Stationen

Dienstag, 1. Februar 2011

Heimkehr

"Sie eilte wieder vor mir her, um hülfreich bei der Hand zu sein, wenn es noth that, und ich folgte mit zitternden Knieen. Die Nachbarin erklomm rasch und leicht die Treppen; auf den verschiedenen Stockwerken standen feierlich Leute unter ihren Thüren, leise sprechend, wie in einem Sterbehause. Auch vor unserer Wohnung standen solche, die ich nicht kannte; meine Führerin im alten Vaterhause eilte auch an diesen vorüber und ich folgte ihr bis auf den Dachboden, wo ich unsern Hausrath dicht aufeinander stehen sah und die Mutter in einem Kämmerchen wohnte. Leise öffnete die Nachbarin dessen Thüre; da lag die Arme auf dem Sterbebett, die Arme über die Decke hingestreckt, das todesbleiche Gesicht weder rechts noch links wendend und langsam athmend. In den ausgeprägten Zügen schien ein tiefer Kummer auszuleben und der Ruhe der Ergebung oder der Ohnmacht Platz zu machen. Vor dem Bette saß der Diacon der Kirchgemeinde und las ein Sterbegebet. Ich war geräuschlos eingetreten und hielt mich still, bis er geendet. Die Nachbarin trat, als er das Buch sachte zuschlug, zu ihm und flüsterte ihm zu, der Sohn sei angekommen." Gottfried Keller - Der grüne Heinrich


"Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind.

Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht an die Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will." Franz Kafka - Heimkehr

Diese beiden Texte wurden mir 1974 in der Schule zur Interpretation vorgesetzt. Die Lehrerin bezeichnete Keller als illusorisch und Kafka als realistisch. Ich empfand Keller als realistisch und Kafka als Alptraum. Als den von Defätismus durchdrungenen Alptraum eines Gemütskranken, dessen höchstpersönliches Leiden von der Lehrkraft nicht als persönliches Schicksal gedeutet wurde oder als Kraftakt bei der paranoide Vorbehalte zu einem Teufelskreis werden und auch nicht als Auswuchs der jüdischen Existenzbedingung eines spezifischen Ortes oder als Sinnbild in einem planetarischer Prozess der Entwurzelung, Rastlosigkeit, Enthausung und Heimlosigkeit, wie er später von Naipaul beschrieben wurde, sondern schlicht und einfach als die wahre innere Erfahrung eines Heimkehrenden, wie sie jenseits beschönigender und verklärender Darstellungen, wie sie in der Vergangenheit üblich gewesen seien, sich tatsächlich darstelle und für jeden Heimkehrenden nicht nur erfahrbar sei, sondern sich zwingend ergebe.

Durch diesen Anspruch der Allgemeingültigkeit - die man zum Teil auch Kafka anlasten muss, denn die Selbstverständlichkeit seiner Bilder hat etwas Fahrlässiges - wurde Kafkas Parabel für mich zum Sinnbild der zerrüttenden Verlogenheit und der verantwortungslosen  Lästerung. Kafka ist ein Genie der Lästerung, dessen Lästerung liturgisch verherrlicht wird. Nichts ist ihm fremder als der Gestus der Angemessenheit, durch den Johannes Bobrowski zu einem so ehrwürdigen Dichter wird. Seit damals verteidige ich Keller und bekämpfe ich Kafka. Oder zumindest bekämpfe ich die Lesart, die aus dem übersensiblen Rattenfänger einen Realisten mit gesundem Menschenverstand machen will und aus Keller einen weltfremden Träumer, der nicht alle 5 Buchstaben beisammen hat. Das wahre Buch der Heimkehr - auch aus der Entfremdung - bleibt die Odyssee.

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