, dass Bergmans Film "Smultronstället" von etwas handelte, das etwas Wesentliches in meiner Umgebung thematisierte. Und noch viel früher, als ich nur 6 Jahre alt war, und eigentlich noch gar keinen Grund hatte, mich über meine Geschwister zu beklagen, empfand ich im Religionsunterricht von allen Geschichten, die uns der Pfarrer erzählte - mit Ausnahme der Jesusgeschichten - , die Josefsgeschichte am schönsten.


Ich wusste damals, als ich meine Vorliebe für "Im Sonnenlicht" entdeckte, noch nichts von Mengele, und ich wusste vor allem nicht, was eine Scheidemünze ist, und alle, die ich nach der Bedeutung fragte, konnten mir keine Auskunft geben. Es wurmte mich, dass es in einem meiner Lieblingsgedichte einen unverständlichen Fleck gab, und es machte mich wütend, dass mein damaliger bester Freund so tat, als gelinge es ihm, aus dieser unverständlichen Stelle eine mysteriös ins All geraunte Bedeutung herauszudistillieren, die nur begabten Sehern und Runenlesern wie ihm zugänglich war und gewöhnlichen Sterblichen unzugänglich bleiben musste, weil sie nur außerhalb ihres Wahrnehmungsbereichs gefunden werden konnte. Ich hielt ihn damals für zu ehrlich, um ein Verständnis vorzutäuschen, das nicht vorhanden war, und ich bewunderte seine Intelligenz, die er in anderen Situationen oft bewiesen hatte. Dass er sich beim Lesen von Gedichten die Sache immer zu einfach machte, und ihn die Einfalt sogar zu begünstigen schien, weil sie im Einklang mit dem Zeitgeist stand, war andererseits ein Eindruck, den ich oft gewann, aber ich hätte damals nicht zu sagen vermocht, inwiefern dies so war. Auch dass er sich maßlos überschätzte, war mir klar, denn ich sah - weil ich mit sehr alten Eltern aufwuchs und meine Geschwister schon lange erwachsen waren, weshalb ich selbst damals für mein Alter immer etwas zu alt war - mindestens ebenso oft einen Haken, den er völlig übersah, und ich wusste, wie vergeblich es gewesen wäre, ihn darauf aufmerksam zu machen; sodass ich oft dachte, "du wirst dich noch wundern eines Tages und dazu kommen umzudenken". Aber ich hielt ihn damals für zu ehrlich, um der Welt nur aus Eitelkeit ein X für ein U vorzumachen. Dass ich mich in beidem irrte, sowohl, was seine Eitelkeit angeht, wie seine Fähigkeit zu Einsicht, ist eine der großen Enttäuschungen in meinem Leben.

Aber ich wusste, dass er es mit der Wahrheit nicht genau nahm, wenn es um die Moral ging. Wie vielen Moralisten, wurde auch ihm die Tatsache, dass Liebe wichtiger ist als Wahrheit, zum Verhängnis. Um zu flunkern, fehlte ihm die Elastizität italienischer Katholiken. Die deutsche Variante katholischer Doppelbödigkeit ist von der lutherischen Härte geprägt und bringt keine Figuren hervor, die wie Jörg Haider oder Silvio Berlusconi unbefangen lügen. In Deutschland umschifft man die Untiefen. Bei den Lutheranern ist die Heuchelei in höherem Maße geächtet als bei den Katholiken und geht daher noch verschlungenere Wege, wenn sie den Mut findet, einen Auftritt zu wagen. Man müsste mal einen freimütigen, scharfsinnigen deutschen Katholiken bitten, sich über die typischen Mängel und Schwächen der lutherischen Mentalität zu äußern, um mehr darüber zu erfahren. Man sieht die Gruppe, zu der man gehört in dieser Hinsicht meistens nicht so deutlich wie die der Anderen. Sich selbst kennt man eigentlich viel zu gut, um Zeit damit verschwenden zu müssen, "zu sich selbst zu finden". Aber die Identifikationsgruppen, die einem in die Wiege gelegt werden, mit Abstand sehen zu können, ist eine Kunst, die nicht jedermanns Sache ist.

Sein verstockter, stockkatholischer Moralismus trieb ihn ständig dazu, der Ideologie den Vorzug gegenüber der Wahrheit zu geben und jede Frage, auf die keine "linke" Antwort gegeben werden konnte, wurde - wenn auch unausgesprochen - sozusagen zu einer "rechten" (sprich "faschistischen") Frage abqualifiziert. Auf diese Weise entwertet, landete sie nicht einmal im Kröpfchen, sondern wurde in den Spucknapf entsorgt und der gesamte, damit verbundene Themenkomplex aus dem Bewusstsein ausgeblendet. Er ging tatsächlich allen unangenehmen Fragen aus dem Weg, wie der Teufel dem Weihwasser. Mein 18 Jahre älterer Bruder machte haargenau dasselbe, bloß umgekehrt: bei ihm wurden alle Fragen, auf die womöglich keine konservative, biologistische Antwort möglich war, als "links" (sprich "im Endeffekt sozialistisch oder kommunistisch") abqualifiziert und abgewürgt. Und auch seine Einäugigkeit kam beim Lesen oder Zitieren von Gedichten zum Ausdruck. Auch er übersah, genau wie mein Schulfreund, Bedeutungsnuancen, die dazugehörten, sodass sich bei ihm ein Goethezitat immer anhört, als sei es von Wilhelm Busch. Und ich befürchte, selbst wenn mein Bruder - was sehr unwahrscheinlich ist - einmal Paul Celan zitieren sollte, würde es sich noch anhören wie Wilhelm Busch.

Zwei Seiten derselben sturen Borniertheit. Jeder von beiden sah immer - und tatsächlich immer - nur die halbe Wahrheit. Ich kam mir vor, als spazierte ich auf der chinesischen Mauer und sähe zur Rechten wie zur Linken, je einen halben Edlen niedersinken.



Diese beiden Menschen waren es, die ich, ihrer Sensibilität wegen, während meiner Jugend am meisten schätzte.

Beide waren auf einem Auge blind, aber beider Wahrnehmung hatte ein ziemlich hohes Auflösungsvermögen. Beide waren in der Lage mit schlafwandlerischer Sicherheit Dinge, die gewöhnliche Sterbliche schlicht übersahen, als Dinge zu erkennen, die sie in ihrer radikalen Ansicht bestärkten. Und da sich unter diesen Dingen neben paranoiden optischen Fehlleistungen immer wieder auch tatsächlich Wesentliches befand, war der Umgang mit beiden zwar einerseits nervenaufreibend, weil man ihre unbefangen vorgetragenen Behauptungen besser überprüfte, aber andererseits eben auch sehr stimulierend. Beide hatten einen sehr hohen moralischen Anspruch auf ihre Fahne geschrieben, und beide legten sehr strenge Maßstäbe an. Aber beide waren leider gleichermaßen intollerant und feindselig gegenüber Andersdenkenden und somit letztlich gleichermaßen unglaubwürdig. Leider waren auch beide, was bei dem bisher über sie gesagten niemanden überraschen wird, gegenüber Kritik völlig unzugänglich und reagierten tief gekränkt und empört, wenn man versuchte für diejenigen Partei zu ergreifen, die sie zu schmähen pflegten. Und es wurden in diesem Fall sofort gehässige, moralisierende Schlussfolgerungen ins Feld geführt, die im Fall des Schulfreundes dem Muster folgten, das Leo Strauss als "Reductio ad Hitlerum" bezeichnete. Mein Bruder diente mit dem entsprechenden Pendant der "Reductio ad DDRum" oder zeigte einem schlicht, was ne beleidigte Leberwurst alles für Register ziehen kann, wenn es darum geht, beispielhaft Gejammer in Szene zu setzen. Beide waren Spartaner, die einem kynischen Sonnenanbeter nicht gleichgültig sein konnten und verkörperten auf mustergültige Weise eine Mischung aus echter Bescheidenheit und echter Überheblichkeit, wie sie entsteht, wenn begabte Menschen sich nicht an die guten Ratschläge von Jesus Sirach halten. Immerhin predigten beide Wein und tranken dabei Wasser.

Der katholische Schulfreund versuchte durch sein eigenes Betragen der Welt vorzuleben und zu beweisen, dass wahre Kommunisten eigentlich doch die besseren Menschen waren und schottete sich gegen Kritik dadurch ab, dass er jedesmal, wenn das Gespräch eine Kernfrage berührte, das betreffende Thema als "ein typisches Thema, das nur dazu führen kann, dass man aneinander vorbeiredet" bezeichnete. Die Fantasie, die er entwickelte, um sich an Auseinandersetzungen vorbeizumogeln, bei deren Verlauf gewisse Widersprüche und entscheidende Punkte hätten herausgesiebt werden und ans Licht kommen können, war und ist immer noch beeindruckend. Schrecklich. Er brachte es tatsächlich fertig, den Themen die Schuld dafür zu geben, dass er nicht zu echter Auseinandersetzung fähig war. Haargenau so wie der Mann, der seine Frau verhaut, die Schuld dafür dem Alkohol gibt. Und heute versteckt er sich hinter Noam Chomsky und fügt hinzu, mit Chomsky sei er sich so einig, dass er ihn nicht einmal lese.

Der 18 Jahre ältere Bruder versuchte durch sein Betragen der Welt vorzuleben und dadurch zu beweisen, dass es einen Nationalsozialismus mit menschlichem Antlitz geben kann und diese Nationalsozialisten die besseren Menschen seien. Auch er schottete sich gegen Kritik durch eingebaute Immunisierungsmechanismen ab. Zum Einen achtete er sorgfältig darauf, nur durch Unterlassungssünden schuldig zu werden und nie gegen die 10 Gebote zu verstoßen. "Nulla culpa sine lege" könnte der kaltschnäuzige Wappenspruch sein, der ihn zu einer Art, manchmal geradezu sadistischen, Aikidos beflügelte. Zum Anderen setzte er jede der Vergangenheit gewidmete Betrachtung als müßige, rückwärtsgewandte Zeitverschwendung herab (sowohl, was die Geschichte Deutschlands anging, als auch die eigene persönliche Geschichte und die Geschichte unserer Familie) oder gar als kleinkarierten, nachtragenden Groll; und jeder Versuch einer rationalen Erörterung wurde zu einer zwanghaft dem Analysieren unterworfenen Manie abqualifiziert.

Ich kann sehr wohl verstehen, dass es für ihn, der bei Kriegsende gerade eben 5 Jahre und eine Woche alt war, als einem Flüchtlingskind wichtig war, nicht zurückzuschauen, nicht an das zu denken, was er in der Vergangenheit erlebt hatte und nur nach vorne zu schauen. Aber weshalb muss ich einen solchen Zusammenhang mühselig von alleine erschließen??? Und weshalb ist es ihm nicht möglich zu verstehen, dass es für mich als ins Wirtschaftswunder hineingeborenen Nachzügler unerlässlich sein muss, zurück zu blicken und das zu verstehen, was ich nicht miterleben konnte, während es meine Eltern und Geschwister in der Nachkriegszeit und zuvor erlebten???

Das Drollige ist, dass auch er sich heute - nachdem Bin Laden wieder salonfähig gemacht hat, was durch Gudrun Ensslin zum Schweinestall geworden war - für Ansichten stark macht, die ebenfalls Noam Chomsky vertritt. Man sieht mit einem Mal, zur Rechten wie zur Linken, zwei halbe Edle sich zum Ritter fügen, die beide gleichfalls stinken und zur Hälfte beide lügen. Ariost und Cervantes hätten ihre Freude an ihnen.

http://de.wikipedia.org/wiki/Immunisierungsmechanismus


Zu dieser Situation, die mich lange quälte, fallen mir zwei Buchtitel von Italo Calvino ein: "Der halbierte Visconte" und "Der Ritter, den es nicht gab." Denn wie zwei halbe Menschen kamen und kommen mir auch heute noch diese beiden Menschen, die ich einmal sehr liebte, vor. Wie zwei Hälften, denen beiden etwas Wesentliches fehlt, das der andere im Übermaß besitzt. Beide sperrten und sperren sich gegen die Aufforderung "Consideretur et altera pars", beide sehnen sich nach Beachtung und beanspruchen sie, und beide empfinden vor Allem sich selbst als die "altera pars" und möchten, dass man ihre "alteritas" in Betracht zieht.

Und ich kam mir seit meinem 13. Lebensjahr in ihrer Umgebung immer vor, wie ein Ritter, der nicht existiert.






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